In Afghanistan läßt das langersehnte Ende des Krieges weiter auf sich warten. Nach der kurzem Unterbrechung der Kämpfe, welche die Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban am 29. Februar in Doha ermöglichte, ist die Gewalt am Hindukusch wieder aufgeflammt.
Hauptverantwortlicher für diese traurige Entwicklung ist Präsident Ashraf Ghani, der verspätet und nur sehr schleppend die in der katarischen Hauptstadt vereinbarte Freilassung von 5000 Taliban-Gefangenen im Austausch gegen 1000 inhaftierte Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte umzusetzen begann und sich lieber mit seinem Ex-Premierminister Abdullah Abdullah über den Ausgang der Präsidentenwahl im vergangenen September streitet. Beide Politiker reklamieren den Sieg für sich. Die erbitterten Rivalen haben sich jeweils am 9. März in Kabul zum neuen „Staatsoberhaupt“ ausrufen lassen, doch nur zur Amtseinführung Ghanis sind die Vertreter der USA und der anderen NATO-Staaten, die seit rund 20 Jahren mehr schlecht als recht an der „Stabilisierung“ Afghanistans basteln, erschienen.
Die eigene Wieder- oder Abwahl im November vor Augen drängte Präsident Donald Trump auf einen raschen Abzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan. Berichten zufolge läuft die mit den Taliban vereinbarte Reduzierung der amerikanischen Truppenpräsenz auf Hochtouren. Nach wie vor beharren die Taliban auf der Erfüllung ihrer Kernforderung, den kompletten Abzug aller ausländischen Streitkräfte aus Afghanistan, und geben sich in dieser Frage kompromißlos. Um den Deal mit den Taliban doch noch zu retten, erwägt die Trump-Administration, die CIA-Präsenz in Afghanistan künftig auf eine kleinere Abordnung, die in der US-Botschaft in Kabul stationiert wäre, zu reduzieren. Dies berichtete am 18. April die New York Times unter Verweis auf US-Regierungsquellen. Mit diesem Schachzug könnten es die Amerikaner vielleicht schaffen, die Taliban mit dem vordringlichsten Kriegsziel des Pentagons in Afghanistan, nämlich dem Weiterbetrieb ihres mit Blick auf den Iran, Rußland, China und Pakistan strategisch enorm wichtigen Luftwaffenstützpunkts Bagram bei Kabul zu versöhnen.
Für das Wiederaufflammen der Kämpfe in 14 der insgesamt 34 afghanischen Provinzen machen die Kriegsparteien einander gegenseitig verantwortlich. Nach schweren Anschuldigungen aus Washington und Kabul haben am 19. April die Taliban eine Liste von 50 Verstößen allein der US-Streitkräfte gegen das Friedensabkommen von Doha, darunter 33 Drohnenangriffe, veröffentlicht. Am 26. April machten die Taliban ihre Beschwerden an die Adresse von Präsident Ghani publik. Sie erklärten Ghanis Aufruf zur Feuerpause während des islamischen Fastenmonats Ramadan für „nicht glaubwürdig“. Die Regierung in Kabul zeige „keinerlei Interesse“ am Frieden und habe „von Anfang an der Umsetzung der Vereinbarung [von Doha – Anm. d. SB-Red.] Hindernisse in den Weg gelegt“, so die ehemaligen Koran-Schüler. Zudem lasteten die Taliban Ghani und Konsorten an, den Gefangenenaustausch zu verzögern, keine inklusive Delegation für die geplanten Friedensverhandlungen erstellt und den Dauerstreit mit Ex-Außenminister Abdullah und dessen Anhängerschaft nicht beigelegt zu haben.
Am 28. April, genau zwei Wochen, nachdem er extra nach Doha zu Beratungen mit Talibanchef Mullah Abdul Ghani Baradar geflogen war, richtete General Scott Miller, der Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Afghanistan, eine deutliche Warnung an die Aufständischen. Beim Besuch des Hauptquartiers der afghanischen Spezialstreitkräfte sowie demonstrativ an der Seite des geschäftsführenden Verteidigungsministers Assadullah Khalid erklärte Miller, daß die Taliban, sollten sie weiterhin ihre Angriffe auf die afghanische Armee und Polizei durchführen – derzeit liegt deren Anzahl im Schnitt bei 55 pro Tag – „mit einer Antwort“ rechnen könnten.
Bei aller Konzentration westlicher Medienaufmerksamkeit auf die Aktivitäten der Taliban und das Leid, daß sie mit ihren Überfällen und Bombenangriffen unter der Zivilbevölkerung verursachen, darf die Zerstörung, welche die Regierungstruppen und ihre westlichen Verbündeten anrichten, nicht außer Acht gelassen werden. Den jüngsten Angaben der U.N. Assistance Mission for Afghanistan (UNAMA) zufolge starben in den ersten drei Monaten 2020 infolge militärischer Gewalt 533 Zivilisten, während 760 verletzt wurden. Im Vergleich zum ersten Quartal 2019 war das ein Anstieg der zivilen Kriegsopfer um 29 Prozent. Für 55 Prozent der Verluste unter der Zivilbevölkerung und „die meisten getöteten Kinder“ sind laut UNAMA „regierungsfreundliche Kräfte … hauptsächlich wegen Luftangriffen und indirektem Feuer bei Bodenkämpfen“ verantwortlich.