Sieben Jahre war er Außenminister (1998 – 2005), jetzt, am Vorabend des denkwürdigen Datums des 8. Mai, meldete er sich nach langer Pause wieder einmal zu Wort.

Der Liquidator

Er, der ohne Ranküne als der Liquidator der deutschen Friedensbewegung bezeichnet werden kann, der sich aktiv und vorwärtstreibend bei der Zerschlagung des Balkanstaates Jugoslawien einen Namen gemacht hat, rät den Deutschen nun, den seit dem Kriegsende verinnerlichten Pazifismus endlich aufzugeben.

Er rät zu einer imperialeren Politik, mit Führungsanspruch und interventionsfähigem Militär. Das darf er alles machen – und über die Option sollte gestritten werden. Was sich allerdings aufdrängt, ist eine andere Frage. Und die stellt sich in Bezug auf die Kriegsniederlage in vielerlei Hinsicht.

Es geht darum, wie der 8. Mai 1945 zu bewerten ist, denn daraus lässt sich sehr gut rekonstruieren, welche Haltungen und Motive diejenigen haben, die jeweils einen Standpunkt vertreten. Alexander Gaulands (AfD) Position ist nicht weiter reflexionswürdig, wenn er sich darüber beklagt, dass es ein Tag der Niederlage gewesen sei, die weitere Gestaltungsmöglichkeiten verhindert habe.

Richtig, so kann geantwortet werden: Wer Kriege beginnt und sie verliert, für den hat es sich erst einmal ausgestaltet.

Etwas anderes ist die moralische Umdeutung des mit dem Faschismus verbundenen Holocaust. Da war zitierter Fischer ein Protagonist, der den völkerrechtswidrigen Balkankrieg mit Auschwitz begründete. Das hatte es in sich; gestützt auf Werbeagenturen wurde die Botschaft in die Häuser gebracht.

Man sollte sich die Bilder noch einmal vor Augen führen: Während die Flugzeuge der „Allianz der Freiheit“ unter aktiver deutscher Beteiligung Uran-ummantelte Munition auf Belgrad abschossen [1], standen zehntausende Belgrader auf den Brücken, blickten todesmutig in den Himmel und tanzten dazu. Kann ein solches Szenario eine Lehre aus dem 8. Mai 1945 sein?

Und da ist die aktuelle, aktive Politik. Sie hatte sich an der US-amerikanischen Strategie nach 1990 beteiligt, Russland militärisch wieder einzuschnüren. Was das mit einem Volk macht, das die meisten Toten in dem Krieg, um den es heute geht, zu beklagen hatte, findet in den Köpfen der Handelnden keine Erwägung mehr. Stattdessen werden selbst historische Fakten nach der Masche eines selbst deklarierten, der Handwerkskammer durch die Lappen gegangenen Coiffeurs, frisiert.

Da wurde zum Datum der Befreiung des KZs Auschwitz die russische Regierung nicht eingeladen [2], befreit worden sei das Lager durch die „Ukrainische Front“. Die hieß zwar so, war aber multi-ethnisch, wie alle Frontabschnitte der Roten Armee. Es ist so, als vertrete man die steile These, in der Heeresgruppe Nord seien nur Ostfriesen gewesen.

Das Gift des Antisemitismus

Und dann noch etwas, das beständig, zäh und langsam schleicht. Es ist das ewige, leidige und durch keine Erkenntnis verdünnte Gift des Antisemitismus. Nicht, dass es nicht schon ausreichte, das industriell betriebene Unrecht der Vernichtung zu leugnen! Nein, die Opfer von damals inkarnieren gerade wieder, und zwar in allen politischen Lagern, als Ursache für die Verquickungen und Verwerfungen in der heutigen, vom Wirtschaftsliberalismus an die Wand gefahrenen Welt.

Nach dem vermeintlichen Triumph und drei Jahrzehnten der rücksichtslosen Libertinage kommt der ewige Jude als Sündenbock gerade recht. Von Rechts nach Links, von Unten nach Oben: Überall ist es wieder präsent. Und, machen Sie Augen und Ohren auf, heute flackert es wieder auf!

Die Bestürzung ist verraucht, die Scham verflogen, die Erkenntnis versickert. Ein guter Rat wäre, sich an das Datum vom 8. Mai 1945 zumindest in den Regionen der untergehenden Sonne nicht mehr zu erinnern. Das große Lehrstück Weltkrieg II war vergebene Liebesmüh!

Quellen und Anmerkungen
[1] Frankfurter Rundschau (17. Februar 2017): Sie nannten es „Balkan-Syndrom“. Auf https://www.fr.de/politik/nannten-balkan-syndrom-11055288.html (abgerufen am 08.05.2020).
[2] Deutschlandfunk (8. Mai 2020): „Ich habe hohen Respekt vor den russischen Befreiern“. Auf https://www.deutschlandfunk.de/interview.693.de.html (abgerufen am 08.05.2020).


Dr. Gerhard Mersmann: studierte Politologie und Literaturwissenschaften, war als Personalentwickler tätig und als Leiter von Changeprozessen in der Kommunalverwaltung. Außerdem als Regierungsberater in Indonesien nach dem Sturz von Haji Mohamed Suharto. Gerhard Mersmann ist Geschäftsführer eines Studieninstituts und Blogger. Seine gegenwärtigen Schwerpunkte sind Beratung, Lehre und Publizistik. Auf Form7 schreibt er pointiert über das politische und gesellschaftliche Geschehen und wirft einen kritischen Blick auf das Handeln der Akteure.

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