Noch nie war Strom auf dem Markt so billig wie in den letzten Wochen. Die Kohle- und Gaskraftwerke stehen die meiste Zeit still.
Hanspeter Guggenbühl für die Online Zeitung INFOsperber
Für Stromproduzenten ist es eine schlechte Nachricht: Der Stromkonsum in Mitteleuropa verminderte sich in den letzten Wochen um 10 bis 30 Prozent gegenüber der Vergleichsperiode im Vorjahr; dies als Folge der Massnahmen gegen die Corona-Epidemie. Damit sanken die kurzfristigen Preise auf dem Strom-Spotmarkt auf ein Rekordtief.
Kohle- und Gaskraftwerke stehen jetzt mehrheitlich still, weil der Bandstrom aus Solar-, Wind-, Fluss- und Atomkraftwerken allein die meiste Zeit reicht, um die Nachfrage zu decken. Das führt temporär – und das ist die gute Nachricht für Klimaschützer – zu einem deutlichen Rückgang des CO2-Ausstosses. Verstärkt wird der CO2-Rückgang global und national, weil auch der Ölkonsum im gleichen Mass abnimmt.
Nun zu den Details, basierend auf aktuellen Marktdaten und Auskünften der grossen Schweizer Stromkonzerne.
Stromkonsum eingebrochen, Preise auf Tiefstand
Die Marktpreise für Strom in Europa und in der Schweiz sanken im laufenden Jahr 2020 auf den tiefsten Stand seit dem Jahr 2006, als der Börsenindex „Swissix“ eingeführt wurde. Im Zeitraum vom 1. Januar bis 8. April 2020 kostete eine Megawattstunde (MWh) Strom in der Schweiz (gemäss Swissix) im Schnitt nur noch 33 Euro, dies bei sinkender Tendenz. Das zeigt die Monatsstatistik (siehe untenstehende Grafik): In den ersten acht Apriltagen zahlten Käufer am Schweizer Spotmarkt nur noch 20 Euro pro MWh oder umgerechnet nur noch 2,1 Rappen pro Kilowattstunde (kWh) Strom.
Nachtrag: Bis am 13. April sank der Monatsschnitt des Swissix auf 16 Euro/MWh oder 1,7 Rappen pro kWh. Am Ostermontag kippte der Tagesdurchschnitt erstmals ins Minus, nämlich umgerechnet auf minus 7 Rappen pro kWh für Bandstrom und sogar auf minus 20 Rappen/kWh für Spitzenstrom (tagsüber).
Im Schnitt der ersten acht Apriltage sank der Börsenpreis (Swissix) für Schweizer Strom auf 2,1 Rappen/kWh. Schon der März-Durchschnitt war mit 2,8 Rappen/kWh so tief wie nie zuvor. (Grafik: bricklebrit/hpg. Quelle: Epex-Spot)
Der Grund für diesen Preiseinbruch: Die Massnahmen, welche die Regierungen ab März beschlossen und schrittweise verschärften, um die Corona-Epidemie zu bekämpfen, senkten den Stromkonsum in der Schweiz und ihren Nachbarstaaten massiv. Das bestätigen befragte Stromunternehmen. Im Durchschnitt verminderte sich demnach der Stromverbrauch in der Schweiz und in Deutschland in den letzten Wochen um rund 10 Prozent, in Frankreich um 15 und in Italien sogar um 30 Prozent; dies immer gegenüber der Vergleichsperiode im Vorjahr.
Weniger Verbrauch in Städten, mehr auf dem Land
Von diesen Mittelwerten gibt es – je nach Region – deutliche Abweichungen nach oben und unten: Im Tessin etwa, wo die Regierung neben Restaurants und Einkaufszentren auch Produktionsstätten stilllegte, dürfte der Stromverbrauch stärker abgenommen haben als im Schweizer Durchschnitt.
Im nordostschweizerischen Versorgungsgebiet der Axpo hingegen, wo die Produktion weiter läuft, betrage der Rückgang des Stromkonsums gegenüber dem Vorjahr witterungsbereinigt bisher erst etwa drei Prozent. Einem deutlichen Rückgang in städtischen Gebieten (mit hoher Konzentration an Arbeitsplätzen) stand hier eine Zunahme des Verbrauchs in ländlichen Gebieten gegenüber. «Das könnte», mutmasst Axpo-Sprecher Tobias Kistner, «auf das verstärkte Home-Office von vielen Angestellten zurückzuführen sein».
Kraftwerk-Betrieb gemäss Merit-Order-Effekt
Wenn der Verbrauch abnimmt und die Marktpreise sinken, werden die Kraftwerke mit den höchsten variablen Kosten abgestellt; zuerst die Öl-, dann die Gaskraftwerke, später auch Kohlekraftwerke. «Generell laufen Gas- und vor allem Kohlekraftwerke nur stark reduziert», bestätigt auf Anfrage Sabine Labonte, Mediensprecherin des international tätigen Stromkonzern Alpiq (Alpiq selber betreibt Gas-, aber seit 2019 keine Kohlekraftwerke mehr).
Bei tiefem Verbrauch bleiben nur noch die Solar- und Windkraftwerke am Netz, deren variable Kosten bei null liegen, sowie die Lauf-Wasserkraftwerke und die Atomkraftwerke. Diese haben zwar hohe Kapital- aber tiefe Betriebskosten. Nachdem Merit-Order-Effekt (siehe untenstehende Grafik) bestimmen die variablen Kosten jenes Kraftwerks, das gerade noch nötig ist, um den aktuellen Bedarf zu decken, den Preis am Spotmarkt.
Merit-Order-Effekt, schematisch dargestellt: Je tiefer die Nachfrage und je höher die Einspeisung von Strom aus erneuerbarer Energie ist, desto weniger fossile Stromproduktion braucht es, und desto tiefer ist der Marktpreis.
Das heisst konkret: Beim gegenwärtig tiefen Verbrauch können in Mitteleuropa die Solar-, Wind-, Wasser-Laufkraftwerke sowie Atomkraftwerke den Bedarf an Strom rund um die Uhr (Bandenergie) mehrheitlich befriedigen. Speicher-Wasserkraftwerke sowie Gaskraftwerke werden nur kurze Zeit gebraucht, um Verbrauchsspitzen zu decken. Darum dürfte der CO2-Ausstoss aus der Stromproduktion in Mitteleuropa zurzeit stärker abnehmen als der Stromkonsum. Anders sieht es in Osteuropa aus, wo Kohlekraftwerke dominieren und der Anteil an erneuerbarer Energie marginal ist.
Viel Bandstrom schon früher verkauft
Die heute tiefen Spotmarkt-Preise decken zwar die variablen Kosten, nicht aber die Kapitalkosten der Kraftwerke. Kurzfristig ist die wirtschaftliche Existenz der Stromproduzenten und grossen Stromkonzerne wie Axpo oder Alpiq trotzdem nicht gefährdet. Denn sie haben den Grossteil ihres Bandstroms schon in den Vorjahren, als die Preise höher waren, auf Termin verkauft. Prekär wird die Lage für sie erst, wenn nach den Spotmarktpreisen auch die Terminmarktpreise während ein bis drei Jahren einbrechen, wie das in den Jahren 2014 bis 2016 der Fall war.
Unter der Preisflaute leiden zurzeit vor allem die Betreiber von Wasser-Speicherkraftwerken, die Strom für Verbrauchsspitzen produzieren. Denn die Preise für Spitzenstrom auf dem Spotmarkt liegen momentan nur geringfügig über dem Preisniveau für Bandstrom.
Weniger Kohle- und Ölverbrauch, weniger CO2
Der momentan geringe Verbrauch von Strom aus Kohle- und Gaskraftwerken führt kurzfristig auch zu einem massiven Rückgang der CO2-Emissionen, die hauptverantwortlich sind für die Zunahme des globalen Treibhauseffektes und der Klimaerwärmung. Zudem hat in den letzten Wochen auch der Ölverbrauch weltweit um rund 10 Prozent abgenommen. Im April könnte die Ölnachfrage sogar um 20 bis 30 Prozent einbrechen, erwarten Marktbeobachter. Damit dürften im Jahr 2020 die globalen Treibhausgas-Emissionen erstmals seit dem Jahr 2009, als die Finanzkrise eine Rezession verursachte, wieder abnehmen.
Die aktuelle Situation bestätigt eine langfristige Regel: Wächst die Wirtschaft, wachsen – tendenziell – auch der Verbrauch von Energie und der Ausstoss von CO2 und weiteren Treibhausgasen. Schrumpft die Wirtschaft, sinken Energiekonsum und Treibhausgase. Diese wirtschaftlichen Schwankungen beeinflussten in den vergangenen Jahren den Klimawandel stärker als die meisten Investitionen, die zur Eindämmung des Klimawandels getätigt werden.