Überwachungsmassnahmen und digitale Hilfsmittel können bei der Bekämpfung des Coronavirus helfen. Amnesty International, die Digitale Gesellschaft und die Stiftung für Konsumentenschutz fordern jedoch, dass die Verhältnismässigkeit bei allen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte gewahrt bleibt. Denn dieser rechtsstaatliche Grundsatz gilt auch in Krisenzeiten.
Seit Mitte März 2020 befindet sich die Schweiz im Ausnahmezustand. Bundesrat und Kantonsregierungen können jede Massnahme beschliessen, die sie zur Eindämmung des Coronavirus für notwendig erachten. Einschränkungen der Grundrechte, wie die Beschränkung der Bewegungsfreiheit oder Überwachungsmassnahmen, müssen jedoch auch im Ausnahmezustand verhältnismässig sein. Sie müssen also erforderlich und geeignet sein, ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel tatsächlich zu erreichen. Sie dürfen in sachlicher, räumlicher, personeller und zeitlicher Hinsicht nicht über das absolut Notwendige hinausgehen. Eine Massnahme hat zu unterbleiben, falls ein geeigneter, milderer Eingriff möglich ist, und sie muss zudem transparent sein. Die ergriffenen Massnahmen müssen auf die Dauer der Krise beschränkt sein
Smartphone-Überwachung
Im Kampf gegen das Coronavirus hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gegenüber Swisscom die Herausgabe von Daten zu Menschenansammlungen und Personenflüssen verfügt. Das BAG erklärte zur Massnahme, man erhalte von Swisscom keine Standortdaten, sondern «lediglich Analysen und Visualisierungen». Die zugrundeliegenden Daten seien aggregiert beziehungsweise anonymisiert, so dass keine Personendaten vorliegen würden. Eine solche Überwachung kann der gegenwärtigen Situation angemessen sein. Das BAG weigerte sich jedoch, die entsprechende Verfügung herauszugeben. Bei der vorliegenden Verwendung von Standortdaten ist Transparenz von grösster Bedeutung. Die Digitale Gesellschaft hat daher vorsorglich ein Verfahren gemäss Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) gegen das BAG eingeleitet. Auf Druck des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragen (EDÖB) haben Swisscom und das BAG inzwischen weiterführende Informationen zur Verfügung gestellt.
Grundrechtlich höchst problematisch wäre die Verwendung von Vorratsdaten aus der Handy-Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung in der Schweiz für das Contact Tracing, wie dies von gewissen Kreisen gefordert wird. Die Datensammlung, mit der sechs Monate rückwirkend nachvollzogen werden kann, wer wann wo mit wem und wie lange kommuniziert hat, stellt einen massiven Eingriff in die Privatsphäre dar. Dennoch sind diese Daten zu ungenau, um physische Kontakte und eine mögliche Infektionskette des Coronavirus nachweisen zu können. Eine Funkzelle umfasst in städtischen Gebieten einige hundert Meter, kann auf dem Land aber auch mehrere Kilometer gross sein. Falls sich alle Personen in Quarantäne begeben müssten, die sich in den Tagen vor dem Bekanntwerden einer Ansteckung, in derselben Funkzelle befunden haben wie die infizierte Person, wäre das Land sofort lahmgelegt.
Contact Tracing-App
Für das Feststellen von möglichen Infektionsketten könnten hingegen sogenannte Contact Tracing-Apps hilfreich sein. Dabei registriert das eigene Handy alle sich in der Nähe befindlichen Mobiltelefone über die Bluetooth-Funktion. Die Reichweite ist auf einige Meter beschränkt, was ungefähr der Ausbreitungsdistanz des Coronavirus entspricht. Eine datenschutzkonforme Contact Tracing-Technik ist umsetzbar, wenn wichtige Grundsätze beachtet werden:
So müssen alle Kontakt-Informationen sicher verschlüsselt und lokal auf dem Handy gespeichert werden. Sie dürfen erst beim Vorliegen einer Infektion anonym ausgewertet werden. Darüber hinausgehende Überwachung, beispielsweise Location Tracking, darf nicht stattfinden. Bei der Entwicklung müssen offene Standards, Schnittstellen und Open Source-Software zum Einsatz kommen. Die Verwendung der App muss freiwillig sein.
Die Fähigkeiten für Contact Tracing, das datensparsam funktioniert und die Grundrechte gewährleistet, sind in Europa vorhanden. Ein Beispiel dafür ist die Pan-European Privacy Preserving Proximity Tracing-Initiative (PEPP-PT), ein Projekt, an dem auch Forschende aus der Schweiz (unter anderem ETH und EPFL) beteiligt sind. Äusserst problematisch wäre hingegen die Zusammenarbeit mit Big Data-Unternehmen wie Palantir, eine US-amerikanische Firma, die international für Geheimdienste und Sicherheitsbehörden tätig ist und keine Transparenz gewährleistet.
Kameraüberwachung
Letzte Woche hat der Regierungsrat des Kantons Aargau beschlossen, dass die Polizei auf bestehende Videokameras in Echtzeit – auch von Dritten – zugreifen und selber neue Kameras aufstellen darf. Wieso die bestehenden Massnahmen wie Verbote von Ansammlungen, Polizei-Patrouillen, Bussen und Absperren von Parkanlagen nicht ausreichen sollten, bleibt der Regierungsrat in seiner Stellungnahme schuldig. Solche «virtuellen Patrouillen» können nicht direkt einschreiten und führen in ihrer präventiven Wirkung höchstens dazu, dass sich die Menschen an einem anderen, nicht überwachten Ort treffen.
Das öffentliche Leben in Echtzeit zu überwachen, geht weit über Massnahmen hinaus, mit denen mittels anonymisierter und aggregierter Handy-Standortdaten, Ansammlungen von Personen oder Bewegungsströme erfasst werden können. Es sind auch keine speziellen Umstände ersichtlich, welche eine solche Massnahme im Vergleich zu anderen Kantonen nötig machen würde. Es besteht zudem die Gefahr, dass die Video-Echtzeitüberwachung auch nach Ende der Pandemie als «normale» Überwachungsmassnahme eingesetzt wird.
Wir fordern vom Regierungsrat vom Kanton Aargau, die Echtzeit-Überwachung des gesamten öffentlichen Raumes als eine unverhältnismässige Massenüberwachung umgehend zurückzunehmen.
Weltweiter Aufruf
Über 100 NGO aus der ganzen Welt, darunter Amnesty International und die Digitale Gesellschaft, forderten bereits letzte Woche in einem gemeinsamen Statement, dass die digitale Überwachung zur Bekämpfung des Coronavirus die Persönlichkeits- und Menschenrechte nicht untergraben darf.