Nele Pollatschek hat das geschafft, was vielen jungen Menschen heute verlockend erscheint: zumindest einen Teil ihres Studiums in Oxford oder Cambridge zu absolvieren. In ihrem eben erschienen „Dear Oxbridge – Liebesbrief an England“, schildert sie unterhaltsam und gleichzeitig sehr scharfsichtig nicht nur ihren Weg dorthin, sondern erklärt anhand der in Oxbridge existenten Strukturen sowohl die immer noch sehr klassenbewusste englische Gesellschaft als auch deren Beitrag zum Austritt Großbritanniens aus der EU.
Am Tag nach dem Referendum zum sogenannten Brexit werden Nele Pollatschek zwei Dinge klar: Erstens wird es zu dem nicht möglich gehaltenen Ergebnis, also zum Austritt Großbritanniens aus der EU kommen, und zweitens hat das für sie durchaus positive finanzielle Aspekte. Die bereits von ihr angesparte Geldsumme für die Begleichung während der Studienjahre in Oxbridge angehäuften Gebühren, die am Abend des 23. Juni 2016 noch nicht ganz ausreichte, um schuldenfrei zu werden, gleicht am Morgen des 24. Juni 2016 die zurück zu zahlenden Gebühren aus. Es bleibt rein rechnerisch auch noch etwas übrig. Jeder, der jemals jahrelang quasi über die Verhältnisse leben musste, um eine Ausbildung bzw. ein Studium finanzieren zu können, ohne dabei mehrere Jobs anzunehmen und sich damit voll und ganz auf dasselbe zu konzentrieren, weiß, dass man sich in solch einer Situation nicht nur befreit, sondern reich vorkommt. Doch genau die Definition von Reichtum, von Klasse und Gleichberechtigung sind es, die dazu führen, dass die Briten den für viele andere Europäer unverständlichen Weg des Ausstiegs wählten. Was zunächst vor allem auf Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus begründet zu sein scheint, hat laut Pollatscheks schlüssig aufgebauter Analyse andere Gründe. Lange währender Reichtum ist nur einer davon.
Wer eine Ausbildung in Oxbridge anstrebt muss nicht zwingend zur britischen upper class gehören, doch Geld, Verbindungen und die entsprechende schulische Vorbereitung erleichtern es, in eines der traditionsreichen Colleges aufgenommen zu werden. Dabei ist die Wahl des Colleges nicht nur eine auf die Lehre bezogen qualitative. Schafft man es, in eines der reichsten Colleges aufgenommen zu werden, muss man zwar trotzdem eine Studiengebühr von 9000 £ jährlich aufbringen – diese ist für alle Colleges gleich – bekommt aber dafür eine bessere Rundumversorgung und muss für den täglichen Bedarf im allgemeinen weniger ausgeben. Sprich, man zahlt weniger Miete und bekommt sehr viel bessere Verpflegung, weil das College es sich leisten kann, diese Ausgaben zu subventionieren. Die Colleges und die dort Lehrenden befürworten Bewerbungen von Studierenden, die keine der ausgewiesenen Eliteschulen besucht haben, besonders. Doch auf die Aufnahmeprüfungen wird man nach wie vor vor allem durch diese Eliteeinrichtungen besonders gut vorbereitet. Das horrende Schulgeld, das viele Familien der upper class auszugeben bereit sind, um ihren Sprösslingen einen Studienplatz in Oxbridge zu sichern, zeigt bereits deutlich, wie sehr die britische Gesellschaft auch heute noch einem alten Klassendenken verpflichtet ist.
„[…] in ganz England wachsen upper-class-Kinder in Familiensitzen, Landhäusern oder Palästen auf, in dem Wissen, dass ihre Familie seit Jahrhunderten schon besser ist. […] Wenn sie nach Oxbridge kommen, dann wissen sie, dass sie bereits die zehnte Generation sind. Wenn sie in die Politik gehen, wissen sie, dass ihre Urgroßväter auch schon das Land regierten, dass Macht eine Familientradition ist, wie andere Familien halt Bäcker werden. Die Privilegien der englischen upper class sind so groß, so alt und so mit den persönlichen Biografien verwoben, dass sie ein Mitglied dieser Klasse eigentlich nicht hinterfragen kann, ohne damit seine ganze Identität zu gefährden.“
Dabei gehen gerade diese Familien davon aus, dass sie und ihre Kinder nicht weniger als eine herausragende Stellung verdienen – und das nicht aufgrund ihres Reichtums oder eines von Gott gegebenen Umstands, sondern weil sie es sich selbst hart erarbeitet haben. Das ist die moderne Version des britischen upper class Denkens, das das Land, seine Gesellschaft und seine Politik seit Jahrhunderten geprägt hat.
„Die Klassengrenzen gibt es noch, die Kirche auch, selbst den Familienstolz, aber daneben gibt es einen neuen neoliberalen Individualismus, in dem jeder denken will, dass er seine Stellung ganz alleine und höchstpersönlich verdient hat. […] Die meisten Herren der englischen Oberschicht halten sich im Grunde für self-made-men.“
Self-made-men die meist auch in Oxbridge einem elitären Zirkel, wie dem Bullingdon-Club, beitreten, dessen gemeinsame Aktivitäten vor allem darin bestehen, im volltrunkenem Zustand ganze Restaurants kurz und klein zu schlagen. Wer den 1928 unter dem Titel „Decline and Fall“ erschienenen Debütroman Evelyn Waughs – im übrigen ein scharfer Kritiker dieser gesellschaftlichen Kreise – kennt wird sich bei den Schilderungen gerade des Bullindgon Clubs stark an die Eingangsszene des Buches erinnert fühlen. Es ist der Abend der jährlichen Zusammenkunft des Bollinger – Clubs und der Prodekan und der Schatzmeister des Scone College in Oxford sehen dem Treiben der Clubmitglieder mit sehr gemischten Gefühlen entgegen.
„[…] denn das alljährliche Bollinger Dinner ist für die Autoritätspersonen eine schwierige Zeit. Die Bezeichnung „alljährlich“ ist ungenau, denn oft muss das Clubleben nach einer solchen Zusammenkunft für Jahre ausgesetzt werden. Der Bollinger ist ein traditionsreicher Club, er zählt regierende Könige zu seinen ehemaligen Mitgliedern. Beim letzten Dinner vor drei Jahren wurde ein Fuchs, den man in einem Käfig mitgebracht hatte, mit Champagnerflaschen gesteinigt. Das war vielleicht ein Abend gewesen!“
Der Geist, der hier mitschwingt ist auch heute, nach fast über 100 Jahren noch lebendig. Für Männer, die aus den Reihen der sogenannten toffs stammen, die häufig an den roten Hosen zu erkennen sind, die sie in Oxbridge als ihr Markenzeichen tragen, ist nichts so verwerflich, dass man es nicht mit Geld wieder gut machen könnte. Männer wie Boris Johnson oder David Cameron, die beide stolze Bullingdon-Mitglieder waren beziehungsweise sind. Eine Klasse von Männern, die nichts verabscheuungswürdigeres als Armut kennt. Die ein Land aufgrund ihrer Privilegien, die sie selbst nicht erkennen, regieren und eine wahre gesellschaftliche Gleichheit weder anstreben, noch möglich machen. Die einen Brexit herbeigeführt haben, der nicht von der Mehrheit der Briten gewollt ist. Und diejenigen Briten, die für den Brexit gestimmt haben wurden durch Falschaussagen vor allem über Zahlungen, die Großbritannien angeblich an die EU zu leisten hatte irregeführt, in der Annahme man könne die vermeintlich zu zahlenden Beträge in das marode heimische Gesundheitssystem, das tatsächlich jedem Menschen gleichermaßen offen steht, stecken. Dazu kamen noch die überzeugten links orientierten Wähler, die sich vom EU-Austritt erhoffen, dem Neoliberalismus damit entgegentreten zu können und damit in mehreren Bereichen eine gerechtere Gesellschaft zu ermöglichen.
Für mich ist das die Kernaussage, die Nele Pollatschek sehr klug, eloquent und wertfrei anhand ihrer Erfahrungen, Erlebnisse und Einsichten in Oxbridge, dessen Auffassung von Lehre und den Unterschieden zwischen Deutschland und Großbritannien schrittweise über mehrere Stationen herausarbeitet. Differenziert, wertschätzend aber kritisch. Ein gleichzeitig erhellendes wie auch unterhaltendes Buch, was sich – wie ich zwar schon länger vermutet, aber durch die Lektüre bestätigt bekommen habe – in Großbritannien im Gegensatz zu Deutschland nicht gegenseitig ausschließt.
Wärmste Lektüreempfehlung für alle, die ein bisschen genauer wissen wollen, wie es zu diesem von vielen Briten sehr bedauerten Schritt kommen konnte.
Dear Oxbridge – Liebesbrief an England ist im Januar 2020 bei Galiani Berlin erschienen. Mehr Information zum Buch gibt es hier.