Mit einer noch nie dagewesenen Heftigkeit wurde in Italien versucht, Journalisten, die über die Zustände in der Massentierhaltung und deren fatale Folgen für Mensch, Tier und Umwelt berichteten, zum Schweigen zu bringen.
Im Detail geht es um vier Journalisten, die in Sendungen des italienischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks Rai (Radiotelevisione Italiana) unbequeme Wahrheiten ans Licht brachten, indem sie über die Auswirkungen der Massentierhaltung auf Klima, Umwelt und Gesundheit – auch im Hinblick auf die aktuelle Corona-Krise – berichteten, und diese in Zusammenhang mit dem derzeitigen Niveau der Fleischproduktion und des Fleischkonsums stellten:
- In der Sendung „Sapiens – Un solo pianeta“ vom 28. März auf Rai 3 sprach Mario Tozzi darüber, wie die globale Fleischproduktion zu Abholzung, Umweltverschmutzung, Schädigung der Ressourcen Wasser und Boden sowie zum Verlust ganzer natürlicher Lebensräume beiträgt, die seit jeher ein grundlegendes Element unseres Ökosystems sind.
- Am 29. März berichtete Sabrina Giannini in der Sendung „Indovina chi viene a cena – Il virus è un boomerang“, ebenfalls auf Rai 3, über die Folgen der Fleischproduktion, die die Verbreitung von Viren begünstigt, und wie der enorme Einsatz von Antibiotika in der Intensiv-Tierhaltung zu Antibiotikaresistenzen führt, einem Phänomen, das bereits jetzt schwerwiegende Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit hat und in Zukunft für die gesamte Menschheit immer gravierender werden wird.
- In einer Sendungen der Reihe „Report“ (Rai 3) berichteten Sigfrido Ranucci und Luca Chianca am 13. April über das Gülle-Problem, bei dem große Mengen Ammoniak und Nitrate freigesetzt werden, was unter anderem auch zu einer hohen Luftverschmutzung führt, insbesondere in der Lombardei, ein Faktor, der die Verbreitung von Viren und das Auftreten von Atemwegserkrankungen zu begünstigen scheint.
In ihren Recherchen beriefen sich die Journalisten auf wissenschaftliche Daten, Fakten und Quellen international anerkannter Institutionen wie der FAO (Food and Agriculture Organization) der Vereinten Nationen und der WHO (World Health Organization) der Vereinten Nationen sowie auch dem EU-Kommissar für Umwelt und Ozeane Virginijus Sinkevičius, der von der New York Times wie folgt zitiert wird:
„Die Massentierhaltung spielt in der aktuellen Pandemie eine Rolle, mit starken Indizien dafür, dass die Fleischproduktion, nicht nur in China, zu COVID-19 beigetragen hat.“
Im Gegenzug hatten Vertreter der italienischen Agrar-, Viehzucht- und Fleischindustrie und deren zahlreichen Lobbyverbänden, darunter Assica, Assalzoo, Assocarni, Una Italia, Unica, Carni Sostenibili sowie der Ex-Agrarminister und heutige Lega Nord-Politiker Gian Marco Centinaio unter harscher Kritik gefordert, solche Stimmen nicht zu finanzieren und zu unterdrücken, warfen ihnen unfundierte Behauptungen vor und bezichtigten sie, die heimische Industrie “Made in Italy“ boykottieren zu wollen.
Nun haben acht Umwelt- und Tierschutzorganisationen reagiert, darunter auch die italienischen Abteilungen von Greenpeace, Animal Equality, Compassion in World Farming sowie der Humane Society International, und einen offenen Brief an den Verwaltungsrat der Rai verfasst, den wir im Folgenden auf deutsch publizieren. Darin verteidigen sie die Journalisten, danken der Rai für die Ausstrahlungen und heben hervor, dass die Forderung, Journalisten zum Schweigen zu bringen oder sie daran zu hindern, sich mit bestimmten Themen zu befassen, dem Konzept der Informationsfreiheit widerspricht, auf dem jede wahre Demokratie beruht, auch und gerade in Zeiten einer globalen Krise wie dieser.
Offener Brief
Unterstützung für Rai-Journalisten, die wegen ihrer Ermittlungen angegriffen werden:
Mit diesem Brief möchten die unterzeichnenden Verbände ihre volle Solidarität und Unterstützung für die Rai-Journalisten zum Ausdruck bringen, die aufgrund ihrer Ermittlungen von der Fleisch- und Viehwirtschaft angegriffen werden. Insbesondere beziehen wir uns auf Sabrina Giannini, Moderatorin von „Indovina chi viene a cena“ und Mario Tozzi, Moderator von „Sapiens“, die in dem letzte Woche veröffentlichten Brief von Assalzoo, Assocarni, Una Italia, Unica, Carni Sostenibili, Assolatte erwähnt werden. Aber auch Luca Chianca und Sigfrido Ranucci von „Report“, gegen die sich Coldiretti und Cia-Agricoltori Italiani kürzlich gestellt haben.
Gleichzeitig unterstützen wir nachdrücklich alle investigativen Journalisten in ihrem Engagement, zu recherchieren, offizielle Daten zu analysieren und aus erster Hand zu dokumentieren, um über unbequeme Wahrheiten im Zusammenhang mit den Umweltauswirkungen und Gesundheitsproblemen zu sprechen, die mit dem derzeitigen Niveau der Fleischproduktion und des Fleischkonsums sowie den Methoden der intensiven Landwirtschaft, insbesondere der Massentierhaltung verbunden sind.
Die Forderung, Journalisten zum Schweigen zu bringen oder sie daran zu hindern, sich mit bestimmten Themen zu befassen, widerspricht auch dem Konzept der Informationsfreiheit, auf dem jede wahre Demokratie beruht. Und gerade in einer schwierigen Zeit wie der jetzigen müssen wir die Probleme analysieren, die das Entstehen von Zoonosen begünstigen oder ihre Ausbreitung beschleunigen können. Ebenso müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit der Einfluss des Menschen auf die Natur Bedingungen für die Übertragung zahlreicher Viren vom Tier auf den Menschen geschaffen hat.
Journalistische Ermittlungen wie die hier erwähnten sind wertvolle Leuchtfeuer, die helfen, die Rolle zu erhellen, die bei all dem auch die Intensiv-Tierhaltung spielt. Dabei handelt es sich nicht um Angriffe persönlicher Art oder ohne wissenschaftliche Grundlage, wie die Berufsverbände den Mut hatten, es zu behaupten, sondern im Gegenteil um Ermittlungen, die ausschließlich auf offiziellen Daten und Interviews mit Experten und Fachleuten beruhen. Die Warnungen vor dem Ausmaß, in dem Entwaldung und Massentierhaltung im Laufe der Jahre das Überspringen von Krankheiten von einer Spezies auf die andere erleichtert und viele gefährliche Epidemien hervorgerufen haben, stammen weder von Aktivisten noch von Journalisten, sondern von der FAO (Food and Agriculture Organization) der Vereinten Nationen, der WHO (World Health Organization) der Vereinten Nationen und von Forscher aus führenden wissenschaftlichen Institutionen auf der ganzen Welt.
Eine in der Zeitschrift Nature veröffentlichte Studie schätzt, dass in der Tat 75% der Infektionskrankheiten, von denen wir Menschen in den letzten Jahrzehnten betroffen waren, von Tieren herrühren. Sars, Ebola, Schweinegrippe, Vogelgrippe und die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (bekannt als „Rinderwahnsinn“), sind nur einige Beispiele, die diesem Coronavirus vorausgingen.
Viele andere werden folgen, wenn wir nicht die Lehren daraus ziehen und die Auswirkungen unserer Aktivitäten auf den Planeten und unsere Beziehung zu den Tieren verändern.
Wir danken der Rai und ihren Journalisten auch dafür, den Untersuchungen von gemeinnützigen Organisationen wiederholt Raum gegeben zu haben, mit Bildern, die die versteckte Seite der intensiven Tierzucht zeigen. Dieses Produktionssystem, das auf übermäßigem Fleischkonsum basiert, zielt auf schnelles Wachstum, Raum- und Kostenoptimierung sowie Preissenkungen ab und berücksichtigt weder die Bedürfnisse der Tiere, wodurch ihnen unvermeidliches Leiden zugefügt wird, noch die damit verbundenen Auswirkungen auf die Umwelt. Das System Massentierhaltung, in dem Zehntausende von Individuen einer Spezies in Ställen zusammengepfercht leben, ist zudem ein optimaler Ort für gefährliche Krankheitsausbrüche und führt zu einem rücksichtslosen Einsatz von Antibiotika bei Tieren, was zu einer weiteren schweren Gesundheitskrise beiträgt: der Antibiotikaresistenz.
All diese Informationen vor der Öffentlichkeit verbergen zu wollen, ist sehr schwerwiegend: Es bedeutet, die öffentliche Gesundheit und ein globales Problem außer Acht zu lassen, das die ganze Welt auf dramatische Weise und mit verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen erlebt, und das, wenn es nicht an der Wurzel und mit allen damit verbundenen Probleme gelöst wird, sich in Zukunft wiederholen wird. Journalisten anzugreifen, die mit unbequemen Wahrheiten konfrontieren, die wir nicht länger aus der Debatte herauslassen dürfen, ist nur der Versuch, eigene Interessen zu verteidigen, zum Nachteil der Gesellschaft und der Menschheit als Ganzes. Und wenn unser Beifall den oben erwähnten Journalisten gilt, so gilt unser Dank auch der Rai, einem von allen Bürgern bezahlten öffentlich-rechtlichem Dienst, der genau in dem Moment zu einem solchen wird, in dem er vertiefenden und für das Gemeinwohl nützlichen Programmen Raum gibt. An die Geschäftsführung der Rai und an die Direktoren aller Zeitungen geht auch die Einladung, sich in ihren Programmen und Inhalten nicht von einer ähnlichen Offensive durch Unternehmen und Wirtschaftsverbände beeinflussen zu lassen, da echte und wahrheitsgetreue Information heute wichtiger ist, als je zuvor.
Matteo Cupi, Exekutivdirektor für Animal Equality Italia
Annamaria Pisapia, Direktorin CIWF (Compassion in World Farming) Italia
Carla Rocchi, Präsidentin ENPA (Ente Nazionale per la Protezione degli Animali – italienischer Tierschutzverein)
Simone Montuschi, Präsident Essere Animali (italienischer Tierschutzverband)
Alessandro Giannì, Kampagnen-Direktor von Greenpeace Italia
Martina Pluda, Direktorin Humane Society International Italia
Gianluca Felicetti, Präsident der LAV (Lega Anti Vivisezione – italienischer Verband gegen Tierversuche)
Antonino Morabito, nationaler Leiter Cites, Fauna e Benessere Animale LEGAMBIENTE Onlus (italienischer Umweltschutzverband)
Text und Übersetzung des offenen Briefes aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter