Eine noch nie dagewesene Krise sucht Brasilien und die Welt heim. Covid-19, das neue Coronavirus, hat die Volkswirtschaften der Welt erschüttert und sich als komplexe Krise erwiesen. Um das Thema besser zu verstehen, interviewte Pressenza Brasil Felipe Honorato, einen Universitätsprofessor und Mitarbeiter von Pressenza.

Pressenza Brasilien: Wie schätzen Sie die aktuelle Coronavirus-Krise ein und was werden die Auswirkung für die ärmsten, benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Brasilien sein?

Felipe Honorato: Ich habe vor allem noch nie eine so große Krise erlebt. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass die großen städtischen Zentren so zum Stillstand kommen würden wie derzeit Paris, Madrid und Mailand; ebenso wenig hätte ich mir vorstellen können, dass ein Ereignis die Macht hätte, Sportveranstaltungen wie die Copa Libertadores, die NBA, die Formel 1, welche riesige Geldsummen bewegen, abzusagen oder zu verschieben.

Dass die deutsche Ministerpräsidentin Angela Merkel sagte, die Pandemie sei die größte Herausforderung für Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, gibt eine Vorstellung vom Ausmaß der Krise, die wir gegenwärtig erleben. Es ist schwierig, die finanziellen und sozialen Auswirkungen zu erfassen, die diese Krise sowohl zum Schlechten als auch zum Guten hat und weiterhin haben wird – die CO2-Emissionen sind seit Beginn der Quarantäne weltweit dramatisch zurückgegangen, die Kanäle von Venedig, ohne Touristen, haben zum Beispiel wieder kristallklares Wasser.

Ich glaube, dass die Auswirkungen auf die arme und periphere Bevölkerung verheerend sein werden. Wir sehen, dass das Coronavirus hochgradig ansteckend ist. In einem Umfeld, in dem der Zugang zum Gesundheitssystem erschwert ist, grundlegenden sanitären Einrichtungen und der Zugang zu wesentlichen Dingen der Körperpflege fehlen, was in den Vororten die Realität ist, wird es wie ein Feuer im Stroh sein. Das Virus hat sich schnell auf allen Kontinenten ausgebreitet. Stellen Sie sich nun vor, welches Übertragungspotential dieses Virus in einer bevölkerungsreichen Favela von Rio de Janeiro oder São Paulo haben wird, Gebiete mit extremer Verwundbarkeit. Wenn wir nicht an konkrete Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie unter diesen Menschen denken, werden wir meiner Meinung nach eine große Katastrophe erleben.

Wie bewerten Sie die Bemühungen der Bundes- und Landesregierungen?

Ich denke, dass der Präsident sehr schlecht gehandelt hat, als er in die USA gereist ist, während sich das Virus dort ausbreitet, und die Vorsichtsmaßnahmen in Frage gestellt hat, die von allen eingehalten werden sollten, die zurzeit aus dem Ausland einreisen. Auch die Haltung eines seiner Söhne, der Parlamentarier ist, und des Außenministeriums gegenüber der drohenden diplomatischen Krise mit China war verwerflich – die asiatische Nation, unser heutiger Hauptwirtschaftspartner, wird für Brasilien sehr wichtig sein, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu überwinden. Abgesehen davon ist es ein Land, das mit Materialspenden und Fachleuten anderen vom Coronavirus betroffenen Nationen hilft. Der Präsident, ist nicht auf der Höhe der Zeit, er verachtet die Wissenschaft, und diese Art des Denkens spiegelt sich in der Abschätzigkeit wider, mit der er über das Coronavirus und die Pandemie – eine „kleine Grippe“ – spricht. Meiner Meinung nach hätten die Beschränkungen für ausländische Reisende aus Asien, Westeuropa und den Vereinigten Staaten schon früher eingeführt werden müssen, vor der Beschränkung für Venezolaner und Staatsangehörige anderer südamerikanischer Länder. Ich glaube, dass die Landes- und Kommunalregierungen dabei sind, die Führung im Kampf gegen das Coronavirus zu übernehmen, und dass die Situation noch ernster wäre, wenn es diese anderen föderalen Einheiten nicht gäbe.

Welche Bedeutung hat der Staat angesichts akuter Krisen wie dieser?

In Brasilia gab es den Fall einer Person, die sich mit dem Coronavirus angesteckt hatte, ein privates Krankenhaus aufsuchte und von diesem an SUS[1] überwiesen wurde. Das SUS wird bei der Steuerung der Krankenhäuser in dieser Krise unweigerlich die Führung übernehmen, weil die meisten Brasilianer keine Krankenversicherung haben. Das SUS ist das Hauptinstrument für die Umsetzung der öffentlichen Gesundheitspolitik im Land, weil es von vielen Krankenhäusern und Fachleuten gebildet wird, die in ihren jeweiligen Bereichen eine führende Rolle spielen. Auch die Universitäten und öffentliche Forschungsinstitute sind bei der Erforschung von COVID-19 in Brasilien führend, wobei USP[2], UNICAMP[3], FIOCRUZ[4] und das Adolfo-Lutz-Institut hervorzuheben sind.

Dem Staat obliegt auch das Gewaltmonopol, das im Falle einer totalen Quarantäne unerlässlich ist, sowie die Umsetzung öffentlicher Maßnahmen, die notwendig sind, um zu entscheiden, wie die Pandemie bekämpft werden soll, wie mit den wirtschaftlichen Auswirkungen dieser gesamten Krise umgegangen werden soll, usw… Kurz gesagt, zumindest im Fall Brasiliens wird die gesamte Zuständigkeit für die Bewältigung der Pandemie und ihrer unterschiedlichsten Folgen in der Verantwortung des Staates liegen.

Die Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde von Petra Raue vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


[1] Sistema único de saúde (staatliches kostenloses Gesundheitswesen)
[2] Universidade de São Paulo
[3] Universidade Estadual de Campinas, Bundestaat Sao Paulo
[4] Fundação Oswaldo Cruz