Das polnische Parlament stimmte in der vergangenen Woche erneut über einen Gesetzesentwurf zu einer Verschärfung des ohnehin schon restriktiven Abtreibungsgesetzes ab, der dem Parlament bereits 2018 vorlag.
Aufgrund der restriktiven Gesetze geschehen in Polen nach Annahmen von Nichtregierungsorganisationen etwa 150.000 Abbrüche jährlich im Abtreibungsuntergrund oder im Ausland mit enormen finanziellen und physischen sowie psychischen Belastungen für die Betroffenen. 2018 brachte der polnische Verein Leben und Familie eine Gesetzesinitiative ein, diese Situation für ungewollt Schwangere noch zu verschlimmern. Die Gesetzesinitiative zielte auf das Verbot von Schwangerschaftsabbruch auch im Falle einer Fehlbildung des Fötus ab, was laut Statistik etwa 98 Prozent der ca. 1000 legalen Abbrüche in Polen pro Jahr darstellen.
Dieser Gesetzentwurf wurde 2018 jedoch aufgrund einer starken Protestbewegung nicht umgesetzt — jedoch auch nicht abgelehnt, sondern an den parlamentarischen Ausschuss weitergereicht. Dieser Ausschuss wird in Polen auch Eisschrank genannt.
Laut polnischem Gesetz müssen nach einer Parlamentswahl Gesetzesentwürfe, die in den Ausschüssen liegen, dem neuen Parlament innerhalb einer bestimmten Frist wieder zur Abstimmung vorgelegt werden. Daher ist die weitverbreitete Annahme, die polnische Regierung, hätte das auf Grund der Corona-Krise geltende Protestverbot ausgenutzt, die Gesetzesänderung erneut zu diskutieren, nicht richtig. Wir möchten uns dafür entschuldigen, diese Darstellung über unsere Social Media Kanäle weiter verbreitet zu haben.
Letzte Woche stimmte das Parlament in einer ersten Lesung für den Gesetzesentwurf, verwies ihn aber – abermals begleitet von Protesten – in einer zweiten Lesung erneut zurück in die parlamentarischen Ausschüsse. Der Status Quo wurde also wieder hergestellt.
ProChoice-Aktivist*innen werten dies als Sieg ihrer Proteste:
Alicja Flisak, aktives Mitglied beim Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung Berlin und Sprecherin des Kollektivs Dziewuchy Berlin kommentiert: „Mal wieder sind Zehntausende auf die Straße gegangen und schafften es, ein noch strengeres Abtreibungsgesetz und das Verbot der sexuellen Erziehung in der Schulen zu verhindern. Es ist ein bittersüßes Gefühl, weil das Gesetzt Dank des Widerstands zwar nicht verabschiedet, aber auch nicht abgelehnt wurde.“
Trotz der strengen Ausgangssperre in Polen haben sich viele mutige Bürger*innen entschieden, ihren Protest kundzutun. Spontan wurden neue Protestformen entwickelt: Straßenblockaden mit Autos, Aktionen im öffentlichen Raum, wie Anstellen in Schlangen mit Transpis, oder diverse Protestformen im Internet.
Flisak weiter: „Es war schwierig, im Rahmen der auf Grund der Pandemie erlassenen Versammlungsverbote, große Staßendemos zu organisieren, um unsere Wut, unseren Widerstand, sowie unsere eigenen Forderungen sichtbar zu machen. Doch die Mobilisierungskraft um das Thema ist weiterhin sehr groß.“
Ein Schwangerschaftsabbruch ist ein sicheres Verfahren und wird nur dann riskant, wenn gesetzliche Verbote bestehen. Vor allem in Zeiten einer Pandemie, in der drastische Bewegungseinschränkungen bestehen und viele Menschen Einkommen verlieren, ist ein sicherer Zugang zu legalem und kostengünstigen oder kostenlosen Schwangerschaftsabbruch überlebenswichtig.
Alicja Flisak ergänzt: „Es ist ein Skandal, dass das Parlament den Gesetzesentwurf nicht sofort ablehnte, sondern daran weiterarbeiten will. Vor allem in Anbetracht dessen, dass die Statistiken ganz klar zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung für eine Legalisierung von Abtreibung ist.“
Dziewuchy hat daher eine Forderung nach einer Legalisierung einer medikamentösen Abtreibung zu Hause nach Empfehlung der WHO gestellt. Diese Lösung wurde vor kurzem in Großbritannien eingeführt, damit ungewollt Schwangere beide Sätze von Abtreibungspillen nach Hause erhalten können. Diese Vorgehensweise ist derzeit eine gesetzliche Grauzone in Polen. Flisak: „Wir fordern zudem auch die Wiedereinführung einer zuverlässigen, gut aufbereiteten Sexualerziehung in der Schule, ohne religiös-fanatische Indoktrinierung und LGBTIQ-Feindlichkeit.“
Unsere polnischen Mitstreiter*innen sind weiterhin auf internationale Unterstützung angewiesen. Die mediale Aufmerksamkeit macht den Gesetzentwurf für die polnische Regierung politisch unattraktiv, doch das Thema ist noch lange nicht vom Tisch.
Ines Scheibe, Sprecherin des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung in Berlin: „Wir werden weiter auf diese Situation aufmerksam machen und die Protestbewegung in Polen und auf europäischer Ebene kraftvoll unterstützen!“
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Alicja Flisak vom Presseteam des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung und vom Kollektiv Dziewuchy Berlin erreichen Sie unter:
0176 – 34 48 12 00 | presse@sexuelle-selbstbestimmung.de | Facebook | Twitter @prochoice_de https://www.sexuelle-selbstbestimmung.de/presse/
DAS BÜNDNIS FÜR SEXUELLE SELBSTBESTIMMUNG
Das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ ist ein breites Bündnis aus Beratungsstellen, verschiedener feministischer und allgemeinpolitischer Gruppen, Verbänden, Gewerkschaften und Parteien sowie Einzelper- sonen. Gegründet wurde es 2012 in Berlin und organisiert seither Proteste gegen den dort jährlich stattfind- enden, bundesweiten “Marsch für das Leben”.
Seit 2018 haben sich einige weitere Pro-Choice Bündnisse im Bundesgebiet gegründet, weitere Bündnis- gründungen sind auch für 2020 angekündigt.