„Die zunehmenden Spannungen, der Ausbau der militärischen Infrastruktur der Nato in Richtung Osten, das beispiellose Ausmaß an Übungen an den russischen Grenzen, das unermessliche Aufpumpen von Verteidigungsbudgets – all dies führt zu einer Unberechenbarkeit.“ Im Kern werde „die Struktur der Konfrontation des Kalten Krieges wiederbelebt“. Lawrow beklagte, es finde „eine Barbarisierung der internationalen Beziehungen statt, die das Lebensumfeld der Menschen belastet“. Russlands Außenminister auf der Münchner Sicherheitskonferenz [1]
Zwei Anläufe des deutschen Imperialismus, sich des „Lebensraums im Osten“ zu bemächtigen, sind in menschheitsgeschichtlichen Katastrophen gescheitert. Das hindert die Protagonisten des Weltgeltungsentwurfs „Neue Macht. Neue Verantwortung“ nicht daran, einen dritten Ansturm gen Osten ins militaristische Auge zu fassen, selbst wenn er im atomaren Feuer enden sollte. Wenngleich aus deutscher Sicht klar sein müsste, dass das zentrale Schlachtfeld des nächsten Kriegs gegen Russland Mitteleuropa wäre, dem die totale Verwüstung droht, sehen Regierungspolitik, Konzernmedien und selbst weite Teile der Bevölkerung darin keinen Anlass, den Vormarsch entschieden zu bremsen und einer einvernehmlichen Zusammenarbeit mit Russland bei der Bewältigung allseits wachsender Probleme den Zuschlag zu geben. Die Ratio kapitalistischer Verwertung und imperialistischen Übergriffs drängt unablässig auf Ausplünderung und Ausbeutung zu Lasten anderer Staaten und deren Bevölkerungen. Und je rasanter die weltweiten Ressourcen schwinden und die Klimakatastrophe hereinbricht, um so verbissener diktiert die Vernichtung jeglicher Konkurrenten die Agenda der eigenen Überlebenssicherung.
So treiben 80 Jahre nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg entfesselt hat, USA und NATO unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesrepublik den Aufmarsch in Osteuropa abermals voran. Dass die Regierung in Moskau nach der jahrzehntelang forcierten Einkreisung durch die Osterweiterung des atlantischen Bündnisses und die ökonomische Expansion der EU schließlich auf der Krim und in Syrien die Notbremse gezogen hat und militärische Stärke zur Schau stellt, wird auf Seiten der weit überlegenen westlichen Wirtschaftskraft und Waffengewalt als Aggression dämonisiert, gegen die man sich rüsten und verteidigen müsse.
Deutschland ist die logistische Drehscheibe des Großmanövers „Defender 2020„, in dessen Rahmen die US-Armee die massive Verlegung weiterer Truppenteile an die NATO-Ostgrenze einem Praxistest unterzieht. Bei der umfangreichsten Übung dieser Art in Europa seit 25 Jahren werden US-Truppen mit Unterstützung der Bundeswehr durch Deutschland nach Polen und weiter ins Baltikum geführt. Die NATO gibt mit 1 Billion Dollar mehr als 15mal so viel für militärische Zwecke wie Russland aus und verfügt über 3,26 Millionen Soldaten, davon 1,9 Millionen in Europa, viermal so viele wie Russland mit insgesamt 800.000. Obgleich Russland angesichts dieses Kräfteverhältnisses keine Bedrohung für die NATO darstellen sollte, üben deren Mitglieder seit 2014 verstärkt Krieg an ihrer Ostflanke, wobei „Defender 2020“ das dritte derartige Manöver seit Ende des Kalten Krieges ist.
Vor 25 Jahren wurden 20.000 US-Soldaten samt Kriegsgerät über den Atlantik nach Europa gebracht, aber höchsten ein Fünftel davon gleichzeitig. Diesmal sind insgesamt 37.000 Soldaten sowie 7000 Nationalgardisten beteiligt, wovon 20.000 aus den USA kommen, während 8000 bereits in Europa stationiert sind. Hinzu kommen weitere 9000 Soldaten aus 16 NATO-Ländern sowie aus Finnland und Georgien, 1750 Soldaten stellt die Bundeswehr, die damit das zweitgrößte Truppenkontingent einbringt. Das Manöver wird von der US-Heereszentrale Europa in Wiesbaden zentral geleitet, während die NATO-Staaten und ihre Kontingente lediglich darin eingebunden sind.
Welche Bedeutung im Kontext der Konfrontation mit Russland dem Ostseeraum zukommt, unterstrich bereits das größte Manöver der NATO seit Ende des Kalten Krieges, das im Oktober/November 2018 in Norwegen stattfand. „Trident Juncture 2018“ übte den sogenannten Bündnisfall in Gestalt eines Angriffs auf einen der 29 Mitgliedstaaten, der daraufhin die Beistandsklausel nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags anruft. Dies verpflichtet die NATO-Partner dazu, militärische Hilfe zu leisten. Getestet wurde die Fähigkeit des Bündnisses, schnell zu reagieren und Truppen aus anderen Teilen Europas und Nordamerika zügig zusammenzuziehen. Die Übung fand zu Land, in der Luft und auf See statt, Übungsgebiet waren Mittel- und Ostnorwegen, umgebende Gebiete im Nordatlantik und in der Ostsee, einschließlich Island und der Luftraum über Finnland und Schweden. Diese beiden skandinavischen Länder gehören nicht der NATO an, waren aber als Partnerstaaten der Militärallianz beteiligt.
„Nein zu Defender 2020“
Am 13. Februar fand in der Werkstatt 3 im Hamburger Stadtteil Ottensen die Vortrags- und Diskussionsveranstaltung „Nein zu Defender 2020“ mit Peter Klemm (AG Frieden bei attac Hamburg) und Dr. Horst Leps (Friedensbewegung Schleswig-Holstein) statt, deren Schwerpunkt die Ostsee als Aufmarschgebiet und möglicher Kriegsschauplatz war. Zunächst ging Klemm einführend auf die weltweiten Kriegszüge des US-Imperialismus wie auch dessen Präsenz in der Bundesrepublik ein. Die USA führen keine Kriege auf ihrem eigenen Territorium, sondern nehmen sich Europa unter Zustimmung der von ihnen abhängigen Regierungen als Schlachtfeld vor. Die in Deutschland stationierten US-Atombomben machen diese Stützpunkte wie auch die Großstädte zwangsläufig zu zentralen Angriffszielen einer Verteidigung Russlands, die auf Atomwaffen setzt. Wenngleich deutsche Politik in gewissem Maße versuche, sich aus der Dominanz Washingtons zu lösen und eigenständige Schritte zu gehen, träten diese doch in die Fußstapfen der USA. Die sogenannte neue Verantwortung führe eine Sicherheit im Munde, die am allerwenigsten jene der Bevölkerung sei.
Der US-Stützpunkt Ramstein ist ein zentrales Drehkreuz für die todbringenden Einsätze amerikanischer Kampfdrohnen unter anderem im Irak, in Afghanistan, dem Jemen, in Syrien, Pakistan und Afrika, die über die Satellitenrelaisstation auf der US-Airbase durchgeführt werden. Die US-Regierung hat mittels Drohnen in Pakistan, im Jemen und in Somalia fast 5000 Menschen außergerichtlich getötet sowie über 13.000 im Afghanistankrieg. Ungezählte Opfer sind im Irak, in Syrien und in Libyen zu beklagen, die große Mehrzahl der Opfer waren Unbeteiligte wie Frauen, Kinder und alte Menschen.
Was die ökonomische Seite der Abhängigkeit betrifft, seien inzwischen alle deutschen DAX-Unternehmen in der Hand von US-Schattenbanken, so der Referent unter Verweis auf Werner Rügemers Buch „Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts“. Demnach sind Blackrock, Capital Group, Vanguard und State Street mit jeweils 30 Milliarden US-Dollar die größten Eigentümer der Rüstungsfirmen, die an der Produktion von Atomwaffen beteiligt sind, wie auch bei den anderen Waffenschmieden präsent. In Deutschland ist Blackrock größter Aktionär bei Rheinmetall, das wiederum mit dem US-Rüstungskonzern Raytheon kooperiert, wo Blackrock ebenfalls größter Eigentümer ist. Blackrock und Co. sprechen nicht davon, dass sie Krieg führen wollen, doch geben sie in Verfolgung ihrer Profitziele inneren und äußeren Konflikten unablässig neue Nahrung.
Die Bundesregierung wird bei diesem völkerrechtswidrigen Treiben von deutschem Boden aus vom Mitwisser und Dulder zum Mittäter, so Klemm. Eine antiimperialistische Politik, die diesen Namen verdient, müsse in die Forderung nach Schließung der US-Militärbasen münden. Alle fremden Truppen, auch englische und französische, müssten das Land verlassen, die US-amerikanischen aus Europa abziehen und die russischen bis zum Ural zurückgezogen werden. Ist das realistisch? Genau wie Fridays for Future und Extinction Rebellion eine konkrete Utopie vorhielten, setze die Utopie der Friedensbewegung eine militärische Entspannung auf die Tagesordnung.
Politisch habe die Entspannungsbewegung der 70er und 80er Jahre mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine im Prinzip beispielhafte Einrichtung hervorgebracht. Leider sei diese keine rein europäische Organisation, da ihr neben allen europäischen mittlerweile auch einige asiatische Länder und die USA sowie Kanada angehörten. Der Name entspricht nicht ihrem Inhalt, da die USA weitgehend diktierten, was dort geschieht. Russland habe die OSZE genutzt, um eine Friedens- und Entspannungspolitik vorzuschlagen. Medwedew regte 2008 einen völkerrechtlichen Gewaltverzichtspakt für das gesamte OSZE-Gebiet an, der die Grundprinzipien der Sicherheit und der zwischenstaatlichen Beziehungen in völkerrechtlich verbindlicher Form bekräftigt. Daran hat der Westen jedoch kein Interesse.
Medwedew sprach nur von Rüstungskontrolle, nicht aber von Abrüstung. Die Schlussakte von Helsinki sah 1975 folgendes vor: Achtung der Gleichheit und Souveränität, Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt, Unverletzlichkeit der Grenzen, Achtung der territorialen Integrität, friedliche Regelung von Streitfällen, Nichteinmischung, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, Entwicklung ihrer Zusammenarbeit gemäß den Zielen und Grundsätzen der UN-Charta. Es handelte sich jedoch um keinen Vertrag, sondern eine Vereinbarung des guten Willens. Gefordert sei daher ein Vertrag, der genau diese Punkte realisiert. Die OSZE müsse eine Gegenbewegung zur Friedensschaffung in Gang zu setzen. Sie könnte und sollte angesichts ihres riesigen geographischen Umfangs und der allumfassenden Herangehensweise an das Thema Sicherheit eine zentrale Rolle bei der Lösung dieser Aufgaben spielen, zitiert Klemm den Verteidigungsminister Russlands Sergei Lawrow.
Eine Entspannungspolitik nach dem Muster der 70er und 80er Jahre greife jedoch nicht mehr. Heute heiße Entspannung vor allem Abzug der US-Truppen aus Europa, Rückzug der russischen Truppen bis zum Ural sowie Schritte der Abrüstung, die ein klarer Beweis für friedliche Absichten auch der Bundesrepublik wären. Bündnispartner im Sinne dieser Forderungen könne Die Linke mit ihrem Antrag „Abzug der US-Truppen aus Deutschland“ sein: Austritt der Bundesrepublik aus der nuklearen Teilhabe, Abzug der US-Atombomben, keine Haushaltsmittel für die Stationierung ausländischer Truppen. Allerdings fehlt die Kündigung des Truppenstatuts. Das Hamburger Forum beschloss 2018 einen Ostermarschaufruf mit der Forderung nach Schließung der US-Basen in Deutschland. Die Initiative „Stopp Ramstein“ fordert die Kündigung des Truppenstatuts.
Bedeutung des Ostseeraums für die Friedensbewegung
„Warum die Friedensbewegung den Ostseeraum in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellen muss“ war Thema des Vortrags von Horst Leps [2] vom Zusammenarbeitsausschuss der Friedensbewegung Schleswig-Holstein. Wie er zu bedenken gab, werde die Gefahr, die aus dem Ostseeraum nicht nur für den Frieden, sondern sogar für das Überleben Europas ausgeht, nicht hinreichend zur Kenntnis genommen. Dabei geht es um jene Region der Ostsee und des im Osten angrenzenden Festlandes, die von Kaliningrad bis St. Petersburg reicht. Die westlichen Staaten rüsten dort seit den NATO-Gipfeln von Wales und Warschau unter Hinweis auf das Verhalten Russlands in der Ukrainekrise massiv auf.
Flottillenadmiral Christian Bock, der Kommandeur der Einsatzflottille 1 (Ostsee) der Deutschen Marine, stellte auf dem „Kiel International Seapower Symposion 2019“ fest, kein Gebiet Europas sei „… so stark militarisiert wie der Ostseeraum, wo sich auf engem Raum NATO und EU sowie Russland gegenüber stehen“. Die Stellung der Deutschen Marine in der Ostsee beschreibt Vizeadmiral Brinkmann, Stellvertreter des Inspekteurs der Marine, in einem Beitrag zur Zeitschrift „MarineForum“: Deutschland komme „… an der Nordflanke eine Drehscheibenfunktion für die Unterstützung unserer Partner im Osten zu. … Das drückt sich in diversen Initiativen aus, für die wir die Federführung bzw. informelle Führerschaft haben.“ Die Ostsee ist als Ort der Konfrontation mit Russland in die großen Zusammenhänge der NATO eingebunden, wobei Deutschland danach strebt, westliche Führungsmacht im Ostseeraum zu werden. Diese Region wird nur noch von zwei großen politischen Gliederungen beherrscht, nämlich NATO- und EU-Staaten einerseits, Russland andererseits, wobei Schweden und Finnland faktisch in den NATO-Verbund integriert sind.
Die westlichen Marinen sehen insbesondere das Gebiet Kaliningrad als Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfreiheit in der Ostsee an. Würde die Seeverbindung in die baltischen Staaten abgeschnitten, wäre eine erfolgreiche Kriegsführung in dieser Region gegen Russland unmöglich. Seit 2014 wird in der Ostsee aufgerüstet, die Anzahl der Manöver und ihre Größe sowohl der westlichen Seite (Baltops, Northern Coasts und Baltic Protector) als auch Russlands (Ocean Shield) wachsen, 2017 war China an einem russischen Manöver beteiligt. Beide Seiten haben strategische Schwachstellen, die miteinander zusammenhängen: Die „Lücke von Suwalki“, der schmale Grenzstreifen zwischen Polen und Litauen, und das abgetrennte Gebiet Kaliningrad. Dort kreuzen sich die Verbindungen der NATO über See und in der Luft zum Baltikum mit den russischen Fluglinien und Schiffsrouten von St. Petersburg nach Kaliningrad.
Die Handlungsmöglichkeiten beider Seiten sind eingeschränkt: Russland verfügt nur über einen schmalen Streifen Ostseeküste, so dass der Zugang zur Ostsee nur von wenigen Stellen aus möglich ist. Zudem hat Moskau zumindest über das Gebiet Kaliningrad im NATO-Russland-Vertrag die Zusage der militärischen Zurückhaltung gemacht. Umgekehrt sind die Handlungsmöglichkeiten der NATO im Osten der Ostsee und im südlich davon gelegenen Mitteleuropa durch den NATO-Russland-Vertrag und den 2+4-Vertrag begrenzt: Keine relevanten Dauerstationierungen im Baltikum und in Polen, keine Stationierungen ausländischer Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, wie Leps ausführte.
Die politisch-militärische Bedeutung der Ostsee hat sich in den letzten Jahren vom Randmeer zum Brennglas gewandelt. Beiderseits ergibt sich damit die Notwendigkeit von maritimer Präsenz, Marinediplomatie und internationaler Kooperation, aber auch von konventioneller Abschreckung und dem Wiedererlangen der High-End-Fähigkeiten auf, über und unter Wasser. Die „Deutsche Marine“ hat das Ziel, die führende Marine aller Ostsee-Anrainer gegen Russland zu werden. Auf deutsche Initiative geht die sogenannte Baltic Commanders Conference zurück, zu der sich die Befehlshaber der Ostseeanrainer mit Ausnahme Russlands, aber unter Einbeziehung Norwegens treffen, um sich wechselseitig über den Sachstand der eigenen Marinen, aber auch relevante Entwicklungen im Ostseeraum auszutauschen. Die Konferenz befasst sich mit der Abstimmung von Übungstätigkeiten, Fragen gemeinsamer Ausbildung, wechselseitiger Unterstützung in Einsätzen, dem Informationsaustausch, der Doktrinentwicklung und sonstigen Sicherheitsfragen.
Die Deutsche Marine hat den Führungsstab DEU MARFOR aufgestellt, einen nationalen Stab mit internationaler Beteiligung, der imstande ist, land- oder auch bordgestützt maritime Operationen für NATO, EU oder UN zu führen. Er ist so ausgelegt, dass er lageabhängig zu einem sogenannten Baltic Maritime Component Command aufwachsen kann. Das Kommando der Einsatzflottille 1 (Ostsee) befindet sich in Kiel, zugeordnet ist das NATO-zertifizierte CENTRE OF EXCELLENCE for Operations in Confined and Shallow Waters (COE CSW), das unter derselben Leitung steht. Die Einsatzflottille 1 ist einer der drei Großverbände der Deutschen Marine. Zu ihr gehören Korvetten, U-Boote, Flottendienstboote und Minenjagdboote sowie das Seebataillon und das Kommando Spezialkräfte der Marine. Zusätzlich besitzt die Flottille Versorgungsschiffe, die Korvetten, Minenjagdbooten und U-Booten eine hohe Seeausdauer ermöglichen. All diese Einheiten sind auf militärische Einsätze in Küstennähe spezialisiert, wobei die deutsche Marine aufgrund der geographischen Lage über große Erfahrungen für solche Operationen in Küstengewässern und sogenannten Randmeeren verfügt. Für flache und enge Seegebiete wie Nord- und Ostsee sind kleine, manövrierfähige Schiffe und Boote erforderlich. Die Deutsche Marine wird nach Angaben von Marineinspekteur Andreas Krause künftig vergrößert werden, die USA reaktivieren die „Zweite Flotte“ u.a. für die Ostsee, Großbritannien ist ebenfalls in der Ostsee aktiv.
Die russische Marine war 2019 mit 79 Schiffen und Booten und 58 Flugzeugen unmittelbar vor der Küste Schleswig-Holsteins aktiv. Wenngleich die russische Ostseeflotte eher als schwach und zurückgeblieben eingeschätzt wird, kommt es im Falle eines Krieges in der Ostsee auf eine Gesamtbetrachtung einschließlich der Luftwaffen und Raketen an. Russland hat die Exklave Kaliningrad massiv ausgebaut und dort eine Vielzahl an unterschiedlichen Waffensystemen zum Bau einer umfassenden A2/AD-Zone (Anti-Access/Area Denial) aufgestellt. Dieser NATO-Begriff beschreibt die Fähigkeit, gegnerischen Kräften den Zugang zu einem Operationsgebiet mit militärischen Mitteln zu versagen oder zumindest zu erschweren. Würde Russland den sogenannten Suwalki-Korridor schließen, wären die baltischen Staaten eine militärische Insel, da größere Seetransporte oder amphibische Landungen größerer Truppenkontingente zur Unterstützung der Ostseeanrainer wegen der weitreichenden russischen Flugkörper nur unter sehr großem Risiko möglich wären, so der Referent.
Inwieweit St. Petersburg, von dem aus im Frieden die Luft- und Seeverbindung über die Ostsee nach Kaliningrad verläuft, durch die NATO in Kampfhandlungen einbezogen würde, bleibt unklar, da dies einer Ausweitung der Kämpfe auf Russland selbst gleichkäme. Unabhängig davon wäre mit einer sofortigen Eskalation der beiderseitigen Einsätze zu rechnen, da die Fähigkeit Russlands, von Kaliningrad aus die Bewegungen westlicher Marinen in der Ostsee und der Landtruppen in Polen und im Baltikum zu stören, von elementarer Bedeutung ist. Umgekehrt würde nur eine schnelle und vollständige Ausschaltung aller militärischen Potentiale des Westens im Ostseeraum das Überleben des russischen Kaliningrads sichern.
Daher droht zunächst ein Krieg der Luftwaffen, ergänzt durch Raketentruppen. Sie hätten in einer ersten Phase die Überlegenheit in der Luft zu erkämpfen und die Kampfmittel des Feindes, seine Kommunikationsmittel und seine Befehlszentralen auszuschalten, um ihm seine wesentlichen Fähigkeiten zu nehmen. Die diversen Marinen der westlichen Ostseeanrainer müssten sich zu Beginn unter der Annahme, dass der Feind aus dem All alles sieht und mit diversen Fluggeräten alles zerstören kann, zurückhalten. In einer zweiten Phase, wenn Kaliningrad ausgeschaltet sein sollte, ginge es darum, die Ostsee in Besitz zu nehmen, d.h. die russische Flotte bei St. Petersburg bewegungsunfähig einzuschließen. Es ginge darum, Minen zu legen, Minen zu räumen, dicht an Land zu kommen, Richtung Land zu schießen, auch Vorstöße in Richtung Land zu machen, alles in der Absicht, damit eine sichere Transportverbindung über See ins Baltikum schaffen.
Deshalb spielt militärisch, politisch und ideologisch die „Lücke von Suwalki“ eine derart zentrale Rolle: Einerseits sind die baltischen Staaten mit dem NATO-Territorium nur über einen schmalen Landstreifen verbunden, andererseits hat das Gebiet von Kaliningrad überhaupt keine Landverbindung zu Russland. Diskutiert wird die Frage, ob und wie diese einzige Landverbindung im Falle eines Krieges mit Russland von der NATO gehalten werden kann. Folgt man Nikolai Sokov, hat die NATO jedoch gar keine Chance, die „Lücke von Suwalki“ offenzuhalten, die in Reichweite russischer Artillerie liegt. Das könnte die NATO nur ändern, indem sie in Nordpolen und den baltischen Staaten entgegen dem NATO-Russland-Vertrag massive Kontingente stationiert oder ein Regime-Change in Weißrussland herbeiführt. Beide Möglichkeiten würden die Spannungen drastisch zuspitzen.
Der Bau von Rollbahnen in Mittel- und Osteuropa sowie einer entsprechenden Verkehrsinfrastruktur in Deutschland, Polen und im Baltikum, der auf die Suwalki-Lücke ausgerichtet ist, ergibt für sich genommen keinen militärischen Sinn, wenn es darum gehen sollte, Suwalki vor Rußland zu erreichen. Angesichts der Entfernungen wäre die NATO nicht in der Lage, ihre Truppen schnell genug dorthin zu verlegen. In den Diskussionen um die „Lücke von Suwalki“ werden die Ostsee und die westlichen Marinen nur am Rande erwähnt. Zwar soll bei der Übung „Defender 2020“ auch das Anlanden von Material in baltischen Häfen geübt werden, doch könnten die Schiffe im Kriegsfall erst in einer zweiten Phase nach der Zerstörung Kaliningrads die Ostsee halbwegs sicher überqueren.
Obgleich die gegenwärtige Situation der östlichen Ostsee und der angrenzenden Gebiete hoch gefährlich einzuschätzen ist, wird die Diskussion von militärischen Planungen, nicht jedoch politischen Erwägungen bestimmt. Überdies entbehrt es jeglicher Kooperation mit den russischen Streitkräften, um gefährliche Situationen von vornherein zu vermeiden. Man könnte einander über Militärflüge und Aktivitäten von Kriegsschiffen informieren, besser wäre indessen eine regionale Sicherheitskooperation, wie sie das NATO-Russland-Abkommen vorsieht. Seltene Vorschläge aus dem politikwissenschaftlichen Raum regen die Schaffung einer Zone an, innerhalb derer beide Seiten deeskalieren müssen. Das könnte beispielsweise eine Ellipse mit den Brennpunkten Kaliningrad und St. Petersburg sein, welche die östliche Ostsee, die baltischen Staaten sowie Teile Russlands und Weißrusslands umfasst. Für dieses Gebiet müssten Regeln geschaffen werden, die das Verhalten von militärischen Flugzeugen und Kriegsschiffen definieren, Höchstgrenzen und Verbote bestimmter Waffensysteme und Arten von Streitkräften festlegen sowie beiderseitige Inspektionen bei allen militärischen Anlagen, Streitkräften und Manövern in diesem Gebiet vorsehen.
In Argumentation und Kampagnen der Friedensbewegung sollte diese Region eine wesentlich stärkere Rolle als bislang spielen, damit der Öffentlichkeit das Konfliktpotential bewusst wird und die Forderung nach Deeskalation breitere Unterstützung bekommt. Es geht um eine Disengagement-Zone in der Ostsee, dem Baltikum und den angrenzenden finnischen, polnischen, deutschen, russischen und weißrussischen Gebieten. Für Heer, Marine und Luftwaffe der Bundeswehr sind damit die Minimalforderungen verbunden, sie in diesem Gebiet nicht weiter zu verstärken, offen zu agieren, ihre Bewegungen der potentiell gegnerischen Seite anzumelden sowie beiderseitig Beobachter in Einrichtungen und bei Manövern zu ermöglichen. Das wäre ein Anfang, worauf Schritte eines Truppenrückzugs auf beiden Seiten in Angriff genommen werden könnten, umriss der Referent seine Vorschläge zur Eindämmung der Kriegsgefahr im Ostseeraum.
Bündnisfrage anders gestellt
Wie beide Referenten hervorhoben, verweigern sich die westlichen Mächte einer Deeskalation und treiben die Aufrüstung unter Einkreisung Russlands voran. Um diesem Kriegskurs etwas entgegenzusetzen, bedürfte es einer starken Bewegung, die spürbaren Druck auf die Regierungspolitik ausübt. Die deutsche Friedensbewegung ist jedoch in die Jahre gekommen, sowohl was ihren Altersdurchschnitt als auch ihre schwindende Zahl betrifft. Sie hat den Anschluss an jene Fragestellungen verpasst, die junge Menschen heute bewegen und massenhaft auf der Straße zum Ausdruck gebracht werden. Deren konkrete Utopie, die Peter Klemm angesprochen hat, ist von einer enormen Dynamik geprägt, die gesellschaftlich Wirkung zeitigen könnte, sofern sie weitere Schritte der Radikalisierung in Angriff nimmt. Sollen der Antikriegsbewegung wieder Flügel wachsen, dürfte es ratsam sein, die Frage des Übertrags auf ihre Tagesordnung zu setzen und sich dort einzufinden, wo die Klimagerechtigkeitsbewegung Zeichen setzt. Die fossilen Ressourcen verschlingende und die Klimakatastrophe anheizende Militärmaschine dürfte ein Einstiegsthema von beiderseitigem Interesse sein, dem vertiefende Diskussionen folgen könnten, die womöglich sogar in gemeinsame Kämpfe münden.
Erstveröffentlichung am 17. Februar 2020 unter dem Titel BERICHT/359: Kriegsspiele – wenn Rußland angreifen würde … (SB) bei unserem Medienpartner Schattenblick.
Fußnoten:
[1] www.tagesspiegel.de/politik/sicherheitskonferenz-in-muenchen-armin-laschet-ruegt-angela-merkel-und-lobt-helmut-kohl/25546700.html
[2] www.leps.de