Eine bahnbrechende Studie legt erstmalig eine umfassende Berechnung für die regionale Umstellung auf ein dezentrales, erneuerbares Energiesystem vor. Was Bundespolitik und Großindustrie anscheinend nicht schaffen, könnte im unterfränkischen Bad Kissingen bald Wirklichkeit werden.
Hammelburg, 06. März 2020 – Der Landkreis Bad Kissingen kann seine Energieversorgung vollständig auf Erneuerbare Energien umstellen und so notwendige Maßnahmen zur Erreichung der Klimaschutzziele umsetzen. Die technische und ökonomische Machbarkeit einer Umstellung der Energiesektoren Strom, Wärme und Mobilität auf dezentrale 100% Erneuerbare Energien ist dabei zu jeder Stunde des Jahres gewährleistet, so eine neue wissenschaftliche Studie der Energy Watch Group (EWG).
Der Landkreis Bad Kissingen wurde als erstes Anwendungsbeispiel Deutschlands für das neue Simulationsmodell des Berliner Think Tanks ausgewählt. Die Ergebnisse stellte EWG-Präsident Hans-Josef Fell gemeinsam mit Landratskandidatin MdB Dr. Manuela Rottmann und Kreisrat Norbert Schmäling am 6. März 2020 in Hammelburg erstmalig vor.
„Um die Bevölkerung als Partner für die Energiewende vor Ort zu gewinnen, ist ein gemeinsames Ziel wichtig: Eine 100 Prozent erneuerbare, sichere und bezahlbare Energieversorgung, die weitgehend im Landkreis selbst erzeugt wird. Dass dies machbar und realistisch ist, zeigt die Studie.“ so Rottmann.
„Mit alltagstauglichem öffentlichem Nahverkehr und einer schnellen energetischen Sanierung unserer Altbauten erreichen wir das Ziel noch schneller. Wenn wir alle zusammenarbeiten, wird die Energiewende vor Ort unser Klima und unser Wohlstand sichern“, ergänzt die unterfränkische Bundestagsabgeordnete.
Klimaschutz bei gleichbleibenden Preisen
Die umfangreiche wissenschaftliche Analyse ist bahnbrechend, denn bisher liegen in Deutschland keine vergleichbar tiefgehenden Berechnungen auf Landkreisebene vor, die die Umstellung auf ein vollständig dezentrales erneuerbares Energiesystem skizzieren. Die Studie zeigt: Haushaltstrompreise müssen nicht steigen, sondern können auf dem heutigen Niveau bei rund 30 Eurocent pro kWh bleiben. Der Mobilitätsbedarf lässt sich sogar günstiger als bisher decken.
„Im Landkreis Bad Kissingen wurde – insbesondere von Landrat Thomas Boldt mit seiner vehementen Ablehnung überregionaler Leitungen wie der SüdLink-Trasse – immer betont, dass der Strom stattdessen in der Region erzeugt werden solle“, erinnert Hans-Josef Fell, Präsident der EWG und ehemaliger Abgeordneter im Deutschen Bundestag für Bad Kissingen. „Jetzt kann und muss der Landkreis neue Regionalpläne anstoßen, zum Beispiel für den Ausbau von Windkraft und Solarenergie, anders wird sein Bekenntnis zur eigenen Stromerzeugung unglaubwürdig bleiben.“ „Einen Ausbau der Erneuerbaren Energien gibt es aktuell im Landkreis außer im Solarsektor so gut wie gar nicht mehr“, so Fell weiter.
Der Ausbau für eine vollständig auf Erneuerbaren Energien beruhende Versorgung erfordert nach den Berechnungen der EWG folgende Infrastruktur im Landkreis Bad Kissingen:
- Bau von 48 Windkraftanlagen (je 5 MW), zusätzlich zu den heute 33 Anlagen mit durchschnittlich 2,5 MW.
- Ausbau von PV-Dachanlagen von heute 58 MW auf zukünftig 200 MW und Ausbau der PV-Freiflächenanlagen von heute 36 MW auf zukünftig 413 MW.
- Ausbau der kleineren Bio-KWK-Anlagen (Bioenergie und grüner Wasserstoff) von heute 3 MW auf zukünftig 81 MW.
- Erhalt der gegenwärtigen Wasserkraftversorgung mit einer installierten Leistung von 1,6 MW und einer Erzeugung von etwa 5,5 MWh.
- Ausbau der Speicherkapazitäten auf 142 MWh Batteriespeicher, 812 MWh Wärmespeicher und 2.898 MWh Wasserstoffspeicher.
- Umstellung der Antriebe im Verkehrssektor (u.a. PKW und ÖPNV) auf elektrische Antriebe.
Regionale Wertschöpfung und Arbeitsplätze anstatt teure Erdöl-Importe
„In unserem ländlich strukturierten Landkreis gibt es genügend Flächen, um diese Infrastruktur aufzubauen“, betont Norbert Schmäling, Mitautor der Studie. „Immerhin bekommen wir dafür Klimaschutz, eine sichere heimische Energieversorgung und vermeiden den Abfluss von Kaufkraft in Höhe von etwa 350 Mio. Euro, die dem Landkreis jährlich für Energieimporte verloren gehen.“ Statt hohe Summen in Erdöl- und Erdgasimporte aus Saudi-Arabien und Russland zu investieren, könnte die regionale Wertschöpfung mit vielen neuen Arbeitsplätzen gestärkt werden, argumentiert Schmäling weiter.
„Die jährlichen Ausgaben im Landkreis für die Energiebereitstellung können so sogar auf unter 200 Mio. Euro deutlich sinken,“ erklärt Dr. Thure Traber, wissenschaftlicher Leiter der Energy Watch Group und federführender Autor der Studie. „Die Simulation ist mit vergleichsweise konservativen Annahmen gerechnet, denn die Kosten für Schlüsseltechnologien wie Solarzellen, Wärmepumpen und Batterien sinken ja kontinuierlich weiter. Zusätzlich ließen sich mit Effizienzmaßnahmen wie der stärkeren Sanierung des Gebäudebestandes sogar weitere Energiekosteneinsparungen erzielen, die aber in der vorliegenden Kalkulation nicht eingerechnet seien.
Vor knapp einem Jahr hatte die Energy Watch Group gemeinsam mit der finnischen LUT University eine umfangreiche Modellierung für eine globale Vollversorgung mit 100% Erneuerbaren Energien veröffentlicht. Das eindrucksvolle Ergebnis dieser Studie habe die Wissenschaftler der EWG zu der Entwicklung eines eigenständigen Modells ermutigt, das eine solche Umstellung nun auch für einzelne Regionen wie zum Beispiel Landkreise vergleichsweise schnell durchrechnen kann.
Die Regionalstudie der Energy Watch Group ist hier online frei verfügbar.
Über die Energy Watch Group
Die Energy Watch Group (EWG) ist ein unabhängiges, gemeinnütziges, überparteiliches globales Netzwerk von Wissenschaftler*innen und Parlamentarier*innen. Die EWG erstellt Forschungen und veröffentlicht unabhängige Studien und Analysen über die globale Energieentwicklung. Ziel der EWG ist es, der Energiepolitik objektive Informationen zu verschaffen. Weitere Informationen finden Sie hier: www.energywatchgroup.org
(*) Titelbild: Georg Denda, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45394816