Vor einiger Zeit schrieben wir über den Unterschied zwischen der neuen und der alten mentalen Landschaft, wobei wir auch bemerkten, dass die alte Landschaft am Verschwinden ist oder, um es anders auszudrücken, dass das System, so wie wir es kennen, am Zusammenbrechen ist. (Pressenza 29.12.)
In Chile ist dieser Prozess offenbar weiter fortgeschritten als in anderen Ländern, die neue Landschaft bildet sich also dort gerade deutlich heraus.
Viele jedoch befürchten, dass das eine sehr schwere Aufgabe wird, da die alten Machthaber nicht so einfach aufgeben werden.
Sie haben das Geld, die Institutionen, die Armee etc. Ja, es scheint schwierig, dies alles bald fallen zu sehen. Blicken wir jedoch auf die jüngere Geschichte zurück, können wir sehen, dass dort, wo die Menschen den Glauben an das System verloren hatten, nichts einen kollektiven Aufstand stoppen konnte – so wie beim Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks. Nur wenige Monate vorher waren sie noch eine dominante Macht gewesen und es war weit außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens, dass dieser Gigant 1989 einfach so verschwinden würde.
Die Gründe für die Feststellung, dass das System in Chile und in anderen Ländern bald kollabieren könnte, liegen auf der Hand. Erstens haben die Menschen den Glauben an das System verloren. Zweitens hat es sich als ineffizient und unfähig erwiesen, dringliche Probleme wie die globalen Bedrohungen durch den Klimawandel zu lösen. Der dritte und wohl wichtigste Punkt ist, dass, wenn sich eine neue Landschaft wie aktuell in Chile entwickelt, eine völlig neue Kraft entsteht, die die Veränderungen vorantreibt, eine Art andere Dimension, die den Prozess der Befreiung unterstützt. (Pressenza 11/12.2019)
Auf der ganzen Welt haben die Menschen das Vertrauen in die Politik, die Justiz und andere Institutionen verloren. Es ist wohl eher schwierig zu regieren, wenn man weiß, das weniger als 10 Prozent der Bevölkerung hinter einem stehen. Nach einer Weile wird diese Zahl noch niedriger werden und diejenigen, die einem noch zur Seite stehen, werden bald zusehen, das Schiff wenn möglich zu verlassen.
Das System wird bald überall zusammenbrechen. Wenn es soweit ist, werden es die meisten Menschen begrüßen.
Es wird jedoch viele Jünger des Mammons geben, deren Krise so existenziell sein wird, als würden sie ihre Religion oder einen starken Glauben verlieren. Doch sie werden das überleben. Schließlich ist es nur ein Glaube – diese Sache mit dem Geld, und es über alles zu stellen. Es ist nur ein Glaube, es ist nicht real und sie werden problemlos ohne damit auskommen.
Mit Blick auf Polizei und Militär, der ersten Front der Verteidiger des Systems, so werden auch diese schließlich aufgeben. Irgendwann werden sie, die Unterdrücker, sich den Protesten anschließen. Denn es wird zunehmend schwieriger werden, weiter Repressalien auszuüben, wenn ihre Mütter, Väter, Brüder und Schwestern ihnen protestierend gegenüberstehen. So werden sie schließlich einfach ihre Ausrüstung ablegen, menschlich werden und sich anschließen.
Es gibt einen weiteren wichtigen und auf der Hand liegenden Grund für den Zusammenbruch des Systems: Seine Unfähigkeit, extrem dringliche Probleme wie den Klimawandel zu lösen. Teil der Lösung dieses Problems wäre es, eine Menge zu ändern und aufzugeben. Und das auf lange Sicht und nicht nur für das nächste halbe Jahr.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, ja nahezu unmöglich, diese dringlichen Probleme innerhalb des Systems zu lösen, denn es beruht auf der alten mentalen Landschaft.
Die junge Generation sieht daher ihre Zukunft eher düster, ja sogar bedrohlich. Deshalb begannen sie auf der ganzen Welt zu protestieren, da sie das Gefühl haben, dass ihr Planet nicht mehr lebenswert sein wird, wenn sie etwas älter geworden sind. Zu Recht merken sie, dass die Vertreter der alten Denkweise sich nicht ernsthaft um die Lösung dieser Probleme bemühen, ganz zu schweigen davon, dass sie oder künftige Generationen ihnen eigentlich egal sind.
Viele Wissenschaftler mahnen, dass wir bestenfalls noch 8-10 Jahre haben, um mit Blick auf die globale Erwärmung umzusteuern. Wir müssen also schnell und drastisch handeln. Wenn nicht, wird der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten sein.
Das bedeutet, dass das System vorher zusammenbrechen muss – in etwa in 3 bis 5 Jahren, denn es braucht Zeit für die drastischen Veränderungen, um unseren Planeten lebenswert zu erhalten.
Die Menschen erkennen auch, dass dieses System, diese alte Landschaft, sehr gefährlich ist.
Es basiert auf Gewalt. Es sieht es weiterhin als „normal“ an, Bomben auf Menschen abzuwerfen. Oder eine Waffenindustrie zu haben, und das nicht nur in den USA und Russland, sondern sogar in friedlichen Ländern wie Schweden. Kriege bringen der Waffenindustrie ein gutes Geschäft…
Die größte Bedrohung sind jedoch natürlich all die Nuklearwaffen überall auf der Welt.
Die Gründe für den baldigen Zusammenbruch des Systems sind sehr naheliegend, könnten aber nicht ausreichen. Zum Teil deshalb, weil die Machthaber nicht aufgeben wollen. Und weil die Menschen möglicherweise nicht die Ausdauer haben, nicht nachzulassen, bis es kollabiert.
Die alte Landschaft ist am Verschwinden und diejenigen, die das System kontrollieren, werden verlieren, weil sie gegen eine unzerstörbare Kraft kämpfen. Der Grund für den positiven Prozess in Chile ist diese unbezwingbare Kraft, die vor einigen Monaten entstand, und die noch immer da ist.
Es scheint, dass diese „andere Dimension“ etwas zutiefst Menschliches ist, sehr stark und doch sanft. Wir alle haben irgendwann diese Erfahrung gemacht – als wir plötzlich spürten, Teil von etwas, von allem zu sein.
Wenn viele Menschen diese Dimension spüren, fühlen sie sich getragen, ja unbesiegbar. Auch müssen sie auf Gewalt nicht mit Gewalt antworten, denn da ist eine Kraft, die viel stärker ist und die sie mit absolutem Willen weitergehen lässt.
Es scheint, dass das Potential dieses tiefgreifenden Wandels, dieser neuen Landschaft an der Schwelle eines jeden Landes steht. Anfangs protestieren die Menschen gegen etwas Konkretes oder weil sie etwas Konkretes erreichen möchten, doch ist dieser Wandel wohl nicht nur zur Lösung unmittelbar akuter Probleme im Gange.
Probleme der sozialen Ungerechtigkeit, wirtschaftlicher Ungleichheit, der Umwelt oder des Bestrebens, Massenvernichtungswaffen abzuschaffen.
Diese Wandel hat wohl mehr mit etwas viel Größerem zu tun, damit, dass die Menschheit in eine andere Ebene eintritt. Oder um es anders auszudrücken – wir haben es hier mit etwas Essentiellem zu tun, das dem menschlichen Prozess innewohnt.
Es existierte von Anbeginn und tritt nun hervor, indem es Möglichkeiten eröffnet, auf eine andere Bewusstseinsebene zu gelangen. Ist dies der Fall, dann gibt es kein Zurück mehr und jeder Widerstand wäre Zeit- und Energieverschwendung.
Man fragt sich, ob sich diese Kraft, diese andere Dimension bereits zuvor manifestiert hat. Dies ist ohne Zweifel der Fall, doch sie war immer gewaltfrei. Wann immer in der Geschichte einige behaupteten, dass Gott oder Allah oder die Geister bei ihnen seien, während sie andere niedergemetzelt haben, dann war das keine Manifestation dieser anderen Dimension. Im Gegenteil war es der Ausdruck eines sehr niedrigen Niveaus, das in jedem menschlichen Wesen möglich ist, jedoch nichts mit dem evolutionären Schritt zu tun hat, nichts mit dieser anderen Dimension.
Hingegen war womöglich der anfängliche Kampf um die Unabhängigkeit Indiens, als Gandhi sein Volk anführte und die Briten gewaltfrei vertrieb, eine Manifestation dieser anderen Dimension.
Die Gewalt, die sich unmittelbar nach Erlangen der Unabhängigkeit während des Bürgerkrieges ereignete, kann überall passieren, wenn es kein Bewusstsein dafür gibt, was sich hinter diesem Prozess der Befreiung verbirgt – das Wissen, woher er kommt und wohin er führt.
Im Verlauf der Geschichte gab es viele Versuche, eine andere Welt zu erschaffen. Entlang des zurückgelegten Weges der menschlichen Evolution gibt es dafür extrem positive Beispiele. Jedoch scheint es, dass sich keine dieser Errungenschaften tatsächlich in das verwandelt hat, was die andere Dimension „will“ oder beabsichtigt, also eine wahrhaft menschliche Welt – eine Welt, in der es uns am wichtigsten ist, erweckt zu sein und uns als festen Teil der Menschheit zu begreifen. Und ja, ohne Furcht vor dem letzten Schritt in der Lage zu sein, zu sehen und sich dessen sicher zu sein, dass es weitergeht, ja unsterblich zu sein.
Wenn Menschen, die sich mitten in einer neuen Landschaft befinden, sich diese neue Dimension zu eigen machen, werden sie unbesiegbar. Tun sie dies nicht, nun dann wird das System weiterbestehen. Die alte Landschaft wird entweder durch die neue ersetzt oder sie bleibt bestehen. Wenn es kein Einfühlen in diese andere Dimension gibt, werden die positiven Effekte leider nicht lange anhalten.
Anders gesagt wird das System nicht automatisch kollabieren. Die andere Dimension allein kann nicht garantieren, dass es zerfällt. Wir müssen uns vielmehr damit in Einklang bringen und auch an unseren Ängsten arbeiten. Dann kann diese positive Kraft der Veränderung nichts mehr aufhalten.
Man könnte sich nun zu Recht fragen, was getan werden kann, damit das System überall zerfällt.
Damit diese Veränderung schnell herbeigeführt werden kann, muss es in jedem Land, in jeder Region, jeder Stadt in den nächsten Jahren eine große Anzahl von Menschen geben, denen die Bedeutung des Einklangs mit der anderen Dimension bewusst ist. Menschen, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit der anderen Dimension an andere weitergeben. Und ja, dann werden die Menschen überall unbezwingbar und das System zerfällt gewaltfrei wie damals in der Sowjetunion und den anderen Ostblockstaaten.
Würden wir etwas tiefer gehen und fragen, was genau die andere Dimension „will“, wäre der beste Weg, genau diese Frage zu stellen und auf eine Antwort zu warten. Vielleicht hat die Antwort damit zu tun, dass es an der Zeit ist, dass die Menschheit beginnt, wirklich zu funktionieren und all die Leiden und Unsinnigkeiten zu beenden. Vielleicht möchte sie, dass wir sind, was wir sein können, indem wir alle Barrieren abbauen un die Größe spüren, die in jedem Einzelnen und in unserer Gesamtheit steckt, als eine Einheit, als Menschheit.
Es ist fast unvorstellbar was geschehen würde, wenn alles Leid verschwinden würde. Das wäre der Fall, wenn wir alle unsere Angst vor der Vergänglichkeit und die Angst vor dem Tod verlieren würden, indem wir verstehen, dass Leiden nur ein Indikator dafür ist, dass wir den Weg in die Zukunft verschlossen haben. Wir werden aufhören zu leiden, wenn wir die Zukunft ganz öffnen.
Wir können uns also auf eine schöne Zukunft freuen. Diese Zukunft wird kommen, weil die alte Landschaft dieser Vision nicht im Wege stehen wird, denn sie wird bald zerfallen.
Von Petur Gudjonsson
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Silvia Sander vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!