Der Bio- und Umweltwissenschafter Gerhard Hertenberger ruft die MandatarInnen des Grünen Bundeskongresses auf, gegen das türkis-grüne Regierungsprogramm zu stimmen, da es ein Verrat an den grünen Umweltzielen ist.
Dieser Artikel wurde auf www.solidarwerkstatt.at veröffentlicht.
Sehr geehrte grüne Mandatare/innen!
Ich bin Bio- und Umweltwissenschaftler (und freier Autor) und habe gemeinsam mit dem grünen Wiener Verkehrssprecher Rüdiger Maresch im Jahr 2002 die Kampagne gegen das riesige, milliardenteure Autobahnnetzwerk im Osten Österreichs (gegen die „Lobauautobahn“, später zusätzlich „Marchfeldautobahn“, „Spange Seestadt“ etc.) mitbegründet. Jahrelang war ich, in meiner Kompetenz als Umweltexperte, Sprecher der überparteilichen BI „Rettet die Lobau“, die gemeinsam mit anderen Initiativen bis heute aktiv gegen diese Projekte kämpft.
Das aktuelle, heute veröffentlichte Regierungsprogramm, downloadbar unter
https://we.tl/t-6wT4PWmuKG
oder
https://www.gruene.at/themen/demokratie-verfassung/regierungsuebereinkommen-tuerkis-gruen/regierungsuebereinkommen.pdf
ist im Bereich „Verkehr“ ein Betrug an grünen Grundwerten, eine Augenauswischerei und ein Fusstritt gegen die grüne Basis, und ich empfehle den Teilnehmern am a.o. 42. Bundeskongress der Grünen in Salzburg, diese überhastete Überrumpelung der grünen Basis zurück zu weisen, das Abkommen in der vorliegenden Form ABZULEHNEN und eine verlängerte Frist zum genauen Studium des Papiers,
inklusive Nachverhandlungen zu fordern.
Im Osten Österreichs muss die grüne (!) Verkehrsministerin Leonore Gewessler gemäß der Koalitionsvereinbarung die zahlreichen Spatenstiche zum Bau eines riesigen Autobahnnetztes durchführen, eine Milliardenverschwendung, die einem Mehrfachen der Kosten der Eurofighter entspricht.
Die raffinierte Truppe um Sebastian Kurz hat Kogler, Gewessler und die anderen grünen Verhandler in diesem Bereich (und offenbar auch bei anderen Themen) über den Tisch gezogen. Es ist kein Zufall, dass die Delegierten zum Bundeskongress viel zu wenig Zeit haben, um die komplexe Materie dieser 326 Seiten (!) zu lesen und zu diskutieren.
Denn sonst würde auffallen, dass die Wünsche der großen Baukonzerne nach sündteuren Autobahngroßprojekten, nach mehr KFZ-Verkehr, nach mehr Flugverkehr durch eine dritte Piste in Wien-Schwechat, eins zu eins bestehen bleiben – genau wie im Kurz-Strache-Programm. Nur wurden die Projekte im schwarz-blauen Programm wenigstens beim Namen genannt, im jetzigen Programm hingegen werden sie „totgeschwiegen“, obwohl sie weiterhin existieren.
Im NO von Wien, im südlichen Weinviertel, wurde im Dezember 2019 der gesamte ÖBB-Regionalverkehr eingestellt, stattdessen sollen nun Lobauautobahn, Marchfeldautobahn nach Bratislava, usw. den Verkehr von der Schiene auf die Straße ziehen und den KFZ-Verkehr massiv steigern.
Dieses Programm ist ein Verrat an den grünen Grundwerten.
Stattdessen werden im Verkehrskapitel unzählige zwar sinnvolle, aber kostenintensive Ideen im ÖV propagiert, obwohl Kurz gleichzeitig verkündet, Einnahmen (Steuern) massiv zu senken und trotzdem ein Nulldefizit durchsetzen zu wollen. Die grüne Basis sollte sich erstmal erklären lassen, wie dies geht, ohne im Sozialbereich (Mindestsicherung, Arbeitslose, etc.) die Errungenschaften von Jahrzehnten zu demolieren. (Einnahmen durch „Öko-Steuern“ kommen ja erst irgendwann nach 2022, „falls die Arbeitsgruppe zu einem Ergebnis kommt“. – „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ ich einen Arbeitskreis…“)
Die gigantomanischen Großprojekte im Straßenverkehrsbereich werden im Regierungsprogramm einfach verschwiegen, wie der Elefant im Wohnzimmer, über den niemand spricht. Seit der grünen Wiener Regierungsbeteiligung sind die Projekte auch weitgehend von den grünen Webseiten verschwunden. Beim Wiener Regierungsübereinkommen 2015 ließ sich Maria Vassilakou vom Koalitionspartner sogar zur Formulierung der „Notwendigkeit einer sechsten Donauquerung“ (Lobauautobahn) zwingen, im Grunde ein Verrat an damals schon zehn Jahre langer Arbeit von Umweltschützern, Biologen, Verkehrsexperten, Bürgerinitiativen und der grünen Basis.
Im k. u. k. (Kurz und Kogler) Regierungsprogramm wird im Abschnitt „Verkehr“ all jenes sehr detailliert aufgezählt, was der Bauwirtschaft lukrative Aufträge bringt und daher Kurz gefällt (Lärmschutzwände, Wasserstoffeisenbahn, Verkehrsdigitalisierung, selbstfahrende Autos, intelligente Straßenlaternen, die sich nur bei Auftauchen von Menschen und KFZ einschalten, etc.)
Die riesigen milliardenschweren Kosten der ASFINAG-Aufträge an die Bauwirtschaft für die Autobahnlobby im NO von Österreich werden NIRGENDS thematisiert, so als ob die gigantischen ASFINAG-Kredite über 30 oder 40 Jahre von einer Privatfirma bedient würden – nein, vielmehr sind es wir selbst und unsere Nachkommen, die ein Vielfaches der Summe (Zinsen werden wieder steigen!!!) zurückzahlen müssen, es geht um zweistellige Milliardenbeträge. Und die Raumordnung im NO von Österreich wird zerstört, der Verkehr auf die Straße verlagert, der KFZ-Verkehr steigt gewaltig, und Kurz und Kogler können sich den Begriff „Klimaschutz“, den sie dauernd im Mund führen und in jedem zweiten Satz hinausflöten, endgültig in die Haare schmieren, wenn der Transit zwischen Baltikum und Adria über die Lobauautobahn donnert, Pendlerstaus im Lobautunnel stecken oder verbrennen und auf der dritten Piste in Schwechat alle paar Minuten Flugzeuge dröhnen.
Im schwarz-blauen Regierungsprogramm Kurz-Strache 2017 wurde wenigstens noch ehrlich und klar gesagt, was Kurz und die Baulobby unbedingt wollen: die dritte Flughafenpiste in Schwechat (S. 151), ein kräftiger Ausbau von Autobahnen (S. 149), und drastisch verkürzte Bewilligungsverfahren von Großprojekten mit weniger Beteiligung von Bürgern und unabhängigen Experten (S. 156).
Im aktuellen k. u. k. Regierungsprogramm von 2020 jedoch werden diese Themen de facto totgeschwiegen (Genehmigungsverfahren und deren „raschere Durchführung“ werden kurz auf S. 148 erwähnt).
Wer für das „Regierungsprogramm 2020“ ist, ist für das Atomkraftwerk Zwentendorf und für ein Kraftwerk in der Stopfenreuther Au!
Man könnte nun argumentieren, dass sowohl die dritte Piste, als auch das riesige Autobahnnetzwerk bereits großteils behördlich bewilligt wurde und die Politik damit nichts mehr zu tun habe.
Wer so argumentiert, argumentiert auch für ein Atomkraftwerk Zwentendorf und für eine Verbetonierung des Nationalparks in Stopfenreuth durch ein Großkraftwerk.
Denn das Kraftwerk Hainburg war behördlich bewilligt (u.a. durch den berühmten Landesrat Brezovski), und Zwentendorf war nicht nur bewilligt, sondern sogar schon fertig gebaut. Die Argumentation, als Vizekanzler Kogler und Ministerin Gewessler mische ich mich da nicht mehr ein, gilt nicht. Es ist verlogen, gegen AKWs zu demonstrieren und die Au zu besetzen, aber dann, wenn die einstigen Umweltschützer in einer Regierung sitzen, plötzlich mit den Baukonzernen zu packeln und aus Angst vor dem Koalitionspartner („man muss halt Kompromisse machen“) die allerwichtigsten Grundwerte und die ökologische Zukunft der Menschen in Österreich zu verraten.
Wenn die Ex-Global-2000-Geschäftsführerin Leonore Gewessler den Spatenstich zur 3. Piste in Schwechat (zwecks Steigerung des Flugverkehrs), den Spatenstich zur Lobauautobahn (zwecks Steigerung des LKW- und PKW-Verkehrs in Wien) und den Spatenstich zur Machfeldautobahn (zwecks Ausrottung des Triels und der Verlagerung des Verkehrs von der Schiene auf die Straße) durchführen wird (und vielleicht auch den Spatenstich zur von der NÖ-ÖVP geforderten Waldviertel-Autobahn, wo sich dann ebenfalls Pendlerkolonnen nach Wien wälzen werden), dann ist das so, wie wenn eine Bundessprecherin der Grünen zu Novomatic gehen würde.
Erst wenn die Umweltschützer vor dem grünen Ministerium von Gewessler Demos und Mahnwachen abhalten werden, wird Kogler und Gewessler klar werden, dass auch noch so viele teure, steuergeld-bezahlte Werbeagentur-Kampagnen in den Tageszeitungen nicht mehr retten können, was an Vertrauen zerstört wurde. Auch wenn noch so oft vom „Klimawandel“ geflötet wird, und „erfrischende Nebeltropfenduschen“ in der Stadt versprochen werden. Die gigantischen Emissionen, die durch die genannten umweltschädlichen Großverkehrsprojekte verursacht werden, werden durch Begegnungszonen und Sprühnebel-Kühlungsduschen nicht neutralisiert.
Was sagen die Grünen selber dazu?
Ich habe Mitte November sowohl Leonore Gewessler, als auch die als Wiener Vizebürgermeisterin stark in die Thematik eingebundene Birgit Hebein in einem Schreiben auf die Gefahr hingewiesen, in genau diesen Themen von Kurz über den Tisch gezogen zu werden.
Genützt hat es offenbar wenig. Als Antwort erhielt ich ein freundliches, aber etwas schwammiges Schreiben, das anfangs eigenartigerweise von Radabstellmöglichkeiten, autobefreiten Schulumfeldern und der Mariahilfer Straße schwärmt, was für die Autobahn-Großprojekte nur bedingt relevant ist. Anschließend heißt es, die Grünen würden Lobauautobahn, Marchfeldautobahn und Waldviertel-Autobahn zweifellos ablehnen. Allerdings sei bei Projekten, bei denen die Verfahren abgeschlossen sind, ein Aufhalten nur im Konsens einer Mehrheit möglich, und dies wolle hart errungen sein. Man sei sich der Bedeutung des Themas bewusst, es werde von grüner Seite mit aller Kraft gestritten und gekämpft, weil den Grünen ihre Wurzeln sehr bewusst seien.
Aha, ich staune. Nur im Konsens einer Mehrheit sei ein Stopp der Projekte möglich? Wer alt genug ist, erinnere sich: Bei Zwentendorf war das Kabinett Kreisky III an der Macht, das zwar einen Konsens hatte, aber nämlich jenen, das Atomkraftwerk in Betrieb zu nehmen. Und beim Kraftwerksprojekt in der Stopfenreuther Au bestand der Konsens der Koalition Sinowatz-Steger ebenfalls darin, die wundervolle Naturlandschaft zu zerstören. Gewessler und Hebein resignieren nun also vor der Tatsache, dass die Beamtenschaft und der „große Bruder Sebastian“ mehr Autobahnen, mehr Verkehr, eine dritte Piste und mehr Flugverkehr will? Hauptsache wir schwärmen öffentlich plakativ von Greta Thunberg? Hätten wir also Hainburg doch bauen und das Naturjuwel zerstören sollen, weil es ja bewilligt war? Landesrat Brezovski hatte damals ja als Beamter auch grünes Licht gegeben…
Wenn der grüne Bundeskongress dieses unökologische Koalitionsabkommen hastig mit ausgeschaltenem Umweltgewissen bedenkenlos absegnet, dann bedeutet dies die Selbst-Abschaffung der Grünen. Dann bleibt nur mehr ein grünes Abziehbild einer ehemaligen ökologischen Kraft, die sich als Steigbügelhalter an Sebastian Kurz verkauft hat.
Deshalb empfehle ich dem grünen Bundeskongress:
ABLEHNUNG DES KOALITIONSABKOMMENS !!!
Bedenkzeit für ein genaues Studium der Details!
Nachverhandeln der grauslichsten Fehler im Abkommen!
Dr. Gerhard Hertenberger
2. Januar 2020
www.solidarwerkstatt.at