Guten Morgen Santiago, guten Morgen Plaza de la Dignidad (Platz der Würde).
Es ist Samstag, neun Uhr morgens des nächsten Tages. Der Tag nach dem hundertsten Tag des Volksaufstandes. Ja, es dämmert am 101ten Tag der Proteste. Vor genau 101 Tagen marschierten die Bewohner Santiagos durch diese Straßen, die jetzt komplett zerstört sind. 101 Tage, gezeichnet von Opfern, Entführungen, politischen Gefangenen, von Auseinandersetzungen und Tränengas, geprägt von tiefer Menschlichkeit, von Jugendlichen, Kindern, Geschwistern, Freiwilligen, die ihr Leben verloren, ihr Haus, ihr Augenlicht, aber dennoch nicht das Wichtigste: ihre Würde.
Es ist der nächste Tag hier in Santiago de Chile. Wie jeden Freitag … begann gestern Nachmittag die große Demonstration, mit Tänzen, Musik und Hymnen, die dem Himmel zugerufen wurden. Und dann endete sie, in den letzten Stunden der Nacht, ohne dass die Auseinandersetzungen, Frontlinien und die gewalttätigen Unterdrückungen der chilenischen Karabineros ausblieben – auch diesmal nicht.
Aber was geschieht am Tag danach? Was geschieht am 101ten Tag, wenn die Chilen*innen ihre Köpfe wieder erheben?
Die Sonne steht schon hoch und trifft die halbleeren Straßen im Zentrum der Stadt. Doch Santiago scheint langsam zu erwachen. Langsam öffnet die Stadt ihre Augen, und gleichzeitig werden nacheinander die Rollläden der wenigen Geschäfte geöffnet, die noch immer auf der einstigen Plaza Italia öffnen. Nach und nach stellen ein paar Geschäftsleute Lebensmittel und Gasmasken auf den Straßenrand; auf Grund der zerstörten Ampeln leiten zahlreiche freiwillige Helfer*innen den Verkehr. Jemand wartet auf den Bus an einer Haltestelle, die heute weder einen Namen noch eine Nummer hat. Einige Tourist*innen, hingegen, kommen auf dem Platz an, um das klassische Foto zu machen, damit sie es Freund*innen und Familie zu Hause zeigen können.
Zwischen ihnen entdecke ich zwei Italiener und begrüße sie.
Sie kommen aus Sizilien und erzählen mir, wie sie am Abend zuvor etwas später zurückkamen und in Schwierigkeiten gerieten, da ihnen das Geschehen, in welches sie reingeraten waren, nicht bewusst war. „Die Chilenen haben uns geholfen. Sie waren sehr nett und halfen uns, die Straße zu überqueren. Auf der anderen Seite standen die Autos der Polizisten, es war schrecklich. Sie warfen die Wasserwerfer an und das Tränengas, ohne Erbarmen.“
Es ist der nächste Tag. Die Autofahrer*innen, die an der Plaza de la Dignidad vorbeifahren, hören nicht mit dem rhythmischen hupen auf, eine Melodie, die zum Symbol des Aufstandes geworden ist. Es ist Samstag, es ist morgens, es ist der Tag 101, aber sie unterstützen sich noch immer gegenseitig, sogar mit einem banalen Geräusch.
Jetzt ist es zehn Uhr morgens und eine kleine Gruppe Einwohner*innen versammelt sich langsam unter der Statue der Plaza, das Symbol der Revolution, das Pferd der Plaza de la Dignidad. An diesem Morgen, genau hier, wird eine Massenmeditation stattfinden, eine andere Form des Protestes. Ruhiger, intimer und spirituell. Ein Versuch, über die Meditation Kraft und Hoffnung auf diesem Platz und in der Stadt zu verbreiten. Ariel und Valentina sind die Organisatorinnen der gemeinsamen Meditation. Sie umarmen und heißen all jene willkommen, die wissen wollen, worum es hier geht.
Das Event beginnt.
Jede*r Teilnehmer*in setzt sich auf seine eigene Decke. Mit verschränkten Beinen lauschen sie den Worten von Ariel und Valentina. Das Ziel der Meditation ist ein stiller Protest, der in jedem von uns schlummert und entsteht. Ariel hebt hervor, dass in mitten all der Zerstörung die einzig verschont gebliebenen Strukturen die Holzstatuen der Indígenas sind, aufgebaut im Zentrum der Plaza. „Sie verbinden uns mit unseren Wurzeln, mit unserem Land. Und die Tatsache, dass niemand sie angefasst hat, symbolisiert den tiefen Respekt, den wir voreinander und vor unserer Würde haben.“
Durch die Meditation findet jede*r die Kraft, um all die Energie für den eigenen Wille zu sammeln, um diesen mit einer Gruppe, einem Platz oder einer ganzen Stadt zu teilen. Jeder individuelle Wunsch verwandelt sich in einen gemeinschaftlichen und setzt Energie, Liebe und Optimismus frei. Danach reichen sich die Einwohner*innen von Santiago nacheinander ein Mikrofon und rufen laut die tiefsten ihrer Wünsche in die Welt hinaus. Ein Schrei nach dem anderen, ein Wille nach dem nächsten, Energie für Energie. Santiago wacht endlich auf, stärker, wahrhaftiger, geeinter als je zuvor. Das ist das, was am 101ten Tag des Volksaufstandes geschah.
Artikel und Fotos von Helodie Fazzalari und aus dem Spanischen übersetzt von Wiebke Scheffer vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!