Scharfe Kritik von Menschenrechtsorganisationen begleitet den heutigen Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Türkei. Berlin scheint bereit, seine Kooperation mit Ankara noch auszubauen, obwohl die türkische Regierung wegen ihres Besatzungskrieges in Syrien wie auch wegen ihrer brutalen Repression gegen die Opposition und den kurdischsprachigen Bevölkerungsteil international angeprangert wird.

Ursache für die deutsche Kooperationsbereitschaft ist zum einen, dass der EU-Flüchtlingspakt mit Ankara bewahrt werden soll; die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Griechenland reisen konnten, ist im vergangenen Jahr erheblich gestiegen. Zum anderen benötigt Berlin türkische Unterstützung, um seine stolz gepriesene Mittlerrolle im Libyen-Krieg aufrechterhalten zu können; ohne Ankaras Mithilfe steht der Waffenstillstand in Libyen vor dem Ende. Weiter verkompliziert wird die Lage dadurch, dass die Türkei den Konflikt mit Griechenland und vor allem mit Zypern um Erdgas im östlichen Mittelmeer eskaliert. Das EU-Mitglied Zypern verlangt Berlins Hilfe gegen Ankara.

Streit um den Flüchtlingspakt

Der Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Türkei ist, wie in Berlin berichtet wird, ursprünglich bereits Ende 2019 geplant worden. Anlass ist demnach, dass die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Griechenland einreisen, im vergangenen Jahr deutlich gestiegen ist; laut Schätzungen hat sie sich annähernd verdoppelt. Das hat die ohnehin katastrophalen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern auf mehreren griechischen Inseln weiter eskalieren lassen. Auf drei Inseln – Lesbos, Chios und Samos – ist es diese Woche zu Protesten und einem Generalstreik gekommen. Berlin pocht weiterhin auf eine vollständige Realisierung des Flüchtlingspakts mit Ankara aus dem Jahr 2016, der die Türkei verpflichtet, die Ausreise von Flüchtlingen in die EU mit allen Mitteln zu verhindern.[1] Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hingegen hat kurz vor Merkels Besuch in Istanbul die schon mehrfach geäußerte Beschwerde wiederholt, Brüssel halte seinerseits die Bestimmungen des Pakts nicht ein. Tatsächlich bestätigt die EU, von den rund 5,8 Milliarden, die man Ankara versprochen habe, seien lediglich 2,6 Milliarden ausgezahlt worden.[2] Zudem hat die EU die fest zugesagte Erweiterung der Zollunion blockiert und verweigert die Aufhebung der Visumspflicht für Bürger der Türkei. Ankara dringt nun darauf, dass Brüssel sämtliche Zusagen einhält, und droht seinerseits mit der Öffnung seiner Grenzen.

Wendepunkt für die Beziehungen

Die Bundesregierung ist offenbar bereit, der Türkei auch auf bilateraler Ebene weitere Zugeständnisse zu machen. Darauf deutet das heutige Besuchsprogramm der Kanzlerin in Istanbul hin. So wird Merkel nicht nur mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan Gespräche führen. Beide werden gemeinsam den neuen Campus der Türkisch-Deutschen Universität einweihen, die formell am 10. April 2010 gegründet wurde und den Lehrbetrieb im September 2013 aufnahm. Sie solle, erklärte damals die Bundesbildungsministerin, „ein Leuchtturm werden für die wissenschaftlichen, aber auch sonstigen kulturellen Beziehungen unserer Länder“.[3] Darüber hinaus trifft Merkel am heutigen Vormittag mit Vertretern deutscher und türkischer Unternehmen zusammen. Zu dem Treffen äußerte der Präsident des türkischen Unternehmerverbandes TÜSİAD, Simone Kaslowski: „Wir wünschen uns, dass der Türkeibesuch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Bezug auf die bilateralen Beziehungen und die Beziehungen mit der EU ein Wendepunkt wird“. Man hoffe darauf, dass beide Seiten ihre „gegenseitigen Sensibilitäten“ achteten und ein Vertrauensverhältnis entwickelten.[4] Als Test für das deutsch-türkische Verhältnis gilt, ob VW das geplante Werk in Manisa bei İzmir wirklich baut. Die Pläne waren im Herbst wegen des türkischen Militäreinsatzes in Syrien verschoben worden. Die Entscheidung wird frühestens Mitte Februar erwartet.

Eine halbe Million Festnahmen

Der Besuch der Kanzlerin erfolgt ungeachtet des türkischen Besatzungskrieges in Syrien und trotz der brutalen Repression der türkischen Behörden gegen die Opposition und den kurdischsprachigen Bevölkerungsteil. Die Türkei hält ihre Besatzungsherrschaft über weite Teile Nordsyriens aufrecht, obwohl ihr und ihren syrischen Parteigängern schwere Kriegsverbrechen sowie eine Kampagne zur „Türkisierung“ der okkupierten Gebiete vorgeworfen werden.[5] Menschenrechtsorganisationen prangern außerdem die brutale Repression der türkischen Behörden gegen den kurdischsprachigen Bevölkerungsteil sowie gegen Oppositionelle scharf an. Im Juli 2019 wurde bekannt, dass in den drei Jahren seit dem Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 insgesamt 129.000 Staatsbedienstete wegen angeblicher Verbindungen zu den Putschisten entlassen wurden; nur etwas mehr als 3.000 konnten erfolgreich gegen die Maßnahme Widerspruch einlegen. Rund 500.000 Menschen wurden vorläufig festgenommen; 30.000 sind bis heute in Haft. In mehr als 250 Prozessen wurden mehr als 2.000 Angeklagte zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Über 100 Medien und Verlage wurden geschlossen. Zahlreiche Journalisten – laut Angabe von Kritikern bis zu 140 – sind zum Teil ohne Anklage inhaftiert.[6] Auch 59 Deutsche befinden sich in türkischer Haft, viele von ihnen aus offenkundig politischen Gründen.

Erdgaskonflikt im östlichen Mittelmeer

Sieht sich Berlin wegen des Flüchtlingspakts unter Druck, eine gewisse Kooperation mit Ankara aufrechtzuerhalten, so werden die bilateralen Beziehungen durch den neuen Erdgaskonflikt im östlichen Mittelmeer und durch den Libyen-Krieg weiter verkompliziert. Im östlichen Mittelmeer spitzt sich der Konflikt um die dortigen Erdgasvorkommen und um die Pläne Israels, Zyperns und Griechenlands, das Erdgas mit einer Rohrleitung („EastMed-Pipeline“) nach Europa zu führen (german-foreign-policy.com berichtete [7]), immer weiter zu. Erst vor wenigen Tagen hat bereits zum sechsten Mal ein türkisches Schiff die Suche nach Erdgas in Gewässern aufgenommen, die Zypern für sich beansprucht. Während Ankara Nordzypern unterstützt und die Republik Zypern nicht anerkennt, bezeichnet deren Regierung in Nikosia die türkischen Erdgasbohrungen offen als „Piraterie“. Der Präsident der Republik Zypern hat Kanzlerin Merkel gestern telefonisch um Hilfe in den Auseinandersetzungen mit Ankara gebeten.[8] Merkel kann das schlecht ignorieren: Zum einen hat die EU wegen der türkischen Aktivitäten im Erdgaskonflikt bereits Strafmaßnahmen gegen Ankara verhängt; zum anderen schwächte es den Zusammenhalt der EU einmal mehr, sollte ein kleineres EU-Mitglied zu dem Schluss gelangen, es werde von der Hauptmacht der EU gegen Aggressionen eines Nicht-EU-Mitglieds nicht geschützt.

Der Libyen-Krieg

Zugleich ist die Bundesregierung allerdings im Libyen-Krieg in gewissem Maß auf Ankara angewiesen. Sie hat am vergangenen Sonntag mit großem Pomp eine Libyen-Konferenz in der deutschen Hauptstadt abgehalten und sich als erfolgreiche Mittlerin in dem Krieg feiern lassen.[9] Tatsächlich kam bereits die Konferenz nur deshalb zustande, weil Russland und die Türkei vorab einen Waffenstillstand durchgesetzt hatten. Die beiden Länder sind dazu in der Lage, weil sie jeweils verfeindete Kriegsparteien unterstützen und deshalb über erhebliche Druckmittel verfügen (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Berlin selbst verfügt dagegen in Libyen kaum über Einfluss; der dortige Waffenstillstand und damit auch seine Mittlerposition steht und fällt mit dem Zutun Russlands und der Türkei. Bereits jetzt wird der Waffenstillstand ernsthaft verletzt. So sind am Mittwoch auf dem Mitiga International Airport bei Tripolis Berichten zufolge sechs Raketen eingeschlagen, die von der Libyan National Army (LNA) unter Khalifa Haftar abgefeuert worden sein sollen. Die LNA wiederum gibt an, vom Flughafen Mitiga sei eine Drohne aufgestiegen; dies zeige, dass die „Einheitsregierung“ in Tripolis weiterhin militärische Aktivitäten durchführe.[11] Die Drohne stammt vermutlich aus der Türkei, die die „Einheitsregierung“ militärisch unterstützt. Gelingt es der deutschen Kanzlerin nicht, Ankara auf die weitere Wahrung des Waffenstillstands festzulegen, steht die stolz gepriesene Berliner Vermittleraktion vor dem Scheitern. Die Bundesregierung hätte einen weiteren weltpolitischen Fehlschlag erzielt.


[1] S. dazu Der Türsteher der EU.
[2] Gerd Höhler: Besuch in der Türkei: Merkel kommt mit vielen Fragen zu Erdogan. rnd.de 23.01.2020.
[3] S. dazu Ein deutscher Leuchtturm in Istanbul.
[4] Merkel-Besuch in Türkei: Unternehmer hoffen auf bessere Beziehungen. handelsblatt.com 23.01.2020.
[5] S. dazu Die „Türkisierung“ Nordsyriens und Krieg um Nordsyrien (II).
[6] Eine halbe Million Menschen festgenommen. lto.de 16.07.2019.
[7] S. dazu Sanktionen gegen Ankara.
[8] Zypern bittet Merkel um Vermittlung im Gasstreit mit Ankara. handelsblatt.com 23.01.2020.
[9] S. dazu Die Berliner Libyen-Konferenz (II).
[10] S. dazu Der deutsch-russische Schatz.
[11] Alfred Hackensberger: Waffenruhe in Libyen offenbar verletzt. Wie reagiert die Türkei? welt.de 23.01.2020.

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