Wie bringen wir unser Schulsystem auf Vordermann? Das ist eine gute Frage, denn die Bildung von heute definiert die Zukunft von morgen. Der Kinderpsychiater, Autor und Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen Professor Dr. Gunther Moll hat sich dazu Gedanken gemacht und zeigt auf, wie ein „Fair Play“ für alle Beteiligten erfolgreich funktionieren kann.

Grundschule, Fußball und gleiches Gehalt

Das Fundament

Nach der Kindergartenzeit steht für alle Kinder die Schulpflicht an – der Unterricht in einem Schulgebäude mit Lehrer*innen, Schulfächern und Lehrplänen. Dabei muss der Staat – gemäß der völkerrechtlich verbindlichen UN-Kinderrechtskonvention – die Bildung eines jeden Kindes darauf ausrichten, dessen Persönlichkeit, Begabung sowie kognitiven und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen. Also, nicht nur ein bisschen, sondern in einem für jedes Kind größtmöglichem Umfang!

Die Schulzeit beginnt mit dem Besuch der Grundschule. Dies ist die Schule für das Grundlegende – Sprache, Lesen, Schreiben, Rechnen, Denken, Heimat- und Sachkunde. Diese Schule vermittelt die Basis für alle schulischen Fertigkeiten ebenso wie für Mitsprache und Teilhabe. Sie ist wie bei einem Hausbau das Fundament, auf dem alles weitere errichtet werden kann.

Nach der Grundschulzeit muss der Staat aber – auch dies gibt die UN-Kinderrechtskonvention eindeutig vor – die Entwicklung verschiedener Formen der weiterführenden Schulen allgemein bildender und berufsbildender Art fördern und sie allen Kindern verfügbar und zugänglich machen. Das heißt Vielfalt in den Schularten, Schwerpunkten und Ausrichtungen der Schulen.

In allen weiterführenden Schulen hängen die allgemeine Entwicklung, die „Tiefe“ der Bildung sowie die Leistungen der Schüler*innen entscheidend von der Qualität des Unterrichts in den ersten vier Grundschuljahren ab. Denn in dieser Zeit werden nicht nur die Grundlagen für alle Schulfächer gelegt, sondern auch unsere große Fähigkeit, selbständig und erfolgreich lernen zu können, weiter ausgebildet und geformt.

Abstiegsgefahr

In unserem Land sind wir weit davon entfernt, die oben genannten Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention zu erfüllen. So zeigten unter anderem die PISA-Testungen für unsere 15-jährigen Schüler*innen, dass jeder fünfte dieser Jugendlichen nicht richtig lesen und rechnen kann und sogar bei jedem zweiten die Basisfertigkeiten für schulisches Lernen fehlen. Im Fußball würde man bei einer solchen Mannschaft von „Abstiegsgefahr“ sprechen.

Besorgniserregend sind – gerade bei diesem „Tabellenstand“ – der auch im wohlhabenden Bundesland Bayern gravierende Mangel an Lehrkräften sowie die große Zahl an Unterrichtsausfällen an Grundschulen (sowie ebenso an Mittel- und Förderschulen). Um eine kurzfristige Abhilfe zu schaffen, sollen nach den Plänen der bayerischen Staatsregierung nun die Arbeitszeiten der an diesen Schulen schon tätigen Lehrer*innen erhöht werden. Doch hierfür gibt es weitaus bessere Wege …

Fußball

Nehmen wir einmal an, die beiden „gelernten“ Rechtsverteidiger fallen in der entscheidenden Meisterschaftsphase durch Verletzungen längerfristig aus. Keine Fußballmannschaft würde nun diese Position unbesetzt lassen und einfach nur mit 10 Spielern antreten – und diesen noch sagen, „Ihr müsst jetzt eben einfach mehr und schneller laufen“. Nein, alle würden einen „gelernten“ Innenverteidiger oder „gelernten“ defensiven Mittelfeldspieler auf der Außenposition einsetzen.

Abwehrspieler sind heute genau so wertvoll und teuer wie ihre Kollegen im Angriff – und dementsprechend liegen ihre Gehälter wie Ablösesummen in der selben Preisklasse wie die der Offensivspieler. Denn keine Mannschaft kann die Champions League gewinnen, deren Defensive nicht sicher wie eine „Eins“ steht und keine „intelligenten“ Spieleröffnungen „von hinten heraus“ ausführen kann.

Und so wie im Fußball kann es auch in der Schule sein, mit großem Gewinn für unsere Schüler*innen wie ihre Lehrer*innen.

„Hardware = Software“

Im Gegensatz zu einem Computer, bei dem Hardware und Software getrennte Kategorien sind und jede Art von Software, zum Beispiel ein Lese-, Rechen- oder Fremdsprachenprogramm, zu jeder Zeit „hochgeladen“ werden kann, entwickeln sich die neuronalen Netzwerke unseres Gehirns als Grundlage auch aller schulischen Fertigkeiten nach dem Prinzip: „Hardware = Software“.

Es wird also nicht erst ein neuronales Gerüst aufgebaut, in das anschließend Informationen und Programme eingegeben werden können, sondern die neuronalen Netze unseres Gehirns („Hardware“) sind das Betriebssystem wie die einzelnen Programme („Software“) selbst. Lernen und Erwerb neuer Fertigkeiten sind dabei abhängig vom aktuellen Zustand der neuronalen Netze und verändern diese gleichzeitig durch Ausbildung neuer Synapsen und neuronaler Verschaltungen weiter.

Deshalb verstehen wir eine Sache immer besser beziehungsweise erlernen Neues immer leichter, je mehr wir davon schon können oder wissen. Leicht nachvollziehbar ist dies für das Erlernen von Sprachen. So kann eine Fremdsprache im Kindergarten- und Grundschulalter viel einfacher und besser als erst im späteren Alter, oder gar erst als Erwachsener, erlernt werden. Noch leichter geht es, wenn Kinder zweisprachig aufwachsen und schon im Grundschulalter mit der dritten Sprache begonnen wird …

Bilinguale Grundschule und „taktischer Wechsel“

Die Beherrschung der Muttersprache wie das Erlernen von Fremdsprachen sind wesentliche Bildungsziele. Denn mit der Sprache wird das Denken, Diskutieren und Urteilen ermöglicht, und je besser die sprachlichen Fertigkeiten sind, umso komplexer wie freier sind diese im Leben einsetzbar. Zusätzlich steht mit dem Erlernen von Fremdsprachen eine „neue Welt“ zur Verfügung, sowohl im Privaten wie auch im Beruf.

Da genügend Lehrkräfte für Realschulen und Gymnasien ausgebildet, aber ein Teil von ihnen gar nicht an Schulen tätig ist, ist eine strategische – oder in der Fußballsprache taktische – Änderung nötig: Der Staat stellt diese Lehrkräfte ein, ihre Einsatzbereiche sind aber – als zusätzliche neue Lehrkräfte – die Grundschulen (sowie auch Mittel- und Förderschulen). Dies ist sofort und ohne Einschränkung für Fachlehrer*innen in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch sowie Sport, Kunst und Musik möglich. Mit den letzteren drei Fächern kann zudem der viele Schüler*innen treffende – und ihre Gesundheit schädigende – Mangel an Bewegung wie an künstlerischer Beschäftigung und kultureller Bildung aufgehoben werden.

Nach der Einstellung geht es – wie im Fußball – um die Mannschaftsstärke sowie Ausstattung von Stadion und Trainingsgelände, um das Gehalt der Spieler sowie die Nachwuchsarbeit …

Gleicher Wert heißt gleiche Bezahlung

Alle Schüler*innen und ebenso alle Lehrer*innen sind gleich wichtig wie gleich viel wert. Denn es gibt grundsätzlich – und spätestens seit der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen – keine weniger wertvollen Kinder und Jugendlichen. Keine! Noch gibt es für eine vielfältige Gesellschaft und leistungsfähige Wirtschaft – von Verwaltung, Handwerk, Dienstleistung, Landwirtschaft, Sozialem wie Gesundheit bis zur Industrie – keine mehr oder weniger wichtige Schulform. Keine!

Dies bedeutet erstens eine bestmögliche personelle und finanzielle Ausstattung aller Schularten wie Schulgebäude für alle Schüler*innen von Schulbeginn bis zum entsprechenden Schulabschluss.

Dies bedeutet zweitens eine gleiche Bezahlung für alle Lehrkräfte, sowohl in den Grund- und Förderschulen wie in allen weiterführenden Schulen (auf dem Niveau der Gymnasiallehrkräfte).

Dies bedeutet drittens, alle Lehramtsanwärter*innen an allen Schularten unterrichten zu lassen, also eine „Durchlässigkeit“ zwischen den Studiengängen nicht nur während des Studiums, sondern auch in der Berufstätigkeit.

Die Finanzierung

Wer behauptet, diese Maßnahmen würden nicht finanzierbar sein, sagt ganz einfach die Unwahrheit – und verschweigt, dass er die jetzige Situation des Schulsystems gar nicht ändern und / oder die finanziellen Mittel für andere Bereiche einsetzen will.

Durch eine Bundesfinanzierung könnte der Personalschlüssel in allen Schularten (ebenso wie in Kinderkrippen und Kindergärten) sogar verdoppelt und die Gehälter deutlich erhöht werden sowie keine einzige Schule mehr reparatur- oder sanierungsbedürftig sein. Und finanziell ist dies ja offensichtlich machbar, wenn 2019 die Bundesregierung angeboten hat, den Bundesländern 5 Milliarden Euro Zuschuss für den Ausbau der Digitalisierung der Schulen zur Verfügung zu stellen. Aber warum nur für die Digitalisierung? Also fehlt es nicht am Geld, sondern am politischen Willen.

Darüber hinaus würden neue Finanzierungen für schulische Maßnahmen sogar zu einem Wachstum der Wirtschaft führen, so durch eine Steigerung der Binnenkonjunktur durch höhere Gehälter und damit Ausgaben von Lehrer*innen (beziehungsweise ebenso Erzieher*innen) sowie Aufträge für die Handwerkerfirmen, die alle Schulen zudem auf den neuesten Energiestandard bringen könnten.

Das neue Niveau

In diesem Schuljahr ist (unter anderen Schulen) an der Loschge-Grundschule in Erlangen, seit 2014 schon Modellschule für bilingualen Unterricht in englischer Sprache, im bilingualen Französischzweig für die 1. Klasse ein neuer Modellversuch gestartet worden. Die „Spielbedingungen“ können dabei zum neuen Bildungsstandard für unsere Grundschulen werden: Die Klassenlehrerin, eine ausgebildete gymnasiale Fachlehrerin für Französisch, wird zeitweise durch eine erfahrene Grundschullehrkraft unterstützt, die Klassenstärke ist 16 Schüler*innen und Zufriedenheit wie Lernerfolg sind bestens.

Nicht nur dieser Modellversuch für eine bilinguale Grundschule mit Einsatz – und „pädagogischer Weiterbildung“ – von Gymnasiallehrer*innen kann auf alle Grundschulen ausgeweitet werden. Also höchstes „Champions League Niveau“ für unsere Schulen. Denn auf diesem höchsten Niveau zu „spielen“, darf nicht nur der Anspruch der erfolgreichsten deutschen Fußballmannschaft, des FC Bayern München, sein.

Nein, dies muss ebenso der neue Anspruch der bayerischen Staatsregierung für unser Schulsystem, unsere Schüler*innen und ihre Lehrkräfte sein. Dies wird die anderen Bundesländer auch dazu anspornen, den „Tabellenführer“ zu jagen …

 

Professor Dr. Gunther Moll
Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen
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