Der 2015 eingeführte „Suizidhilfeverhinderungs-Paragraf“ 217 StGB (Strafgesetzbuch) dürfte bald keinen Bestand mehr haben. Dann wären ohne diese Kriminalisierung wieder verschiedene humanistische und ärztliche Angebote zur Suizidhilfe, -beratung und -begleitung möglich. Doch welche Auflagen könnte das Bundesverfassungsgericht damit verbinden und wem soll geholfen werden dürfen?
Wie aus dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verlautet, darf Anfang des neuen Jahres mit der Verkündigung eines etwa hundert Seiten umfassenden Urteils gerechnet werden. Es dürfte darauf hinauslaufen, dass den Beschwerden von Ärzt*innen, Patient*innen und Sterbehilfegesellschaften gegen den § 217 StGB („Förderung der Selbsttötung“) zumindest in etwa oder sogar weitgehend Folge geleistet wird. In der BVerfG-Anhörung im April dieses Jahres schienen die Karlsruher Richter*innen ein offenes Ohr für die Situation der betroffenen Schwerstkranken zu haben. „Für diese Menschen brauchen wir einen Weg“, so der Vorsitzende, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle.
Gefahr des „weichen“ Paternalismus bei Neuregelung
Das BVerfG wird die liberale Situation, welche hierzulande über 150 Jahre bis zum Inkrafttreten des § 217 StGB bestand, wohl nicht wiederherstellen. Vorher galt in Deutschland nämlich, dass es gar keine strafrechtliche oder sonstige gesetzliche Regelung zur Suizidhilfe gab – was den wenigsten Menschen jedoch bekannt war. BeobachterInnen erwarten, dass nun das BVerfG einen „prozedurale Lösungsansatz“ vorgeben wird. Dieser könnte zum Beispiel so aussehen, dass die Richter*innen dem Gesetzgeber aufgeben, statt des § 217 StGB ein Genehmigungsverfahren mit Beurteilung zur Freiverantwortlichkeit des suizidwilligen Menschen zu etablieren. Voßkuhle überlegte bei der Anhörung laut, warum bei einem Behandlungsabbruch lebensnotwendiger Maßnahmen denn andere Anforderungen und Kriterien an die Freiverantwortlichkeit der PatientInnen zu stellen seien als bei einem ärztlich assistierten Suizid. Richter Peter M. Huber brachte die Möglichkeit einer Suizidhilfe-Beratung ins Gespräch. Damit sollen Indizien für die Ernsthaftigkeit und Stabilität eines Suizidentschlusses ermittelt werden.
Doch Regularien mit streng einzuhaltenden Kriterien sind nicht unproblematisch. Zu beachten ist die drohende Gefahr eines sogenannten weichen Paternalismus. Das heißt: Bevormundung zugunsten des (fremdbestimmten) vermeintlichen Wohls der Betroffenen, um sie vor sich selbst zu schützen.
Modell eines „Mix“ für Deutschland
Nun steht langfristig vor dem Bundesverfassungsgericht eine neue Auseinandersetzung bevor, nämlich um die Änderung des Betäubungsmittelgesetzes. Es geht um die mögliche Freigabe des als Suizidmittel bestens geeigneten Natrium-Pentobarbitals (welches bei Schweizer Sterbehilfegesellschaften gebräuchlich ist). Doch dies dürfte nur ein Baustein sein in einem Mix von verschiedenen Möglichkeiten, der in Deutschland angesagt wäre. Dazu würde die ärztliche Suizidassistenz etwa mit palliativmedizinisch verfügbaren Medikamenten ebenso gehören wie Organisationsangebote von Sterbehilfe Deutschland e.V. oder Dignitas/Deutschland (die bis zur Verabschiedung des § 217 StGB ja auch hierzulande tätig sein konnten). Und auch die gezielte Möglichkeit des Sterbefasten, um vorzeitig aus dem Leben zu scheiden, sollte nicht außer Acht gelassen werden – vom gewünschten Tod durch das Einatmen von Edelgasen zu schweigen.
Pflichtberatungskonzepte, die dann nach Änderung des Betäubungsmittelgesetzes analog zur öffentlich finanzierten Schwangerschaftskonfliktberatung „Scheine“ ausstellen, dürften nur auf den ersten Blick eine sinnvolle Lösung sein. Dazu gibt es bereits einen Gesetzentwurf der DGHS (Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben) und noch nicht veröffentlichte Vorschläge für entsprechende Eckpunkte der FDP (liegen der Autorin vor).
Alternative Gesetzentwürfe bisher misslungen
Die FDP schlägt ein mehrstufiges Verfahren vor. Dabei müsse von der suizidwilligen Person zunächst die ärztliche Diagnose über eine unheilbare, unumkehrbar zum Tode führende Krankheit vorgelegt sowie schwerstes, körperlich bedingtes Leiden nachgewiesen werden. Hier sind offensichtlich die extrem restriktiven Ausnahmekriterien zu erkennen, welche dem Bundesverwaltungsgerichtsurteil von 2017 für eine ausnahmsweise (!) Gewährung von Natrium-Pentobarbital zugrunde liegen. Das hieße jedoch, dass bei schwer chronisch kranken Menschen, etwa multimorbiden Hochbetagten oder Multiple-Sklerose- und Amyotrophe-Lateralsklerose-Patient*innen, Suizidhilfe nicht geleistet werden dürfte.
Solche Einschränkungen sind unbedingt zu vermeiden und können eigentlich nicht der FDP-Position entsprechen. Denn sie sind unvereinbar mit dem verfassungsgemäßen Persönlichkeitsrecht, auch den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu bestimmen. Staatlicherseits kann nicht darüber vorbestimmt werden, ob und wie lange ein schweres Leiden – ohne tödlich zu sein – noch zu erdulden wäre oder wann es als unerträglich gelten dürfe. Wenn das nicht von vornherein klargestellt ist, wird es im Nachhinein zu unendlichen Debatten kommen, wie auch in der Schweiz, wo Suizidhilfe ja breit akzeptiert ist. Aber auch dort lautet die aktuelle Streitfrage: Soll sie „für alle Erwachsenen“ gelten, das heißt: wem soll geholfen werden dürfen und wem nicht?
Auch der Gesetzentwurf der DGHS konnte scheinbar der Versuchung nicht widerstehen, sich ausschließlich auf die verwaltungsrechtlich-liberalisierenden Urteilen und eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes zu beziehen. Zwar vermeidet die DGHS den Fehler der FDP bei der prinzipiellen Einschränkung der Anspruchsberechtigten. Aber sie klammert rezeptausstellende behandelnde (Haus- oder Palliativ-)ÄrztInnen sowie Suizidhilfegesellschaften völlig aus. Stattdessen setzt die DGHS allein auf bundesweit flächendeckend zu etablierende Beratungsstellen. Im DGHS-Gesetzesvorschlag heißt es dazu: Deren „entscheidungsbeauftragte“ Mitglieder „werden von den Gesundheitsministerien der Länder bestellt“ – die dies auch an „nachgeordnete Behörden delegieren“ könnten.
Die DGHS schlägt entsprechende Einrichtungen für Pflichtberatungen vor, die analog zu Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen dann einen „Schein“ ausstellen können. Offen scheint bei einer Pflichtberatung die Frage: Soll dann mit einer dort gegebenenfalls erhaltenen Bescheinigung zur Übergabe von Natrium-Pentobarbital ein verfassungsrechtlich gesicherter „Anspruch“ verbunden sein oder nur die „Erlaubnis“ dazu?
Rolle der Suizidhilfe-Beratung – Neuregelung aus einem Guss
Auch der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) beschäftigt sich zurzeit mit Regulierungsfragen der Freitodhilfe. Für ihn gilt vorab der Grundsatz, dass jeder vollwillensfähiger Mensch sich frei und selbstverantwortlich entscheiden können muss und darf, aus dem Leben zu scheiden. Allerdings bedarf es – möglichst einfach handhabbarer – Regularien, wie und mit wessen Hilfe das sicherzustellen ist.
In der aktuellen Verbandszeitschrift diesseits (siehe dort S. 48 ff. mit Chronik der Suizidhilfe 1984 – 2019) wird der Frage einer ergebnisoffenen Suizidhilfe(konflikt)-Beratung nachgegangen, die unbedingt freiwillig in Anspruch zu nehmen wäre: Welche Methoden sollen verwendet werden, was müsste sie leisten, wie weit kann sie gehen? Dabei wird davon ausgegangen, dass allein eine in jedem Fall (!) wertschätzende, aktiv zuhörende Kommunikationsweise im Konfliktfall auch suizidverhütende Momente in sich trägt. Dem Humanistischen Verband kommt seine umfassende Praxis im Gesundheits- und Sozialbereich zugute. Zudem hatte er bis Dezember 2015, also solange es noch erlaubt war, (in sehr kleinem Rahmen in Berlin) für seine Mitglieder schon eine ergebnisoffene Suizidhilfekonfliktberatung angeboten. Dazu gehörte eine fachliche Austauschmöglichkeit für suizidhilfebereite ÄrztInnen.
Der HVD hat unlängst damit begonnen, Überlegungen für eine vernünftige, humanistisch orientierte und pragmatische Gesetzesregelung zu entwickeln. Dies können vorerst nur Eckpunkte sein. Dabei steht jedenfalls fest: Es muss eine Regelung aus einem Guss gefunden werden, wobei also verwaltungs-, betäubungsmittel-, verfassungs- und eventuell auch liberale straf- oder arztrechtliche Bestimmungen aufeinander bezogen werden müssen.
Die Ausformulierung oder gar Veröffentlichung eines neuen Suizidhilfe-Gesetzentwurfs wäre allerdings vorschnell, bevor das bevorstehende Bundesverfassungsgerichtsurteil bekannt ist, das heißt dessen wahrscheinlich „prozeduraler Lösungsansatz“. Spätestens dann wird die Zukunftsfrage „Wer darf selbstbestimmt sterben und wie kann oder muss dabei geholfen werden?“ sehr sorgfältig zu diskutieren und gesellschaftspolitisch zu klären sein.
Von Gita Neuman erstveröffentlicht auf der Webseite der Zentralstelle für Patientenverfügungen des HVD, für den hpd aktualisiert.