Unruhe in Europa wegen der deutschen Machtexpansion. Paris warnt Berlin und nähert sich Moskau.
Weich und verbindlich, mit einem freundlichen Lächeln, aber dennoch präzise und nur mittelbar drohend, ertönt in Berlin der Ruf nach mehr Macht. Die Welt solle hören, dass die „Sprache der Macht“ ganz Europa erfasse, lautet die Botschaft der deutschen Eliten und ihrer Brüsseler Gesandten, der EU-Kommissarin. Ihr geht es darum, mit der „Sprache der Macht“ in der Welt zu bestehen.
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Frau von der Leyen (EU-Chefkommissarin):
„Europa muss auch die Sprache der Macht lernen //: Das heisst zum einen, eigene Muskeln aufbauen, wo wir uns lange auf andere stützen konnten, z.B. in der Sicherheitspolitik, zum anderen vorhandene Kraft gezielter einsetzen wo es um europäische Interessen geht.“
Der Brüsseler Schein, als sei es „Europa“, das dringend mehr Macht und mehr „Muskeln“ verlange – mehr Militär – entspricht keiner Wahrheit. Die Mehrheit der Menschen will nicht mehr Macht und mehr Rüstungsausgaben, sie will mehr Geld für Soziales. Der Brüsseler Schein reflektiert nicht Europa. Er kommt aus Berlin wie die EU-Kommissarin und spiegelt den Ehrgeiz einer Wirtschaftsnation von erheblicher Stärke. Mehr Macht braucht Gewalt.
Berlin drängt in Brüssel auf ein zivil-militärisches Steuerungsgremium, genannt „Europäischer Sicherheitsrat“, als äußere Schale des inneren Kerns: des deutsch-nationalen Sicherheitsrats. Er soll Wirtschaft und Militär, Staat und Gesellschaft derart verschmelzen, dass ein politischer Generalstab entsteht – in Berlin und in Potsdam.
Ein Generalstab wie dieser hat den Griff nach der Weltmacht bereits zwei Mal verfehlt – in zwei Kriegskatastrophen. Der „Sicherheitsrat“ kopiert dieses übliche Muster deutscher Formierung für Krisen und Krieg.
Daß die Auswahl der Gegner sich auf Russland bezieht, wie beim ersten Versuch nach der Weltmacht zu greifen, und in den Fokus von Kriegen längst auch China gerät, steht für Berlin ausser Zweifel. Die diplomatischen Spitzen des vereinigten Deutschland erwägen im Ernst, den chinesischen Aufstieg aus kolonialer Versklavung mit Sanktionen zu stoppen. Schon beim ersten Versuch, nach der Weltmacht zu greifen, überhob sich Berlin, als es China bekriegte. Beim zweiten Versuch, als auf russischem Boden deutsche Panzer verschlammten, erstarb die „Sprache der Macht“ und ihr Muskelgetue an Millionen von Gräbern.
Es wird wenig beachtet, daß der östlichen Front eine westliche zuwächst. Der maßlose Anspruch der deutschen Eliten, im Namen Europas die „Sprache der Macht“ in die Tat umzusetzen, löst Unruhe aus – auch im westlichen Bündnisgebiet. Das historische Mißtrauen, das Deutschland begleitet, seit sein Griff nach der Weltmacht zu Weltkriegen führte, ist die tiefere Schicht der britischen Zweifel an der EU.
Das Verhältnis zu Frankreich hat einen Tiefpunkt erreicht. Berlin ist nicht willens, den Exportüberschuss seiner Wirtschaft zu drosseln, und zumindest politisch Kompromisse zu schließen. Die Folgen halten an: Schuldenaufnahme, um den Import aus Deutschland bezahlen zu können – überall im südlichen Europa. Paris ist bemüht, mit den Mittelmeerstaaten ein Bündnis zu schmieden, das gegen Berlin für Widerstand sorgt: mit Italien, Spanien und Griechenland.
Diese westliche Front, sofern sie gelingt, wird gerade ergänzt – mit mehr Nähe zu Moskau. Paris exploriert sein wohl härtestes Mittel: einen taktischen Pakt zwischen Frankreich und Russland, der Berlin überspringt, und dem maßlosen Anspruch der deutschen Eliten zwei Fronten beschert, die miteinander vernetzt sind – westlich am Rhein, östlich am Bug. Der Übersprungpakt, kommt er zustande, schließt an Vorläufer an.
Der russische Zar und Präsident Poincaré schlossen den Pakt, als Kaiser Wilhelm der II. mit der „Sprache der Macht“ Europa aufmischte. Der erste Weltkrieg begann…
Im folgenden Krieg, unter de Gaulle, als auf russischem Boden deutsche Panzer verschlammten, erneuerte Frankreich den Übersprungpakt. Das Freie Frankreich (France libre) suchte in Moskau nach einem Sicherheitspartner, um Berlin einzufrieden – 1944 und möglichst für immer.
Der Pakt, für 20 Jahre geschlossen, behielt seine Wirkung, auch als der Kalte Krieg begann. Zwar heilten die Wunden, die die „Sprache der Macht“ ganz Europa beifügte. Doch sie sind nicht vergessen, auch nicht die Siege.
Die Métro-Station, die an die Siege erinnert, hat in Paris ihren Namen behalten: „Stalingrad“.
Im Bündnis mit Moskau hat Paris nie verloren. Im Bündnis mit Deutschland, zwischen Hitler-Regime und französischen Helfern, dem Regime von Vichy, hätte es fast sich selbst aufgegeben.