Vor einem Jahr, zum 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, hat die Giordano-Bruno-Stiftung ihre Vorschläge für digitale Menschenrechte veröffentlicht. Das Konzept fand viel Zustimmung, aber auch konstruktive Kritik.
Dass Menschenrechte keine Wundertüte sind, die alle Türen öffnen, musste Petr Zak ganz praktisch feststellen. Als er vorstellig wurde, um die Vorschläge der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) in aller Form zu überreichen, hatte sich niemand zu einem offiziellen Termin bereitgefunden – denn die Giordano-Bruno-Stiftung ist keine akkreditierte NGO und damit für die Offiziellen dort schwer einzuschätzen. So blieb es bei dem weit weniger repräsentativen Akt einer Übergabe beim Pförtner, adressiert an den in Wien zuständigen UNO-Sekretär Michael Moravik.
Missverständnisse aus Utopia
Auch sonst sind Menschenrechte kein Wünsch-dir-was. Das mussten zum Beispiel die Diskussionsteilnehmer der von der Zeit-Stiftung initiierten Digitalcharta für die EU feststellen. Vorschläge wie das Recht auf Vergessenwerden, das Recht auf Nichtwissen oder die Frage, wie Plattformen mit Hassrede umgehen sollen, blieben außen vor oder umstritten. Grundrechte können die Wirklichkeit nun mal nicht aushebeln. Etwa die Tatsache, dass digitale Spuren weit hartnäckiger sein können als sonstige Spuren, die wir im Leben hinterlassen. Oder, dass man Information – auch in digitaler Form – nicht immer für alle Beteiligten zufriedenstellend steuern kann.
Häufig trifft man auch auf das Missverständnis, dass Menschenrechte eine allgemeine Grundlage für das Miteinander in der Gesellschaft darstellen. Das ist aber nicht so, sondern sie verstehen sich ausschließlich als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und seine Organe. Geheimdienste zum Beispiel haben sich eigentlich an die von ihren Regierungen ratifizierten Grundrechte zu halten. (Dass sie das systematisch nicht tun, steht auf einem anderen Blatt.) Konzerne wie Google oder Shell können dagegen so lange gegen Menschenrechte verstoßen, bis ihnen von staatlicher Seite das Handwerk gelegt wird. Dazu, den entsprechenden juristischen Rahmen zu schaffen, ist der Staat allerdings verpflichtet.
Wozu dann überhaupt Grundrechte?
Bringt denn das Formulieren von letztlich frommen Wünschen die Menschheit auch nur einen einzigen Schritt voran? Mit Blick auf die Geschichte muss man sagen: ja! Denn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war nicht nur eine glückliche Sternstunde der UN, eine historische Ausnahmesituation, in der sich die wichtigsten Akteure für einen Moment zu einem Lippenbekenntnis hinreißen ließen. Sie war auch ein psychologisch bedeutsamer und wirksamer Schritt in der Entwicklung der Menschheit.
Denn wenn ich als Individuum von Geburt an mit Rechten ausgestattet bin, dann beginne ich, diese einzufordern. Die 1979 hinzugekommene Frauenrechts-Konvention und die Kinderrechts-Konvention von 1989 zeigen, dass die Menschenrechte sich als Messlatte weiterentwickeln und als Ausdruck eines aufgeklärten Selbstverständnisses wertvoll sind. Die Arbeit vieler NGOs wäre ohne die Legitimation der Menschenrechte sehr viel schwerer.
Viele Aktive legen heute mit Recht ihren Fokus darauf, den bestehenden Menschenrechten Geltung zu verschaffen, die darin formulierten Wünsche wirksam werden zu lassen. Sie finden sich wieder in den Aktivitäten zu den nachhaltigen Entwicklungszielen (SDG) und in der Ausrichtung zahlloser Stiftungen und Vereine. Doch im Bereich der Digitalisierung ist vieles noch vage. Zu schnell ist die Entwicklung vorangeschritten und zu offen sind die Debatten und Machtverhältnisse derzeit noch.
Ab und zu höre ich die Kritik, es brauche keine digitalen Grundrechte, weil alle Rechte aus der analogen Welt selbstverständlich auch im Digitalen gälten. Doch diese Betrachtung ist sehr oberflächlich und bezieht viele grundlegende Neuerungen nicht ein. Sie reicht, salopp gesagt, etwa so weit wie der überstrapazierte Begriff der Menschenwürde, die im Zweifel sehr unterschiedlich ausgelegt wird. Die von uns formulierten Vorschläge – unter vielen – kommen daher zur rechten Zeit und ich bringe sie ein, wo immer ich die Möglichkeit dazu sehe.
Konstruktive Kritik
Grundrechte haben ja den Anspruch, universell und quasi ewig gültig zu sein. Entsprechend allgemein müssen sie gehalten sein. Das Wort „digital“ wäre zum Beispiel streng genommen überholt, wenn ein Quantencomputer nicht mehr mit den Werten 1 und 0 operiert. „Daten“ sind konkreter als „Informationen“ usw. Als wir unsere Vorschläge kürzlich auf dem Stuttgarter Zukunftssymposium wieder einmal diskutierten, fielen ein paar Punkte auf, die man ruhig noch einmal neu durchdenken sollte:
„Jeder hat das Recht, zu erfahren, welche Algorithmen, Verfahren, Regeln oder Kriterien bei ihn betreffenden automatischen Beurteilungen oder Entscheidungen wirksam wurden, und sie durch einen Menschen überprüfen zu lassen.“
Ein Anspruch auf Erklärbarkeit automatischer Entscheidungen ist in der Praxis nicht leicht einzulösen. Künstliche neuronale Netze sind in ihrer Komplexität schnell nicht mehr zu verstehen. Wenn man sich mit einer offenbar korrekten Ausgabe zufriedengibt, ohne genau zu wissen, wie diese zustande kommt, so hat man zumindest ein Problem, die Korrektheit auch nachzuweisen. Und sehr wahrscheinlich wird man sich bald auf das System verlassen, ohne es zu verstehen.
Als Beispiel: Eine Künstliche Intelligenz, die mit guter Sicherheit Huskys von anderen Hunden unterscheiden konnte, achtete bei näherem Hinsehen lediglich auf den Schnee im Hintergrund. Ein Trick, der noch durchschaubar ist, wenn man sich dafür interessiert. Wenn der Algorithmus aber eine scheinbar verlässliche Black Box ist, sind Verzerrungen wahrscheinlich – und sei es nur in der Fortschreibung menschlicher Vorurteile.
„Für einen Menschen muss stets klar erkennbar sein, ob er mit einem Menschen oder einem automatischen System kommuniziert.“
Ein solcher Passus fehlt in unseren Vorschlägen bisher, es gibt aber inzwischen einigen Konsens darüber, dass dies im Sinne eines selbstbestimmten Lebens so sein sollte.
„Jeder hat das gleiche Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Informations- und Kommunikationsdiensten.“
Hier kam die Frage auf, wie es um Kinderrechte bestellt ist und inwieweit Erwachsene das Recht haben, ihren Kindern Informationen vorzuenthalten. Wenn man an Gewaltdarstellungen denkt, würde man hier eine klare Verpflichtung zum Kinderschutz erkennen, die mit Aufkommen des Internets nun mal relevanter geworden ist. Aber wie ist es mit weltanschaulichen Inhalten, etwa dem Vergleich von Religionen oder Sexualkunde? Hier verlassen wir vermutlich das Terrain der Digitalisierung und kommen zu den Kinderrechten, etwa dem Recht auf Bildung.
„Was sagt ihr zu Neurodaten?“
Im Zusammenhang mit Neurodaten (zum Beispiel erfassten Gehirnströmen) öffnet sich ein noch schwerer fassbarer Bereich, der im Kern auf die Gedankenfreiheit sowie die Grenzen von Persönlichkeit und freiem Willen zielt. Der Umgang mit solchen intimsten Daten, die sogar jenseits unseres eigenen Bewusstseins liegen, öffnet der Manipulation neue Felder. Um hier klare Linien zu ziehen, wird es nicht genügen, einmal mehr die unbestimmte Menschenwürde zu zitieren. Die Grenzen des Menschen selbst werden hier unscharf. Eine Auseinandersetzung mit Themen wie Cyborgs, Augmented Intelligence und Transhumanismus ist seit Jahrzehnten im Gang, aber wirksame Positionen konnten wir hierzu in unserer Gesellschaft noch nicht entwickeln.
Wie geht es weiter?
Es ist denkbar, dass die Entwicklungen in der UN mittelfristig zu einer Art „Charta für informationelle Grundrechte“ führen werden. Welche Nationen dieser dann zustimmen, ist derzeit offen, denn derzeit kochen viele Regierungen ihr Süppchen auf einem noch weitgehend unregulierten Status Quo. Wahrscheinlicher ist, dass die Europäer einen Schritt vorangehen – wenn wir sie dazu antreiben.
Die Vorschläge der gbs können immerhin schon jetzt als Ausgangspunkt für Positionen in neuen und alten Debatten dienen. Wir werden sie weiter einbringen und sind dabei, unsere Kontakte in dieser Hinsicht auszubauen.