Gerade hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Homosexualität angeboren sei. Das hat es der Gesellschaft und den Gesetzgebern erleichtert, den betreffenden Menschen dieselben bürgerlichen Rechte einzuräumen wie den Heterosexuellen. Und schon bietet sich aus der Fülle der von den Sexualwissenschaften der USA hervorgebrachten Theorien eine neue These an, die zwar die errungenen Rechte für Homosexuelle und Queere nicht infrage stellt.
Jane Ward widerspricht aber auf Grund eingehender Forschungen und auch aus eigenem Erleben heraus der Auffassung, dass Menschen mit fest vorgeprägten sexuellen Anlagen geboren werden. Inspiriert ist das von Judith Butlers Denken, dass erst die mit gesellschaftlichen Bedeutungen aufgeladenen Kategorien ´männliche` und ´weibliche` Wesen sozialisieren, die sich dann mehr oder weniger – aber eben nicht immer eindeutig – in diese Kategorien einordnen lassen. Ihre eigene lesbisch-queere Lebensweise, so Ward, war nicht angeboren, sondern entstand aus der Ablehnung allgegenwärtigen Machotums und schließlich auch aus der Lust am Widerstand gegen das gesellschaftlich hegemoniale Muster der Heterosexualität.
Diese Widerstandslust selber ist freilich auch als eines von mehreren möglichen Resultaten sozialer Prägungen zu verstehen. Häufig liegt auch Unlust zu Widerstand vor, wenn sich viel mehr Menschen offiziell als eindeutige Heteros präsentieren als es eigentlich sind.
Ward ist wieder bei Butler, wenn sie erklärt, dass dies mit den Machtverhältnissen in der Gesellschaft zu tun hat. Das zeigt sie anhand eigener und fremder Studien über weiße Männer, die als heterosexuell gelten und sich sogar selber dafür halten, obwohl nicht wenige an gelegentlichen oder sogar häufigen homosexuellen Handlungen beteiligt sind. Ihrer Machtstellung in der Gesellschaft verdanken sie es, dass diese Geschehnisse nicht ernst genommen werden, sondern als „Ausrutscher“ oder als Ereignisse interpretiert werden, die nur deshalb stattfinden, weil in bestimmten Situationen Frauen nicht verfügbar sind wie bei der Armee, der Seefahrt, in Gefängnissen – oder weil sich Ehefrauen dem Sex entziehen. Ward belegt jedoch, dass homosexuelle Handlungen unter als heterosexuell geltenden weißen Männern keineswegs nur in solchen Zwangslagen stattfinden. Obwohl es an Universitäten an sexinteressierten Frauen nicht mangelt, gehört der sogenannte „Elephantenmarsch“ zu den dort nicht seltenen praktizierten Initiationsriten für weiße männliche Studenten. Dabei bewegt sich eine Kette nackter Jünglinge auf Knien vorwärts, indem jeder seinem Vordermann einen Finger in den After steckt. Das gilt als eine Art männerbündische Mutprobe, bei der es angeblich um die Erzeugung harter Kerls geht. Lust, über die aber nicht gesprochen wird, ist eventuell inbegriffen. Ähnliches, z. T. auch Gewaltsameres, passiert – laut Ward sogar offiziell geduldet – als „Äquatortaufe“ bei jungen Marines, die per Schiff zum ersten Mal von der Nord- auf die Südhalbkugel wechseln.
Ward kann auch belegen, dass viele angeblich heterosexuelle Männer regelmäßig sogenannte „Klappen“ oder andere einschlägige Orte besuchen, wo sie anonyme sexuelle Kontakte mit anderen Männern finden. Bezeichnend für die Verbindung von sexuellen Definitionen und Machtstrukturen ist eine aus den sechziger Jahren stammende Episode über einen Polizisten in Zivil, der an Klappensex interessierte heterosexuelle Männer aus der weißen Mittelschicht nicht etwa verhaftete, wie es seine Pflicht gewesen wäre, sondern ihnen Klappen empfahl, wo sie mit Sicherheit nur auf sozial ähnlich positionierte weiße Männer trafen. Den weißen Korpsgeist zu wahren war wichtiger als verbotener Sex untereinander.
Traditionell wurden Farbige in den USA als sexuell fluide – d. h. weder eindeutig hetero- noch homosexuell – angesehen und waren auch deshalb für weiße Männer tabu. Nicht tabu, sondern einzig legitime sexuelle Objekte für weiße Männer waren weiße Frauen, obwohl auch ihre Sexualität prinzipiell als minderwertig und „fluide“ galt, weshalb homosexuelles Verhalten bei Frauen wiederum weniger geächtet war als bei Männern.
Die in den letzten Jahrzehnten gewachsene Akzeptanz homosexueller und queerer Verhaltensformen hat das alte Koordinatensystem weniger ins Wanken gebracht als allgemein angenommen. Ward kritisiert, dass Homosexualität und Queerness eigentlich nur gesellschaftliche Akzeptanz genießen, wenn sie in einer romantisch basierten, monogamen Beziehung, also in strikt bürgerlicher Form gelebt würden – was auch ein enorm angewachsener diesbezüglicher Zweig der Kulturindustrie widerspiegelt. Sie weist darauf hin, dass es sich trotz der vorgegaukelten bunten Lebendigkeit letztlich um die Fortsetzung prüder puritanischer Lebensvorschriften handelt, die dem eigentlichen Wesen menschlicher Sexualität noch immer nicht entspräche. Diese ist – so sieht es Ward – eigentlich mehr oder weniger „fluide“. Würde das gesellschaftliche Wertesystem dem Rechnung tragen, müssten sich weiße „heterosexuelle“ Männer nicht nach wie vor zahlreiche Ausnahmegelegenheiten schaffen, um die homosexuelle Seite ihres Wesens hin und wieder auszuleben.
Jane Wards Studie enthält leider etliche Redundanzen und ist manchmal zu fachlich formuliert. Trotzdem sei sie empfohlen, weil sie kulturelle Praktiken strikter als heute üblich als sozial determiniert darstellt und dabei unsägliche Facetten des Rassismus und Machismus aufdeckt. Dass sie sich vor allem auf die USA bezieht, muss beachtet werden und sollte Ansporn sein, denselben Fragen in europäischen Kulturen nachzugehen.
Jane Ward: Nicht schwul. Die homosexuelle Zutat zur Erschaffung des ´normalen Mannes`, MännerschwarmVerlag, Hamburg 2018, 216 Seiten, 24 Euro.
Die Rezension erschien unter dem Titel Wohl doch ´fluide` in : Junge Welt v. 21. Juni 2019, S. 15.