Tausende sind auf Straße und Protestieren gegen den Angriffskrieg der Türkei auf Nordsyrien. Wie groß ist die Solidarität mit Rojava und der kurdischen Befreiungsbewegung? Wie stark ist in Deutschland der Widerstand gegen den Krieg überhaupt? Und welche Bedeutung hat der Kampf der Kurden? Michael Hellstein von der antifaschistischen Kampagne #riseup4rojava hat uns Antworten gegeben.
Gunther Sosna: Der von der Türkei ausgehende völkerrechtswidrige Angriffskrieg auf den Norden Syriens und die dortigen Kurdengebiete, wurde von der Zivilgesellschaft zum Teil scharf verurteilt. Spiegelt sich die Resonanz und die ausgedrückte Solidarität, die vor allem im Netz zu beobachten war, auf der Straße wider?
Michael Hellstein: Ja und Nein. Was die Kurd*innen in Deutschland angeht, können wir sagen, dass wir definitiv eine große Bereitschaft sehen, an Demonstrationen und Aktionen teilzunehmen – mehr noch als zur Zeit des Einmarsches in dem Anfang 2018 durch die türkische Armee besetzten nordsyrischen Kanton Afrin. Interessant ist hier, dass Menschen aus den unterschiedlichsten politischen Hintergründen an den Demonstrationen teilnehmen, also etwa auch viele Anhängerinnen von eher konservativen kurdischen Parteien wie KDP oder PUK1.
In der deutschen Bevölkerung gibt es sicher eine Stimmung gegen diesen Krieg, gegen Trump, gegen Erdogan. Eine aktuelle Umfrage der ARD weist aus, dass 91 Prozent der Befragten der Türkei misstrauen, ebenso viele lehnen Waffenexporte in die Türkei ab2. Bei den Aktionen merken unsere Genoss*innen viel Zuspruch von Passant*innen. Das Thema ist den Menschen durchaus bewusst.
Allerdings muss man sagen, dass die Demonstrationen zwar zum Teil groß sind, aber noch nicht die Größe erreichen, die uns vorschwebt. Wir kommen gelegentlich auf 5000 bis 10.000 Teilnehmer*innen – und das gleichzeitig in mehreren Städten –, aber unser Ziel ist, noch deutlich mehr Menschen gegen diesen Krieg und gegen die NATO zu mobilisieren. Wir sehen es als unsere Aufgabe, all jene, die jetzt gegen diesen Krieg, gegen diese Verbrechen sind, auch dazu zu motivieren, wirklich etwas dagegen zu tun.
Es gab bereits zahlreiche Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen. Durch wen werden die Proteste hauptsächlich getragen? Wer steht bisher an der Seite der kurdischen Community und leistet Widerstand gegen den Krieg?
Überwiegend, wie gesagt, sind es Kurd*innen selbst, die auf die Straße gehen. Mit ihnen gemeinsam sind es vor allem Linke aus einem sehr breiten Spektrum, das von autonomen Antifa-Gruppen über türkische Kommunisten bis zur MLPD3 reicht. Vergangenen Samstag in Berlin sind wir gemeinsam mit einer antikolonialen Demo gelaufen, an der verschiedene Exilaktivist*innen aus dem Trikont4 beteiligt waren. Global können wir auch sehen, wie breit die Unterstützung für die kurdische Bewegung in diesem Krieg ist: Sie reicht von lateinamerikanischen Guerilla-Organisationen über die palästinensische Linke bis zu baskischen, katalonischen und irischen Befreiungsbewegungen.
Dazu ist es uns in der vergangenen Woche gelungen, einen größeren Teil der Ökologiebewegung zu gewinnen, also Aktivist*innen von FridaysForFuture und Ende Gelände. Solidaritätsbekundungen gibt es auch aus einem breiten Spektrum bürgerlicher Parteien, wobei wir als Kampagne sehr skeptisch sind, inwieweit es sich dabei um mehr als PR-Strategie handelt.
Wie verhält sich die Friedensbewegung? Zeigt sie sich solidarisch?
Natürlich. Es gibt Petitionen und Aufrufe zu unseren Demonstrationen etwa aus dem Netzwerk Friedenskooperative und der DFG-VK5. Unser Ziel ist es, aus der jetzigen Dynamik auch der Bewegung gegen imperialistische Kriege generell einen neuen Schwung zu geben. Wir sehen uns als Antimilitarist*innen – und das keineswegs auf Kurdistan begrenzt.
Die Zielsetzung des Angriffskrieges soll die Errichtung einer Besatzungszone sein. Wenn die entstehen sollte, was wird dort passieren und welche Auswirkungen hat das auf die Kurden?
Da muss man nicht viel spekulieren, denn die Türkei hält ja bereits einen Teil Nordsyriens besetzt: Afrin. Was wir dort beobachten, ist die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und die Errichtung einer Herrschaft dschihadistischer, mit der Türkei verbündeter Banden. Und die tun, was sie eben tun: extralegale Hinrichtungen, Entführungen, sexualisierte Gewalt, Plünderungen.
Dazu kann man an Afrin sehen: Ziel der Türkei ist keine temporäre Besatzung, sondern die langfristige Annexion des Gebietes an die Türkei. Es werden türkische Fahnen gehisst, die lokale Administration wird der türkischen unterstellt, der Schulunterricht auf Türkifizierung ausgerichtet. Die Besetzung Afrins begann im Januar 2018 und Erdogan zeigt keine Anstalten, dieses völkerrechtswidrig besetzte Gebiet wieder zu verlassen.
Eine solche Zone hätte ja auch auf diplomatischen Weg erreicht werden können. Welche Absichten verfolgt die türkische Regierung noch?
Wir lehnen eine solche Zone natürlich ab, egal, auf welchem Wege sie erreicht wird. Auch eine „diplomatisch“ eingerichtete Sicherheitszone wäre ja eine türkische Besatzung und das Ziel Ankaras ist und bleibt die Zerschlagung jeder kurdischen Bewegung.
Die Absichten Erdogans betreffen indes nicht nur die kurdische Bewegung. Er hat mehrfach sehr deutlich gemacht, dass es ihm darum geht, die früheren osmanischen Gebiete wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Und das betreibt er ja auch an anderer Stelle, wenn man sich seine Balkanpolitik, die Konflikte mit Griechenland oder die Stationierung türkischer Truppen im Nordirak ansieht. Die Türkei ist heute ein Staat, der nach innen faschistisch beherrscht wird und nach außen einen aggressiven Expansionismus verfolgt.
Kann die militärische Lage in Nordsyrien seriös eingeschätzt werden?
Natürlich, wenn man sich nicht wie die meisten Mainstreammedien auf Agenturmeldungen, Nachrichten aus den gleichgeschalteten türkischen Medien oder Korrespondenten, die bei Erdogans Truppen embedded irgendwo in türkischen Grenzstädten sitzen, verlässt. Wir haben Kontakt zu sehr vielen Aktivist*innen vor Ort und bekommen unsere Informationen aus erster Hand.
Das heißt natürlich nicht, dass man jederzeit einen angemessenen Überblick im Chaos des Geschehens hat, aber es ergibt sich aus den verschiedenen Quellen ein Bild. Und da können wir im Moment zumindest sagen, dass die Türkei weitaus größere Probleme hat, als sie gedacht hatte. Der Widerstand vor allem in der Grenzstadt Serekaniye ist zermürbend für die NATO-Armee und ihr islamistisches Kanonenfutter. Zugleich können wir zweifelsfrei eine Reihe von Kriegsverbrechen dokumentieren – insbesondere Erschießungen von Gefangenen, Folter und flächendeckende Bombardements von Zivilist*innen.
Durchs Netz kursieren schreckliche Bilder von Toten und Verletzten. Wie ist die Situation der Zivilbevölkerung?
Die Zivilbevölkerung ist geschlossen gegen einen Einmarsch der Türkei – und zwar unabhängig davon, ob es sich um Anhänger*innen der Selbstverwaltung im Norden- und Osten Syriens oder der Regierung in Damaskus handelt. Und viele sind bereit, dafür auch am Widerstand teilzunehmen und vieles aufzugeben. Aber klar, die Situation ist für viele Zivilist*innen grauenhaft. Hunderttausende sind ja schon auf der Flucht, zunächst noch innerhalb des Landes. Und Hunderte haben ihr Leben bei den Bombardements verloren. Zudem haben viele Angst, den mit Erdogan verbündeten Dschihadisten in die Hände zu fallen. Gruppen wie Ahrar al-Sharqija sind berühmt dafür, auf brutalste Art und Weise mit Zivilist*innen umzugehen.
Es gibt einen Deal zwischen den Kurden und der syrischen Regierung von Staatschef Baschar al-Assad. Was beinhaltet die Vereinbarung und welche wesentlichen Konsequenzen ergeben sich daraus unmittelbar für die kurdischen Volksverteidigungseinheiten?
Es handelt sich derzeit um eine militärische Vereinbarung zur gemeinsamen Verteidigung des Landes gegen die türkische Aggression. Das beinhaltet, dass Truppen der Syrisch-Arabischen Armee Stellungen der Syrisch-Demokratischen Kräfte beziehen – was ja auch an vielen Stellen bereits passiert ist. Darüber hinaus kann man derzeit nicht sagen, was dieses Abkommen politisch bedeutet. Es kann ein Schritt in Richtung einer gesamtsyrischen Lösung sein, es kann aber auch ein Versuch Baschar al-Assads sein, jede Selbstverwaltung im Norden und Osten zu zerschlagen. Im Moment allerdings ist wichtig, dass alle Kräfte Syriens die türkische Armee aus dem Land drängen.
Kritik kam Richtung Ankara von den Außenministern der EU-Staaten. Das Wort Krieg nahmen sie allerdings nicht in den Mund, sondern den Begriff Militäroffensive. Das war es dann auch schon. Es gibt keine Sanktionen gegen die Türkei und auch kein Waffenembargo. Wie interpretieren Sie das?
Wie immer und bei jedem Krieg sind Worte billig. Politiker*innen, die selber noch Waffenexporte genehmigt haben, sind plötzlich ganz besorgt. Man will den Leuten durch irgendwelches Gerede suggerieren, dass man sich schon kümmert. Wir geben nicht viel auf diese Phrasen. Bislang kann man sagen, dass die gesamte NATO hinter Erdogan steht, wenngleich einige kritischere Töne verlauten lassen, während andere – wie Trump – voll und ganz hinter dem Genozid stehen und angefangen haben, das alte Lied von den „kurdischen Terroristen“ zu singen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich das NATO-Mitglied Türkei im Falle von Sanktionen weiter auf Russland zubewegen würde, was nicht im Interesse des Militärbündnisses sein kann. Werden die Kurden deshalb geopfert?
Die geostrategische Lage ist sehr kompliziert. Die Türkei spielt ja dieses Spiel: Wenn die USA mir nicht geben, was ich will, dann gehe ich zu Putin. Und sowohl Washington wie Moskau machen dann Deals und Zugeständnisse, die manchmal nicht mit ihren unmittelbaren eigenen Interessen übereinstimmen. Aber auch das hat Grenzen.
An einem bestimmten Punkt muss sich ja zum Beispiel Russland auch entscheiden: Will es seinen Langzeitverbündeten Assad fallen lassen, um Erdogan zu hofieren? Und selbst wenn Russland eine „safe zone“ akzeptieren würde, kann es wollen, dass sich eine nun besser ausgerüstete Armee von Dschihadisten neu aufstellt? Auch für Trump macht das Erdogan-Appeasement Probleme. Jene Teile seiner eigenen Partei, die eine offensivere imperialistische Politik wollen, fallen von ihm wegen des Truppenrückzugs ab.
Im Falle der USA war immer klar, dass sie die Selbstverwaltung zerstören wollten. Die Frage war wie und zu welchem Zeitpunkt. Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass die USA der Türkei erlaubt haben, YPG-Stellungen6 in Nordsyrien aus der Luft zu bombardieren – das kam ja schon 2017 vor.
Die Kurd*innen sind Mitten in dieser Gemengelage aus unterschiedlichen externen und internen Kräfteverhältnissen und müssen darin manövrieren. Sie finden bislang aber auch Möglichkeiten, das zu tun, wie das Abkommen mit der syrischen Armee zeigt. Und man darf nicht vergessen: Sie sind ein eigenständiger Faktor, eine Bewegung, die sich auf vier Länder erstreckt und Millionen Anhänger*innen weltweit hat.
Vielen Dank!