Wegen der solidarischen Aufnahme von Flüchtlingen wird das kalabrische Dorf vom Staat kriminalisiert.
Riace ist ein kleines Bergdorf im süditalienischen Kalabrien, das seit 20 Jahren Geflüchtete solidarisch aufnahm und dafür weltweit bekannt wurde. Der ehemalige Bürgermeister Domenico Lucano war seit Mitte Oktober 2018 aus Riace verbannt und durfte sein Dorf nicht betreten. Das war besonders schmerzlich, weil er seinen 93-jährigen Vater nicht besuchen konnte, der schwer erkrankt ist. Erst in der vergangenen Woche hob ein Gericht im kalabrischen Locri das Verbot auf. Lucano darf wieder in sein Dorf zurück.
Der Politiker war polizeilich überwacht worden. Dies geschah unter der zynischen Bezeichnung »Operation Xenia« – was auf Griechisch Gastfreundschaft bedeutet. Eineinhalb Jahre lang – beginnend also schon vor Salvinis Amtsübernahme – zeichnete die Finanzpolizei sämtliche Telefonate des Bürgermeisters auf, als sei er schwerster Straftaten verdächtig, nachdem die Verwendung der staatlichen Fördermittel für die Flüchtlingsaufnahme überprüft worden war. Die Ergebnisse waren widersprüchlich, wiesen zwar auf formale Fehler hin, jedoch ebenso darauf, dass in Riace neue Möglichkeiten des Willkommens gefunden wurden.
Das Dorf des Willkommens
Es gab Werkstätten für altes kalabrisches Handwerk wie Weberei, Töpferei, Stickerei, Glas- und Holzverarbeitung. Die Produkte wurden in kleinen Geschäften im Dorfzentrum verkauft, in der »Villa Globale« oben im Bergdorf. Wie viele Orte an der kalabrischen Ostküste hat auch Riace zwei Ortsteile, eine Marina unten am Meer und ein kleineres Bergdorf. Die meisten der etwa 2300 Einwohner*innen leben am Meer, Riace Superiore in den Bergen leidet seit Jahrzehnten unter Abwanderung. In den Projekten arbeiteten Einheimische und Zugereiste gemeinsam, so entstand kein Neid.
Es entwickelte sich ein bescheidener Wohlstand, Kindergarten und Schule konnten wieder öffnen, denn viele Geflüchtete waren jung und hatten Kinder. Die überwiegend älteren Einheimischen freuten sich, dass Leben ins Dorf kam. Wandbilder und Objekte, beispielsweise kleine Holzschiffe, erinnern an Flucht und Willkommen. Einige Bilder weisen auf Morde durch die Mafia hin, und auf vielen sind offene Handflächen zu sehen, ein Anti-Mafia-Symbol. Die selbstorganisierte lokale Ökonomie entrichtete kein Schutzgeld. Lucanos Hunde wurden vergiftet, und bis heute sind zwei Einschusslöcher in der Seitentür eines früheren Restaurants des Willkommensprojekts zu sehen.
Die Fördergelder wurden nur für die Dauer des Asylverfahrens gezahlt. Danach zogen die meisten Flüchtlinge weiter nach Norden, aber es kamen immer wieder neue an. Die Regierung nutzte gerne die Aufnahmebereitschaft von Riace, und der Bürgermeister lehnte nie eine Anfrage ab. So lebten durchgängig etwa 300 bis 400, mitunter auch mehr Geflüchtete in Riace.
Lucano, der von allen »Mimmo« genannt wird, hatte schon vor seiner Wahl zum Bürgermeister 2004 den Verein »Città Futura« (Stadt der Zukunft) gegründet. Weitere Vereine und Genossenschaften kamen hinzu, und vielleicht lagen einigen die eigenen finanziellen Vorteile dabei mehr am Herzen als das Wohl der Flüchtlinge, aber durch die breite Beteiligung der Einwohner*innen und Weggezogenen, die ihre verlassenen Häuser an die Aufnahmeprojekte vermieteten, entstand eine würdige Alternative zu den überfüllten, menschenunwürdigen Massenlagern, an denen oft die Mafia gut verdient.
In Riace gab es keine Gemeinschaftsverpflegung, sondern die Gäste, wie die Zugereisten dort freundlich genannt werden, konnten selbst einkaufen und kochen, was ihnen schmeckt. Allerdings kamen die Fördermittel aus Rom oft erst mit monatelanger Verspätung an, so dass Domenico Lucano mit Genehmigung der Behörden eine Regionalwährung einführte. Die Gutscheine mit dem Aufdruck »No Razzismo« und Bildern von Martin Luther King, Rosa Parks, Mahatma Gandhi, Che Guevara und anderen konnten zum Einkaufen verwendet, und von den Geschäften in Euro getauscht werden, sobald die Fördermittel da waren.
Bürokratie gegen Menschlichkeit
Mit der Inspektion wurde diese regionale Währung plötzlich kritisiert. Es wurde bemängelt, dass Geflüchtete länger geblieben waren, als sie finanziert wurden, und dass mit dem Geld eine größere Anzahl Flüchtlinge unterstützt worden war, als vorgesehen. Obwohl diese Übererfüllung der Aufgaben auf eine sparsame Verwendung der Fördergelder hinwies, stellte das Innenministerium 2017 die Auszahlung ein. Die Staatsanwaltschaft ermittelte.
Am 2. Oktober 2018 wurde Lucano verhaftet, erst unter Hausarrest gestellt, dann verbannt. Er und etwa 30 Einwohner*innen von Riace wurden angeklagt, die Willkommensprojekte geschlossen – auf Anweisung des Innenministeriums, nun unter Salvini, der Lucano schon zuvor als »Null« beschimpft hatte. In einem ersten Ermittlungsverfahren, das bis zum Obersten Kassationsgericht in Rom ging, wurden alle Vorwürfe, bis auf die Unterstützung illegaler Einreise durch Scheinehen, als unbegründet abgewiesen. Ein Missbrauch von Fördermitteln war gerichtlich nicht feststellbar. Lucano streitet nicht ab, eine nigerianische Zwangsprostituierte bei der Eheschließung unterstützt zu haben. Er habe einem ausgebeuteten Menschen helfen wollen, weil der Staat sich nicht um die Opfer von Menschenhandel kümmere, erklärte er in seiner 70-minütigen Rede am ersten Prozesstag des Strafprozesses am 11. Juni 2019 im kalabrischen Regionalgericht in Locri.
Der Prozess fand unter Sicherheitsbedingungen statt, wie sie nicht einmal bei Mafiaprozessen üblich sind. Mit Straßensperrungen, Polizeieinheiten mit Hunden und Hubschraubern wurden die solidarisch Demonstrierenden vom Gerichtsgebäude ferngehalten und eingeschüchtert. Lucano erklärte vor Gericht: »Wenn man mir vorwirft, dass ich den Verzweifelten und Geringsten der Welt eine Heimat gegeben habe – ich würde ich es wieder tun.«
Wie unabhängig ist das Gericht in Locri? Es beharrte auch nach der Entscheidung des Obersten Kassationsgerichts vom 3. April 2019 zunächst auf der Fortdauer von Lucanos Verbannung. Damit wurde verhindert, dass er im Wahlkampf zur EU-Wahl am 26. Mai 2019, wo gleichzeitig die Bürgermeisterwahlen stattfanden, in Riace sein konnte. Nach drei Wahlperioden durfte er nicht erneut kandidieren, stand aber auf Platz zwei der Liste »Der Himmel über Riace«.
Jedoch kam Lucano nicht einmal in den Gemeinderat. Der Lega-nahe Antonio Trifoli wurde zum Bürgermeister gewählt. Das hat sicher viele Ursachen. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung erschwert Solidarität und fördert Rassismus. Der Stopp der Fördermittel hatte ein großes Loch in der Gemeindekasse verursacht, Geschäfte blieben auf dem Regiogeld sitzen, viele Leute sind auch privat verschuldet. Vielleicht ließ Trifolis Nähe zur Regierungspartei hoffen, er würde wieder Geld für Riace besorgen. Gegen ihn läuft nun aber ein Amtsenthebungsverfahren, weil er aus formalen Gründen gar nicht wählbar war. Eine Gerichtsentscheidung wird am 1. Oktober erwartet.
Eine Welle der Solidarität
Seit Beginn der Repressionen gibt es regelmäßig Proteste und Solidaritätsaktionen. Am 31. Januar 2019 wurden beim Nobelpreiskomitee in Oslo 90 000 Unterschriften für die Verleihung des Friedensnobelpreises an Riace eingereicht. Im Februar 2019 unternahmen Aktivist*innen eine Friedens-Radtour von Rom über Neapel nach Riace. Der lateinamerikanische Künstler Carlos Atoche hat an der Mauer der nun wieder geschlossenen Schule ein Murales (Wandbild) gestaltet. Es stellt das Gesicht von Domenico Lucano im Stil der berühmten Bronzestatuen dar, die 1973 im Meer vor Riace gefunden wurden. Allein in diesem Sommer gab es zwei Kulturfestivals und eine Anti-Rassismus-Weltmeisterschaft in Riace, für den Herbst ist ein Filmfest geplant. Die Initiative »Solidarity City Freiburg« will einen Verein zur Unterstützung von Riace gründen.
Es gibt noch Hoffnung
Auf dem Kulturfestival am 11. Mai 2019 wurde die Gründung der Stiftung »È stato il vento« (Es war der Wind) bekannt gegeben. Der Name ist ein Satz, den Domenico Lucano oft sagt, wenn er über die Ankunft von Geflüchteten spricht. Denn es ist Zufall, wohin es die Menschen verschlägt, von Geburt an, immer angetrieben von ihrer Hoffnung, aber auch vom Zufall ihrer Begegnungen auf der Flucht, vom Zufall des Windes auf ihrem Weg übers Meer. Nur was sie nach ihrer Flucht erwartet, das ist nicht dem Zufall überlassen.
Die Stiftung wurde vom Netzwerk solidarischer Städte ReCoSol (Rete dei Comuni Solidali) und von langjährigen Weggefährt*innen Lucanos ins Leben gerufen, darunter Juristen der Organisationen ASGI (Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione) und Magistratura Democratica, sowie Mitglieder der Europäischen Kooperative Longo Maï, die über mehr als 40 Jahre Erfahrung in lokaler solidarischer Ökonomie in Frankreich und anderen Ländern verfügt. Ehrenvorsitzender ist der ehemalige Bürgermeister von Rosarno, Peppino Lavorato.
Die Stiftung möchte die Aufnahme von Geflüchteten in Riace wieder ermöglichen und damit »eine lokale Wirtschaft schaffen und sichern, die auf den Kriterien der Solidarität, der Emanzipation und des Respekts für die Umwelt basiert«. Sie unterstützt die verbliebenen etwa 50 Flüchtlinge in Riace, hat Räume für den Verein Città Futura erworben und möchte eine Ölmühle zur Herstellung von Olivenöl in Gang setzen. Sie richtet Wohnungen für einen neuen Solidaritätstourismus her und bereitet die Wiedereröffnung der Werkstätten vor. Es scheint, dass Riace eine Zukunft hat, aber angesichts des massiven Gegenwinds wird es einen langen Atem brauchen.
Der Artikel von Elisabeth Voß wurde auf neues-deutschland.de veröffentlicht und mit freundlicher Erlaubnis der Autorin und von nd übernommen. Dieser Beitrag darf ohne audrückliche Zustimmung nicht verwendet werden.