Fesselnd von der ersten bis zur letzten Sekunde: „Systemsprenger“ über ein nicht zu vermittelndes Mädchen, lässt einem keine Zeit zum durchatmen. Beeindruckend, beklemmend und unglaublich intensiv – mit Sicherheit einer der besten Filme des Jahres.
Die neun Jahre alte Benni (Helena Zengel) – eigentlich Bernadette, aber so will sie auf keinen Fall genannt werden – ist der Problemfall der Jugendamtbetreuerin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide). Egal in welche Einrichtung, in welche Pflegefamilie Benni kommt, überall fliegt sie wieder raus und ist mittlerweile auch bei einigen Unterkünften nicht mehr gern gesehen. Denn Benni ist ein sogenannter Systemsprenger. Dort wo sie auftaucht, kommt es aufgrund ihres Temperaments und ihrer Wutausbrüche schnell zu Überforderung und Chaos. Für Benni könnte aber alles so einfach sein, denn sie will nur wieder zurück zu ihrer Mutter (Lisa Hagmeister).
Die allerdings versteckt sich immer wieder hinter leeren Versprechungen und lässt sie im Stich. So zieht sich die Situation für alle Beteiligten bis ins Unerträgliche und wird zunehmend verzweifelter. Und auch wenn man Benni mittlerweile gern in eine geschlossene Jugendpsychiatrie stecken möchte, so ist sie dafür einfach noch zu jung. Als letzte Rettung erscheint da der neu engagierte Schulbegleiter/Anti-Gewalt-Trainer Micha (Albrecht Schuch). Und der greift zu ungewöhnlichen Methoden um Benni zu bändigen …
LAUT, unerträglich, emotionsgeladen, kraftvoll und PINK. Das sind wohl die ersten Worte, die einem einfallen, wenn man an das Spielfilmdebüt von Nora Fingscheidt denkt. Die Nachwuchsregisseurin hat mit Systemsprenger ein eindringliches und beeindruckendes Drama geschaffen, welches auf der diesjährigen Berlinale ganz zu Recht den Silbernen Bären mit nach Hause nehmen durfte. Ein Grund dafür ist zunächst einmal die intensive Recherche, die sie für diesen Film betrieb. Beispielsweise besuchte sie auch Einrichtungen, die mit den hinter vorgehaltener Hand als Systemsprenger bezeichneten Kindern arbeiteten. Diesen Aufwand merkt man dem Film an, indem er eine unglaubliche Authentizität auf die Leinwand bringt, ohne dabei auch nur ein Stück vorverurteilend oder schuldzuweisend zu sein.
Starke Leistungen im gesamten Ensemble
Ein weiterer Grund sind die ausnahmslos fantastischen Schauspieler, die Fingscheidt für dieses Projekt gewinnen konnte. Da ist beispielsweise Bennis Mutter, die man trotz Ihrer Ausflüchte in leere Versprechen und Distanz zu Ihrer Tochter irgendwie doch versteht, weil Lisa Hagmeister (Meine Schwestern) den Zuschauer eben auch Unsicherheit, Angst, Überforderung und Verzweiflung spüren lässt. Oder Albrecht Schuch (Atlas) als Micha, der als Gegenpol zu Benni eine Dynamik mit in den Film bringt, dass man zunächst erstmal nicht anders kann, als seine ganze Hoffnung ebenfalls in ihn zu legen. Die Schwierigkeit und fast schon die Qual. die Distanz zu Benni zu wahren und nicht emotional befangen zu werden, spielt Schuch ebenfalls so gut, dass aus beginnender Hoffnung Unbehagen und in manchen Situationen sogar Angst wird, die sich ganz schleichend im Kinosaal ausbreitet.
Dass der Film einer der spannendsten dieses Jahres ist, hat Systemsprenger ganz klar natürlich auch Helena Zengel (Die Tochter) zu verdanken. Die Jungdarstellerin liefert für Benni eine Leistung, die man selten so im deutschen Kino gesehen hat, und man kommt nicht umhin sich hinterher zu fragen, woher Helena die schier endlose Energie nimmt und wie sie die oft überaus unangenehmen Momente für sich vorbereitet und verarbeitet hat. Von einem Augenblick auf den nächsten scheint sie förmlich zu explodieren. Dass genau das im Zusammenhang mit dem Trauma, welches Benni erfuhr – ihr ins Gesicht zu fassen, ist für sie das Schlimmste und triggert immer einen Wutausbruch – zu einem Moment führt, in dem einem augenblicklich der Atem stockt, zeugt abermals von der emotionalen Kraft, die der Film ausstrahlt und dass man sich diesem in keiner Sekunde entziehen kann.
Eine Überforderung in Pink
Aber nicht nur die Schauspieler sind herausragend, auch die Bild- und Farbgestaltung machen Systemsprenger zu einem, wenn auch unbehaglichen, cineastischen Hochgenuss. Fingscheidt gelingt es gekonnt, Situationen oder auch Bennis Gefühlslage ausdrucksstark wiederzugeben. Besonders auffällig wird es, wenn Benni in ihrer Lieblingsfarbe Pink mit Micha im Wald unterwegs ist. Sie sticht hervor – immer und überall. Dass sich das ändern könnte, wird einem schmerzlich gegen Ende des Films bewusst, als sie glaubt, bei Micha ihre Vertrauensperson gefunden zu haben, angekommen zu sein in einer schützenden Familie.
Am Ende ist Systemsprenger nicht nur ein gelungener Film über ein Mädchen, das im Grunde verzweifelt nach Liebe, Halt und Vertrauen sucht, sondern auch ein Fingerzeig auf ein System, welches völlig überfordert ist und paradoxerweise zwar davon spricht, dass emotionaler Halt und Stabilität im Umfeld wichtig wären, dann das Kind aber in Schlüsselmomenten wieder in die nächste Obhut entreisst.
Diese Rezension von Madeleine Eger wurde auf film-rezensionen.de erstveröffentlicht und von unserem Medienpartner Untergrund-Blättle übernommen.