Baugenossenschaften gibt es seit fast 150 Jahren, Baugemeinschaften seit mehreren Jahrzehnten. Sie sind also nichts Neues, haben aber in letzter Zeit stark an Bedeutung gewonnen – vor allem in München. Ist das eine vorübergehende Modeerscheinung oder ein dauerhafter Trend? Ein genauer Blick auf die Münchener Verhältnisse ist auch ein Blick in die Zukunft anderer Städte.
Von Günther Hartmann
Schaut man sich an, was die großen Bauträger in München während der letzten Jahre realisierten, dann hat man sofort einen Grund für den Boom von Baugemeinschaften und Baugenossenschaften gefunden: Die Wohnanlagen sind alle sehr großmaßstäblich, seriell, monoton und steril. Sie erzeugen Unbehagen statt Wohlbefinden. Eine gewisse ästhetische Qualität ist zwar durchaus vorhanden, doch die ist nicht das, was sich die meisten Menschen wünschen. Die meisten Menschen sehnen sich nach dem, was z. B. die Wohnanlage der Baugenossenschaft „Wogeno eG“ im Münchener Domagkpark auszeichnet: eine kleinteiligere Maßstäblichkeit, eine Gliederung in überschaubare Abschnitte, das Vorhandensein vielfältiger Begegnungs- und Gemeinschaftsräume, sichtbare Holzoberflächen.
Bauträger-Architektur strahlt Kälte aus. Die meisten Menschen sehnen sich aber nach Wärme – in der Architektur und in lebendigen Nachbarschaften.
Den Unterschied zwischen der Architektur von Bauträgern und der von Baugemeinschaften und Baugenossenschaften auf den Punkt zu bringen, ist gar nicht einfach. Es bietet sich ein begriffliches Gegensatzpaar an, das in der Architekturtheorie bisher unüblich ist: „warm“ und „kalt“. Die Bauträger-Architektur strahlt Kälte aus. Die meisten Menschen sehnen sich aber nach Wärme. Nach Wärme in der Architektur. Und nach der Wärme lebendiger Nachbarschaften. Wobei Architektur wiederum lebendige Nachbarschaften fördern oder verhindern kann. Lebendige Nachbarschaften entstehen eher nicht, wenn bei der Planung die Profitmaximierung im Mittelpunkt steht. Sie entstehen dann, wenn sie bei der Planung bewusst angestrebt werden.
Was auf dem Immobilienmarkt gerade geschieht
Die Runde gemacht hat in München die Geschichte einer jungen Familie, die nach einem Jahr aus einer Bauträger-Wohnung wieder auszog, weil sie keine Nachbarn hatte. Alle anderen Wohnungen standen leer. Das fand die junge Familie unangenehm – und nach einigen Monaten so unerträglich, dass sie sich einer Baugenossenschaft anschloss, um dann einige Zeit später in deren Neubauprojekt zu ziehen. Der Grund für die Leerstände lag aber nicht an der Qualität der Architektur, sondern daran, dass die Wohnungen nicht zum Wohnen, sondern als Geldanlage gekauft worden waren.
Es ist in München finanziell äußerst lukrativ, eine Wohnung teuer zu kaufen – und nach ein paar Jahren noch sehr viel teurer zu verkaufen. Oder nach dem Kauf mit der Vermietung zu warten, bis das Mietniveau deutlich höher liegt. Die Kaufpreise für Eigentumswohnungen stiegen in den letzten 10 Jahren um mehr als das Doppelte, die Mieten um die Hälfte.
Allein von Mitte 2017 bis Mitte 2018 nahm der durchschnittliche Kaufpreis neu gebauter Eigentumswohnungen von 8.023 auf 9.053 Euro/m2 zu, die monatliche Nettokalt-Miete in Neubauten von 19,34 auf 19,90 Euro/m2. Solch eine Miete ist aus Sicht der Mieter hoch, aus Sicht der Vermieter jedoch niedrig. Denn bei der Vermietung seiner Wohnung kann er im Jahr nur eine Einnahme von 240 Euro/m2 erzielen, während die rein marktbedingte Wertsteigerung seiner Wohnung mehr als 1.000 Euro/m2 beträgt. Da ist die Motivation, seine Wohnung zu vermieten, nicht mehr hoch. Keine Mieter, kein Ärger. „Spekulation“ wird dieses Geschäftsmodell auch genannt.
Spekulation funktioniert als Geschäftsmodell nur, weil die Preise auf dem Wohnungsmarkt explodieren. Die Nachfrage ist hoch, das Angebot niedrig
Die Spekulanten gelten in München inzwischen als die großen Buhmänner und Wurzel allen Übels. Die Initiative „#ausspekuliert“ veranstaltete im Herbst 2018 eine große Demonstration mit mehr als 10.000 Teilnehmern, die vom Oberbürgermeister ausdrücklich begrüßt wurde. Doch Spekulation ist nur die halbe Wahrheit. Denn sie ist nicht die Ursache für die fatale Entwicklung, sondern eine Folge davon. Spekulation funktioniert als Geschäftsmodell nur deshalb so gut, weil die Preise auf dem Wohnungsmarkt explodieren. Die Preise aber ergeben sich wie in der Marktwirtschaft üblich aus Angebot und Nachfrage. Die Nachfrage ist hoch, das Angebot ist niedrig, also steigen die Preise. Und es gibt eben immer noch genügend Menschen, die in der Lage und bereit sind, diese Preise zu bezahlen.
Dass die Wohnungspreise so stark steigen, ist keine Naturkatastrophe, die plötzlich ohne erkennbaren Grund über München hereinbrach, sondern die logische Konsequenz einer Neoliberalisierung der Stadtentwicklungspolitik – in München und überall. Neoliberalismus bedeutet: eine Glorifizierung des Konkurrenzdenkens, ein pseudoreligiöser Glaube an einen deregulierten Markt und entfesselten Wettbewerb. Seit den 1980er-Jahren prägt er unsere Wirtschaftspolitik, seit den 1990er-Jahren auch das kommunale Selbstverständnis.
Eine der Folgen: ein deutlich aggressiverer Standortwettbewerb. Das Hauptziel ist dabei, umsatzstarke Unternehmen mit gut verdienenden Mitarbeitern anzusiedeln. Denn die Gewerbesteuer und die Einkommenssteuer stellen mit jeweils rund 40 % die Haupteinnahmequellen der Kommunen dar. Unvermeidliche Konsequenz eines jeden Wettbewerbs ist aber: Es gibt Gewinner und es gibt Verlierer. Die Verliererstädte und Verliererregionen sind hinlänglich bekannt. München gehört zu den großen Gewinnern. Seit Jahrzehnten erzeugt es ein Überangebot an Gewerbeflächen und damit ein Überangebot an Arbeitsplätzen – und damit eine hohe Nachfrage nach Wohnraum. Verschärft wird die Situation, weil es bevorzugt umsatzstarke Unternehmen aus Zukunftsbranchen anwirbt – und mit ihnen gut und sehr gut verdienende Mitarbeiter.
Was München gerade erlebt, das ist eine selbst herbeigeführte Hypergentrifzierung: Die obere Mittelschicht verdrängt die untere Mittelschicht.
Was München gerade erlebt, das ist eine selbst herbeigeführte Hypergentrifzierung: Die obere Mittelschicht verdrängt die untere Mittelschicht. Denn die obere Mittelschicht verfügt über ein vielfach höheres Einkommen – und hat beim Wohnen zudem deutlich höhere Flächenansprüche. Doch die untere Mittelschicht verfällt nicht in Lethargie, sondern ist vital und intelligent genug, um aktiv nach Lösungen aus ihrer Misere zu suchen. Und die Lösungen sind: Baugemeinschaften und Baugenossenschaften. Deshalb erleben diese aktuell einen Boom. Und solange sich die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen nicht gravierend ändern, handelt es sich hier um keine vorübergehende Modeerscheinung, sondern um einen dauerhaften Trend.
Wie Baugemeinschaften funktionieren
Eine Baugemeinschaft (auch „Bauherrengemeinschaft“ oder „Baugruppe“ genannt) ist ein Zusammenschluss mehrerer privater Bauherrinnen und Bauherren zum Zweck der gemeinsamen Errichtung einer Wohnanlage oder eines mehrgeschossigen Wohngebäudes, also eines größeren Bauprojekts, das üblicherweise Bauträger realisieren. Drei Aspekte machen Baugemeinschaften attraktiv: Erstens der Wunsch nach hoher Wohnqualität und lebendiger Nachbarschaft. Zweitens die Möglichkeit, im Entwurfsprozess mitzureden und Wünsche einzubringen, statt Fertiges zu kaufen. Und drittens die geringeren Baukosten. Bei den Preisen auf dem freien Wohnungsmarkt ist eine Gewinnmarge von 15 bis 25 % für den Bauträger enthalten – eine hohe Summe. Diese können Baugemeinschaften sparen oder in eine höhere Bauqualität investieren.
Bis zur Fertigstellung des Bauprojekts – beim Grundstückskauf sowie während der Planungs- und Bauphase – ist eine Baugemeinschaft üblicherweise eine „Gesellschaft bürgerlichen Rechts“ (GbR). Mit der Fertigstellung löst sich die GbR auf und wird zur normalen „Wohneigentümergemeinschaft“ (WEG). Jede Bauherrin und jeder Bauherr ist dann Eigentümer einer exakt definierten Wohnung.
Finanziert werden muss das Bauprojekt komplett über die Einzelfinanzierungen, d. h. die Bauherrinnen und Bauherren müssen 100 % der Bausumme aufbringen. Das macht Baugemeinschaften zu labilen Gebilden. Schon der Wegfall eines Mitglieds kann zum Scheitern des Projekts führen, erst recht der Wegfall mehrerer Mitglieder. Denn meist stellt schon die Finanzierung der eigenen Wohnung einen gewaltigen Kraftakt dar. Muss dann auch noch eine weitere Wohnung anteilsmäßig mitfinanziert werden, so übersteigt das schnell die eigenen Möglichkeiten.
Wie Baugenossenschaften funktionieren
Eine Baugenossenschaft stellt einen „dritten Weg“ zwischen Eigentum und Mietverhältnis dar. Jedes Mitglied ist Vermieter und Mieter in einer Person.
Eine Baugenossenschaft (auch „Wohnbaugenossenschaft“ oder „Wohnungsbaugenossenschaft“ genannt) stellt einen „dritten Weg“ zwischen klassischem Eigentum und klassischem Mietverhältnis dar. Auch hier handelt es sich um einen Zusammenschluss von Bauherrinnen und Bauherren zur Realisierung eines größeren Bauprojekts, doch nach der Fertigstellung gibt es in diesem kein Wohneigentum, sondern nur Mietverhältnisse. Jedem Genossenschaftsmitglied gehört ein Teil der Genossenschaft, aber keine feste Wohnung. Die Wohnung wird von der Genossenschaft gemietet. Jedes Genossenschaftsmitglied ist also Vermieter und Mieter in einer Person.
Salopp ausgedrückt handelt es sich um eine Mischung aus den Prinzipien der Aktiengesellschaft und des Vereins: Jedes Mitglied kauft Anteile seiner Genossenschaft und bestimmt in demokratischer Form ihre Geschicke mit. Dabei hat jedes Mitglied eine Stimme, unabhängig davon, wie viele Genossenschaftsanteile es besitzt. Die Genossenschaftsanteile sind verkäuflich und vererbbar, die Wohnungen sind es nicht. Auch das Wohnrecht nicht. Die Wohnungsvergabe erfolgt durch die Genossenschaft entsprechend ihrer Satzung. Die Dauer der Mitgliedschaft ist ein entscheidendes Kriterium, um eine neu errichtete oder frei werdende Wohnung zu erhalten.
Eine Genossenschaft ist ein Wirtschaftsunternehmen. Allerdings ist dessen Zweck nicht die Gewinnmaximierung, sondern das Wohl seiner Mitglieder
Eine Genossenschaft – genauer gesagt: eine „eingetragene Genossenschaft“ (eG) – ist ein Wirtschaftsunternehmen und auf Dauerhaftigkeit angelegt. Allerdings ist dessen Zweck nicht die Gewinnmaximierung, sondern das Wohl seiner Mitglieder. Bei Baugenossenschaften bedeutet „Wohl“: preiswertes, sicheres und qualitätsvolles Wohnen. „Preiswert“ heißt: aktuell rund ein Drittel unter dem aktuellen Mietniveau von Neubauten. „Sicher“ heißt: Schutz vor Mieterhöhung und Kündigung. „Qualitätsvoll“ heißt: gestalterisch hochwertige Architektur mit vielen Gemeinschaftseinrichtungen wie Dachgarten, Waschküche, Werkstätten, Musikübungsraum, Bibliothek, Fitnessraum, Sauna, Gästezimmern und anderem.
Bei der Finanzierung eines Bauprojekts ist es ein enormer Vorteil, kein provisorisches Konstrukt wie die GbR der Baugemeinschaften zu sein. Denn als ein auf Dauer angelegtes Wirtschaftsunternehmen kann eine Genossenschaft selber Kredite aufnehmen. Üblicherweise finanziert sie rund 75 % der Baukosten selbst und tilgt den Kredit mit den künftigen Mieteinnahmen. Die Genossenschaftsmitglieder bzw. künftigen Bewohnerinnen und Bewohner müssen deshalb nur rund 25 % der Baukosten finanzieren. Banken gewähren niedrige Kredite wesentlich einfacher. Und die KfW bietet dafür ein eigenes Förderprogramm mit zinsgünstigen Krediten an.
Konkretes Beispiel: Beim aktuell entstehenden Bauprojekt der jungen „Bürgerbauverein München eG“ in der ökologischen Mustersiedlung im Prinz-Eugen-Park betragen die Baukosten 5.000 Euro/m2, sodass die künftigen Bewohner 1.250 Euro/m2 selber „beisteuern“ müssen. Wie schon erwähnt, werden auf dem freien Wohnungsmarkt aktuell durchschnittlich 9.000 Euro/m2 verlangt. Das ist für Wohnungssuchende mehr als 7-Fache. Die 4.000 Euro/m2 Differenz zwischen Baukosten und Marktpreis sind allerdings nicht nur das Resultat überzogener Gewinnmargen der Bauträger, sondern rühren auch daher, dass der „Bürgerbauverein München eG“ und die anderen Baugenossenschaften frühzeitig Vorverträge mit der Stadt München abgeschlossen hatten und dabei der damals aktuelle Grundstückswert als späterer Kaufpreis verbindlich vereinbart wurde. Denn die Münchener Grundstückspreise haben sich in den letzten 10 Jahren verdreifacht.
Welche Bedeutung die Kommunalpolitik hat
Auf der Grundlage eines Stadtratsbeschlusses vergibt die Stadt München 40 % ihrer Grundstücke an Baugemeinschaften und Baugenossenschaften: rund 10 % an Baugemeinschaften und rund 30 % an Baugenossenschaften. Zudem verkauft sie ihre Grundstücke nicht an die schnellsten oder meistbietenden Interessenten, sondern an diejenigen mit dem besten Konzept. „Konzept“ bedeutet: die verbindliche Zusage, bestimmte städtebauliche, soziale und ökologische Kriterien zu erfüllen.
Doch wer 40 % seiner Grundstücke an Baugemeinschaften und Baugenossenschaften verkaufen möchte, der sollte auch dafür sorgen, dass es davon genügend gibt. Deshalb unterstützt die Stadt München deren Gründung über ihre im Herbst 2014 gegründete „Mitbauzentrale“. Die berät Interessenten kostenfrei und begleitet sie mit profundem Fachwissen. Zudem betreibt sie eine große Projektbörse. Dies führte bislang zu 14 Neugründungen von Baugenossenschaften. Und 5 weitere stehen aktuell vor ihrer Gründung. Zum Vergleich: Als die „Mitbauzentrale“ ihre Arbeit aufnahm, lag in München die letzte Gründung einer Baugenossenschaft bereits über ein Jahrzehnt zurück.
Baugenossenschaften zeichnen sich durch eine starke Durchmischung verschiedener Einkommensschichten und Altersgruppen aus, durch eine große Bewohnervielfalt auf engem Raum – ein wichtiger Faktor zur Vermeidung sozialer Brennpunkte und zur Entstehung einer lebendigen, toleranten und offenen Gesellschaft.
Dass die Baugenossenschaften dreimal so viele Grundstücke erhalten wie Baugemeinschaften, hat mehrere Gründe: Erstens sind Baugenossenschaften bleibende Akteure auf dem Wohnungsmarkt, d. h. sie realisieren in der Regel nicht nur ein Projekt, sondern anschließend weitere Projekte, während sich Baugemeinschaften nach der Fertigstellung ihres Projekts auflösen und als Akteure vom Wohnungsmarkt verschwinden. Zweitens sind Baugenossenschaften robustere Gebilde, d. h. das Risiko, dass sie scheitern, ist sehr viel geringer als bei Baugemeinschaften. Und drittens zeichnen sich Baugenossenschaften durch eine starke Durchmischung verschiedener Einkommensschichten und Altersgruppen aus, durch eine große Bewohnervielfalt auf engem Raum – ein wichtiger Faktor zur Vermeidung sozialer Brennpunkte und zur Entstehung einer lebendigen, toleranten und offenen Gesellschaft.
Doch warum unterstützt die Stadt München eigentlich so massiv die Neugründung von Baugenossenschaften, wo es doch bereits zahlreiche alte Baugenossenschaften mit langer Tradition gibt? Die Antwort ist simpel: Fast alle alten Baugenossenschaften bauen schon lange nicht mehr. Spricht man Wohnungsmarkt-Experten auf sie an, so verfinstert sich ihre Miene und es fallen Begriffe wie „lustlos“, „mutlos“, „faul“, „verstaubt“, „verknöchert“ und „egozentrisch“.
Tatsache ist: Fast alle alten Baugenossenschaften besitzen keinerlei Know-how mehr, was das Bauen betrifft, und begnügen sich mit dem Verwalten und Sanieren ihres großen Wohnungsbestands, in dem die Miete teilweise noch zwischen 5 und 6 Euro/m2 beträgt. Die Eltern melden ihre Kinder sofort nach der Geburt als Mitglied bei der Genossenschaft an, sodass sie später, wenn sie erwachsen sind, aufgrund ihrer dann bereits langen Mitgliedschaft ein Anrecht auf eine frei werdende Wohnung haben. Geschlossene Gesellschaften also. Für den Bau neuer Wohnungen sehen fast alle alten Baugenossenschaften keinen triftigen Grund. Deswegen bleibt der Stadt München gar nichts anderes übrig, als auf den Elan neuer Baugenossenschaften zu setzen und deren Gründung zu fördern.
Welche Risiken gemeinschaftliches Bauen birgt
Bei einem sich oft über mehrere Jahre hinziehenden Prozess der Gruppenbildung, Planung und Realisierung kommt es zwangsläufig zu Konflikten – zwischen Mitgliedern und zwischen verschiedenen Zielen und Wünschen. Die Möglichkeit, beim Entwurfsprozess mitzureden, regt zudem die Fantasie an und weckt hohe Erwartungen, die sich dann nur zum Teil oder gar nicht erfüllen lassen. Enttäuschungen sind vorprogrammiert. Die Stunden der Wahrheit sind der Vorentwurf, die Wohnungsvergabe, der Kostenvoranschlag und das Bankgespräch.
Nur Kommunen haben ein Interesse daran, Grundstücke nicht an die Schnellsten und Meistbietenden zu verkaufen, sondern an diejenigen, die sich für eine positive Ortsentwicklung am besten eignen.
Baugenossenschaften sind die wesentlich robusteren Konstrukte. Bei Baugemeinschaften ist das Risiko eines Scheiterns sehr viel größer, weil die finanziellen Aufwendungen der künftigen Bewohner vielfach höher sind. Und somit lassen sich auch Nachfolger für aus dem Projekt Aussteigende nicht so schnell finden. Ein Grundstück kann nur bis zu einem bestimmten Termin erworben werden – und bis dahin muss die Gruppe komplett und die Finanzierung gesichert sein. Viele Baugemeinschaften scheitern, weil sie zum Termin für den Grundstückskauf nicht genügend Mitglieder haben. Aus dieser Fragilität wird auch klar, dass als Grundstücksverkäufer eigentlich nur Kommunen infrage kommen. Denn nur sie haben ein Interesse daran, Grundstücke nicht an die Schnellsten und Meistbietenden zu verkaufen, sondern an diejenigen, die sich für eine positive Ortsentwicklung am besten eignen.
Wie Baugemeinschaften und Baugenossenschaften ticken
Wer sich auf partizipative Bauprozesse einlässt, ist kein passiver Konsument, sondern ein aktiver Gestalter.
Partizipative Bauprozesse sind anstrengend, manchmal auch konfliktreich und abenteuerlich. Wer sich darauf einlässt, ist kein passiver Konsument, sondern ein aktiver Gestalter. Soziale Kompetenz ist eine notwendige Voraussetzung. Der lange, beschwerliche Weg schweißt die Mitglieder zu einer Gemeinschaft zusammen.
Eine Affinität zu gemeinschaftlichen und ökologischen Konzepten ist bei vielen Baugemeinschaften und Baugenossenschaften erkennbar, allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt. Baugemeinschaften bestehen meist aus jungen Familien, die klare Eigentumsverhältnisse und etwas Verkauf- und Vererbbares wollen. Sie sind relativ homogen bezüglich Einkommen und Lebensphase. Baugenossenschaften dagegen sind deutlich heterogener. Neben Familien gibt es hier auch viele junge und ältere Singles sowie Rentner. Der Wunsch nach lebendigen Nachbarschaften ist hier seit jeher viel stärker ausgeprägt. Während bei Baugemeinschaften Gemeinschaftsräume eher die Ausnahme sind, sind sie bei Genossenschaftsbauten meist üppig vorhanden.
Der Charakter von Baugemeinschaften und Baugenossenschaften ist jeweils stark von den Persönlichkeiten ihrer Gründungsmitglieder geprägt. Sie sind die „Macher“ und ziehen aufgrund ihrer Vorstellungen bestimmte Menschen an – und schrecken andere eher ab. So verfestigt sich der Charakter gruppendynamisch.
Vor allem Baugenossenschaften haben eine eigene Identität, ein eigenes Selbstverständnis, personifiziert durch ihre gewählten Vorstände und schriftlich definiert in ihrer Satzung. Manche Baugenossenschaften – wie z. B. in München die „Wagnis eG“ und die „Kooperative Großstadt eG“ – sind sehr experimentierfreudig, suchen nach neuen Formen gemeinschaftlichen Wohnens und realisieren diese mit ungewöhnlichen Grundrissen. „Weniger ist mehr“ lautet hier das Motto: Ein Weniger an individueller Wohnfläche ermöglicht ein Mehr an Wohn- und Lebensqualität für alle.
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Onlinetipps
Landeshauptstadt München
Gemeinschaftliches Bauen
Wohnungsbaugenossenschaften und Baugemeinschaften
www.t1p.de/u5bg
Stattbau München GmbH
Mitbauzentrale München
Beratung für gemeinschaftsorientiertes Wohnen
www.mitbauzentrale-muenchen.de
Wagnis eG / Urbanes Wohnen e.V.
Die deutsche Genossenschaftsidee
Festschrift, November 2017
www.t1p.de/0y3j
Oberste Baubehörde
Gemeinschaftlich nachhaltig bauen
Forschungsbericht, Januar 2017
www.t1p.de/63zi
Frank Kaltenbach
Besitzt du noch oder lebst du schon?
Münchner Feuilleton, Januar 2017
www.t1p.de/03oh
Günther Hartmann, Jahrgang 1965, studierte Architektur, arbeitete nach dem Diplom zunächst in verschiedenen Architektur- und Stadtplanungsbüros, seit 2008 dann hauptberuflich als Journalist. Seit 2006 ist er Verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift „ÖkologiePolitik“. Zudem ist er seit Anfang 2017 Mitglied in zwei neu gegründeten Münchener Baugenossenschaften.
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 180 der Zeitschrift „ÖkologiePolitik“:
https://www.oekologiepolitik.de/pdf-archiv/
Die Online-Version erschien am 19.07.2019 auf der Internetseite der Zeitschrift: https://www.oekologiepolitik.de/2019/07/19/gemeinschaftliches-bauen-boomt/
Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Publikation.