Die Türkei erhält trotz allen US-Warnungen das russische Abwehrsystem S-400 und wird vom F-35-Kampfjet-Programm ausgeschlossen.
Am 12. Juli 2019 traf im Luftwaffenstützpunkt Mürted unweit der türkischen Hauptstadt Ankara die erste Lieferung des hochentwickelten russischen Raketenabwehrsystems S-400 ein – und das ganze Ereignis wurde vom staatlichen Fernsehsender live und in voller Länge ausgestrahlt. Nie zuvor hatten die türkischen Generäle Lieferungen von Rüstungsgütern, welcher Art auch immer, mit der Öffentlichkeit geteilt. Diesmal sollte es aber anders werden: Präsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete den Kauf der russischen S-400 als den «wichtigsten Deal in der jüngsten Geschichte der modernen Türkei» und wollte «seine Nation» an diesem Erfolg teilhaftig machen. Das russische S-400 sei «das beste Verteidigungssystem gegen alle, die unsere Heimat angreifen wollen“», versicherte er drei Tage später einer Menge begeisterter Zuhörer. Welche «Feinde» genau in der Lage wären, die Türkei mit modernen Raketen anzugreifen, liess der Präsident offen.
Kollision in der Zeitlupe?
Die in der Türkei demonstrativ zur Schau getragene Freude über den Kauf der russischen Waffen löste in den USA zunächst Ratlosigkeit aus. US-Präsident Donald Trump hatte offensichtlich bis zuletzt gehofft, seinen türkischen Amtskollegen, den er nach eigenen Beteuerungen «ja besonders mag», vom Kauf des russischen S-400 abbringen zu können. Am Dienstagabend kündigte Trump aber persönlich an, dass die Türkei die amerikanischen Tarnkappenjets F-35 nicht erhalten würde. Einen Tag später erklärte das Pentagon den formellen Ausschluss der Türkei aus dem Programm des F-35. Die türkische Führung sei oft genug gewarnt worden, sich für die S-400 oder für die F-35 zu entscheiden, hiess es nun trocken aus dem Pentagon: «Beides kann die Türkei nicht haben».
Für die türkische Führung war der Ausschluss ihres Landes ein demütigender Akt: Die Türkei war seit 1999 einer der Partner beim Bau der Lockheed-Martin-Maschine, hatte mehr als 100 Flugzeuge bestellt und bereits über eine Milliarde Dollar für die Produktion ausgegeben. Aus Sicht der Pentagon- und der NATO-Strategen hatte sich die Türkei mit dem Kauf des S-400 aber ein russisches Spionage-Instrument ins Haus geholt. Und sie hatte zudem die Verpflichtungen der NATO-Mitglieder untereinander, sich von russischen Systemen fernzuhalten, untergraben.
Wie wird die NATO wohl auf den Kauf reagieren? Am Donnerstag unterstrich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zwar, dass der Beitrag der Türkei bei NATO-Missionen in Syrien, Kosovo und Afghanistan sehr wichtig war, gab aber gleich auch zu, dass die Lage nicht gut sei: «Sie ist sehr schlecht für uns alle». Die NATO hat bislang kein einziges Mitglied aus der Allianz vertrieben.
Eine Frage von existenzieller Bedeutung?
Der Konflikt zwischen den USA und der Türkei um das russische Abwehrsystem S-400 eskaliert unkontrolliert weiter – und mutet wie eine Zeitenwende an. Die vom staatlichen Fernsehen ausgestrahlten Bilder des S-400 erinnerten beispielsweise Yavuz Baydar, Chefredakteur des oppositionellen internet-Portals Ahval, an den 5. April 1946, als das amerikanische Schlachtschiff USS-Missouri in Istanbul vor Anker ging. Die USS-Missouri hatte die ausserordentliche Mission, die Gebeine des türkischen Diplomaten Mehmet Munir Ertegun aus New York in seine Heimat zu bringen. Ins Kollektivbewusstsein der türkischen Bürger wurde jener Besuch aber als der Moment eingebrannt, der damals in ihrer Region die «neue Weltordnung» eingeleitet hatte. Keine sechs Jahre später war die bis dahin neutrale Türkei Vollmitglied der NATO. Der Kauf der S-400 könnte laut Yavuz Baydar, wie damals der Istanbuler Besuch der USS-Missouri im April 1946, eine neue Ära in der aussenpolitischen Ausrichtung der Türkei signalisieren – nur diesmal umgekehrt.
«Was haben sie über den Kauf von S-400 nicht alles erzählt?» fragte Präsident Erdogan seine Zuhörer in einem rhetorischen Frage-Antwort-Spiel am 15. Juli 2019. Abertausende Istanbuler waren auf sein Geheiss am alten Flughafen «Atatürk» zusammengekommen, um des 3. Jahrestages des gescheiterten Putschversuchs von 2016 zu gedenken. Wenn der Präsident neuerdings mit einem leichten Unterton der Verachtung von «sie» spricht, dann meint er meist die Amerikaner, gelegentlich aber auch andere westliche Staaten. «Sie sagten, die Türkei würde die russischen S-400 nicht erhalten, die Türkei dürfe sie nicht erhalten, die Türkei würde sie ungebraucht in ein Drittland stationieren – und was ist passiert? Die Türkei hat sie erhalten und hat gar vor, die S-400s gemeinsam mit Russland zu produzieren.» Dann kündigte er an, dass die S-400 «mit Gottes Erlaubnis» bis April 2020 operationsbereit sein würden. Auf diese Weise stilisierte Präsident Erdogan den Streit um den Kauf des russischen Verteidigungssystems zu einer Frage der «nationalen Souveränität» und der «Unabhängigkeit», der von Wünschen und Geboten der westlichen Alliierten unabhängigen Entscheidungen.
Der Chef der ultranationalistischen Partei MHP Devlet Bahceli ging gar einen Schritt weiter: Er appellierte an die Bevölkerung, sämtliche Bedenken, Warnungen und Drohungen aus den USA zu ignorieren. «Entweder unterwerfen wir uns diesen Drohungen und verlieren unsere Ehre oder wir bekommen die S-400». Die Anschaffung des russischen Systems sei
für die Türkei schlichtweg «zu einer existentiellen Frage» geworden. Die Erklärungen der zwei Regierungsalliierten Erdogan-Bahceli lassen eine klare Abwendung der Türkei von der westlichen Welt erahnen.
Aber nicht nur: Eine Umfrage der Istanbuler Universität Kadir Has von Anfang Juli belegt, dass auch eine Mehrheit der Bevölkerung diese Entscheidungen trägt. Demnach begrüssen über 44 Prozent der Befragten den Kauf des russischen Systems. Über 80 Prozent von ihnen betrachten die USA als die «grösste Bedrohung» für ihr Land.
Unumkehrbare Entfremdung
Die dramatische Entfremdung der Türkei von der westlichen Welt wird offiziell auf die «strategischen Fehlentscheidungen» der USA zurückgeführt. Die Türkei habe sich um die Beschaffung des Patriot-Abwehrsystems PAC-3 im Wert von 7,8 Milliarden Dollar bemüht, was der ehemalige US-Präsident Barak Obama und der Kongress strikt abgelehnt hätten, behauptet bei jeder Gelegenheit Recep Tayyip Erdogan, weiss allerdings, dass es sich um eine Halbwahrheit handelt. Die regierungsnahe Presse begründet diesen Vertrauensschwund mit der Unterstützung der USA für die Kurden. Die amerikanische «Unterstützung für diesen Non-state-Akteur in Syrien ist bedingungslos» schrieb unlängst der Politologe Ali Demirtas im regierungsnahen Magazin «National Interest». Und «dies war Washingtons bislang grösster, strategischer Fehler». Demirtas wie die meisten Erdogan-nahen Kommentatoren dürften dabei vergessen haben, dass die USA die Allianz mit den Kurden eingingen, geradezu weil die Türkei dem Vormarsch des Islamischen Staaten (IS) in Syrien monatelang tatenlos, fast wohlwollend, zugeschaut hatte.
Die Entfremdung der Türkei von der westlichen Welt führt der linksliberale Intellektuelle Yavuz Baydar hingegen auf eine bewusste politische Entscheidung der türkischen Elite zurück: Nach dem Zusammenbruch des Warschau-Paktes und dem Ende des Kalten Kriegs sei es der Türkei nicht gelungen, «sich zu einem demokratischen Rechtsstaat zu transformieren», schreibt er in seiner Kolumne. Jahrzehntelang hätten türkische Generäle und Politiker behauptet, die Türkei sei ein Spezialfall und müsste deshalb speziell behandelt werden, hätten sich strikt geweigert, den brennenden Kurdenkonflikt ihres Landes anders anzusehen als nur als Sicherheitsproblem und scheiterten immer wieder daran, die für einen EU-Beitritt der Türkei benötigten Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Drei Jahrzehnte lang machten sie für all ihre Misserfolge und Unzulänglichkeiten allein den «Westen» verantwortlich – und dies habe seine Spuren auf die Gesellschaft hinterlassen. Seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 sei eine unheimliche Allianz der sogenannten Eurasiaten an der Macht, die sich für einen radikalen Kurswechsel stark mache. Die Eurasiaten seien heute in den höchsten Rängen der Armee sowie der Politik vertreten.
Die Debatte, ob die Türkei noch der westlichen Welt zugerechnet werden könne, die nach der ersten Lieferung des S-400 in Ankara weltweit ausgebrochen ist, betrachtet der Politikwissenschaftler Gökhan Bacik als müssig. Er spricht von einer «neuen Realität in der Türkei». Die regierende Koalition zwischen den Islamisten der AKP und den Extremnationalisten der MHP sehnte sich schon lange nach «einer alternativen, globalen Ausrichtung, von der sie weniger Verpflichtungen in komplexen Fragen wie Rechtsstaatlichkeit, freie Marktwirtschaft und Demokratie» erwarte, sagt er. Die Weltgemeinschaft sollte sich deshalb eher fragen, ob es überhaupt möglich sei, «die Türkei in ihrer traditionellen pro-westlichen Position zu behalten, solange ihre Öffentlichkeit, ihre Eliten und der Staat so westen-feindlich eingestellt sind».
Amalia van Gent / Infosperber