Der britischen Regierung zufolge beweise die Verhaftung Julian Assanges, dass „niemand über dem Gesetz steht“. Dabei berufen sich Theresa May und ihre Politiker auf rechtsstaatliche Prinzipien, die sie selbst äußerst brutal brechen, nicht nur in Assanges Fall.

James O‘Neill erläutert exemplarisch vier Fälle, in denen sich die britische Regierung Verstößen gegen internationales Recht schuldig gemacht hat: bei den Kriegen gegen Afghanistan, den Irak und Libyen sowie bei der Zwangsumsiedlung der Bewohner des Chagos-Archipel im Indischen Ozean. Obwohl der Internationale Strafgerichtshof das Vorgehen in diesen Fällen verurteilt hat, wurde bislang kein einziger britischer Politiker zur Rechenschaft gezogen. Offensichtlich gibt es doch Menschen, die über dem Gesetz stehen.

von James O‘Neill

Als Reaktion auf die Festnahme und Verhaftung Julian Assanges durch die britische Polizei direkt aus der ecuadorianischen Botschaft sagte die britische Premierministerin Theresa May, die Festnahme beweise, „dass niemand über dem Gesetz steht“. Dieser Satz wurde mehrfach von Mitgliedern ihrer Regierung wiederholt.

Dies ist in der Tat ein grundlegendes Prinzip einer rechtsstaatlichen Gesellschaft — oder sollte es sein. Wenn jemand oder eine Gruppe von Personen das Gesetz überschreitet, sollten sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Dies sollte unabhängig vom Status dieser Person geschehen. Natürlich wissen wir, dass es sich hierbei um ein Ideal handelt, das nicht immer zur Anwendung kommt. Dafür gibt es reichlich Belege.

Ein damit verbundener Grundsatz ist die Unschuldsvermutung: Jeder ist so lange unschuldig, bis er seine Schuld entweder zugibt oder vom zuständigen Gericht unter Anwendung des Rechtsstandards „beyond a reasonable doubt“ (über jeden Zweifel hinaus) für schuldig befunden wird.

Ob Assange jemals ein faires Gerichtsverfahren erhalten wird, ist fraglich. Bis heute gibt es eine wahre Flut an voreingenommener Publicity noch vor der Verhandlung. Selbst der Richter, der für die Anklage wegen Assanges Verstoßes gegen die Kautionsauflagen zuständig war — in Bezug auf nicht existente Anklagen wegen sexueller Nötigung aus Schweden — hielt es für notwendig, Assange als „Narzissten“ zu beschreiben. Inwieweit diese Charakterisierung für einen Verstoß gegen Kautionsauflagen relevant sein soll, kann ich nicht nachvollziehen.

Der Richter verweigerte anschließend den Urteilsspruch und verwies Assange an ein höheres Gericht, das die Möglichkeit hat, eine zwölfmonatige Strafe statt einer sechsmonatigen zu verhängen, zu der ein einfacher Amtsrichter befugt ist. Assange hatte sechseinhalb Jahre in der ecuadorianischen Botschaft zugebracht, ein Arrest, den ein UN-Gremium als willkürlich und als Verstoß gegen seine Menschenrechte bewertete. Auch hier ist mir die juristische Rechtfertigung dafür schleierhaft, Assange für den angeblichen Verstoß gegen Kautionsauflagen wegen einer nicht existenten Anklage an ein höheres Gericht zu überweisen.

Über dem Gesetz — Fall 1: Afghanistan

Um auf Frau Mays arrogante Behauptung zurückzukommen, niemand stehe über dem Gesetz, so führt ihre Rhetorik unmittelbar zu der Frage: Wenn das tatsächlich wahr ist, warum stehen dann sie und Mitglieder ihrer Regierung und Mitglieder ehemaliger Regierungen nicht vor Gericht für die vielen und ungeheuerlichen Verstöße gegen internationales Recht, die aufeinander folgende Regierungen begingen? Werfen wir einen kurzen Blick auf nur vier Beispiele der jüngeren Vergangenheit, die, würde der Standard „niemand steht über dem Gesetz“ tatsächlich zur Anwendung kommen, die Reihen amtierender wie auch ehemaliger britischer Politiker rasch leeren würden.

Im Dezember 2001 marschierten die USA und ihre Verbündeten, darunter Großbritannien, in Afghanistan ein unter dem Vorwand, die Taliban-Regierung habe sich geweigert, Osama bin Laden, den angeblichen Drahtzieher der Terroranschläge vom 11. September in New York City und Washington DC, auszuliefern. Die Taliban-Regierung lehnte die Forderung der USA keineswegs ab — sie fragte lediglich nach Beweisen für bin Ladens angebliche Beteiligung an den Anschlägen. Solche Beweise sind schließlich die Grundvoraussetzung für eine „regelgestützte Rechtsordnung“. Die Beweise wurden nie zur Verfügung gestellt.

Wir wissen inzwischen, dass die Entscheidung, in Afghanistan einzumarschieren, im Juli 2001 gefällt wurde, zwei Monate vor den Terroranschlägen vom 11. September.

Die wahren Gründe für die Invasion und Besetzung Afghanistans lagen vielmehr in der Entscheidung der afghanischen Regierung, den Vertrag für eine vom Kaspischen Becken ausgehende Gas-Pipeline nicht mit einem amerikanischen Unternehmen abzuschließen, sondern stattdessen mit der argentinischen Bridas Corporation.

Siebzehneinhalb Jahre später sind die USA und Großbritannien noch immer in Afghanistan. Millionen von Afghanen waren gezwungen, außerhalb des Landes Zuflucht zu suchen, hauptsächlich im Iran und in Pakistan. Der Heroin-Handel, der unter den Taliban sehr eingeschränkt wurde, gedeiht nun unter dem Schutz der USA. Militärbasen werden sowohl als geheime Foltergefängnisse als auch als mögliche Ausgangspunkte für hybride Kriegsführung gegen ehemalige Sowjetrepubliken an der afghanischen Grenze und in der chinesischen Xinjiang-Provinz genutzt. Letztere ist ein wichtiger Teil der chinesischen Belt-and-Road-Initiative, die die USA bei jeder Gelegenheit aufzuhalten und zu unterwandern suchen.

Als ein Kläger des Internationalen Strafgerichtshofs 2017 seine Absicht verkündete, die Kriegsverbrechen zu untersuchen, die die USA und ihre Verbündeten angeblich in Afghanistan verübt hatten, reagierten die USA, indem sie den Ermittlern des Internationalen Strafgerichtshofs drohten und ihnen Visa verweigerten. Die May-Regierung hüllte sich angesichts dieses unverhohlenen Versuchs der Strafvereitelung in vollkommenes Schweigen — der Versuch selbst stellt bereits eine schwere Straftat dar.

Fall 2: Irak

Im Jahr 2003 zählte Großbritannien zu den tatkräftigen Unterstützern des Plans der Bush-Regierung, im Irak einzumarschieren, der zufälligerweise ein bedeutender Ölproduzent war. Es gab die üblichen Schwindeleien über angebliche Verletzungen von Resolutionen des UN-Sicherheitsrats durch den Irak, die bis auf den Golfkrieg von 1990 zurückgingen. Sie waren ebenso glaubwürdig wie die Märchen über die legendären irakischen Massenvernichtungswaffen.

Jegliche Zweifel, dass diese Invasion etwas anderes war als eine unverhohlene Regimewechsel-Operation, die andere Ziele verfolgte — darunter die Zerstörung eines der erklärten Feinde Israels, eine Stärkung der US-Position im Nahen Osten sowie die Übernahme der irakischen Ölproduktion durch große Unternehmen aus den USA und anderen westlichen Ländern — wurden unter anderem durch den von Großbritannien selbst in Auftrag gegebenen Chilcot-Bericht ausgeräumt.

Und wie viele Anklagen gab es für diesen illegalen Aggressionskrieg, der eine Gesellschaft vernichtete, für das Entstehen der IS-Plage sorgte, mehr als einer Million Zivilisten den Tod brachte und weitere Millionen in die Flucht trieb? Genau Null.

Fall 3: Libyen

Nach einer enormen Propaganda-Kampagne gegen das libysche Staatsoberhaupt Muammar al-Gadaffi, die zu beinahe 100 Prozent aus Fake News bestand, verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973. Diese autorisierte die Einrichtung einer erzwungenen Flugverbotszone über libyschem Gebiet und gewährte das Recht, „alle notwendigen Maßnahmen“ zur Verhinderung eines Angriffs auf Zivilisten zu ergreifen. Sie autorisierte hingegen nicht, was die NATO-Verbündeten Großbritannien und Frankreich als nächstes taten, nämlich massiv militärische Gewalt in Libyen einzusetzen.

Dies führte zur Zerstörung eines Landes, das bis dahin den höchsten Lebensstandard in Afrika genossen hatte, zur brutalen Ermordung seines Staatsoberhauptes ohne auch nur den Vorwand minimaler rechtlicher Standards, zu einem enormen Flüchtlingsstrom und zu einem andauernden Bürgerkrieg, in dem Großbritannien den langjährigen CIA-Agenten General Haftar unterstützt. Wie viele britische Politiker sind für diese mehrfachen Verstöße gegen das Völkerrecht zur Rechenschaft gezogen worden? Erneut — genau null.

Fall 4: Chagos-Archipel

In diesem Fall handelt es sich um ein einzigartig britisches Stück internationalen Banditentums, auch wenn es im Auftrag der USA durchgeführt wurde, die sich einen Militärstützpunkt im Indischen Ozean wünschten. Die Labour-Regierung Harold Wilsons kam diesem Wunsch nur allzu gerne nach. Die Kurzversion der Chronik des anhaltenden und systematischen Missbrauchs der Einheimischen des Chagos-Archipels lautet folgendermaßen: Ende der sechziger Jahre wurde Mauritius gezwungen, seine Verantwortung für die Bewohner des Archipels aufzugeben. Diese wurden anschließend unter entsetzlichen Bedingungen zwangsumgesiedelt. Dann wurde der Archipel den USA zu militärischen Zwecken übergeben. Es gibt stichhaltige Beweise dafür, dass die Hauptinsel des Archipels, Diego Garcia, als Geheimbasis für illegale Überstellungen und Folter genutzt wird.

Die vollständige Horrorstory hat der Internationale Strafgerichtshof sowie Craig Murray in einer hervorragenden Zusammenfassung dokumentiert.

Mit einer Mehrheit von 13 zu 1 befand der Internationale Strafgerichtshof, Großbritannien habe mehrere gesetzliche Verpflichtungen verletzt. Er wies alle Argumente zurück, die Großbritannien zur Rechtfertigung seines Vorgehens vorgebracht hatte. Die britische Regierung reagierte auf das Urteil des Gerichts, indem sie verkündete, sie werde dieses ignorieren.

Die Reaktion auf das Urteil des Internationalen Strafgerichtshofes bietet das bestmögliche Beispiel für die Diskrepanz zwischen Mays „Niemand steht über dem Gesetz“-Rhetorik und der Realität, der sich die Opfer von Intrigen der Mächtigen täglich gegenüber sehen.

Auch wenn dies möglicherweise nur ein schwacher Trost für Assange ist, so haben seine Erfahrungen doch geholfen, die Brutalität und die skrupellose Missachtung der rechtlichen und moralischen Grundsätze ans Licht zu bringen, die angeblich von jenen befolgt werden, die im britischen Unterhaus und andernorts scheinheiligen Unsinn verfechten.

Assange ist nicht das erste Opfer imperialer Gesetzlosigkeit. Sicher wird er auch nicht das letzte sein.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „[“No One is Above the Law:” You Have to be Kidding]“. Er wurde von Melina Cenicero aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert. Der Beitrag unter dem ‚Böcke als Gärtner‚ unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) von Rubikon übernommen.


James O’Neill ist Rechtsanwalt und Jurist, sein Spezialgebiet ist das Internationale Recht, Schwerpunkt Geopolitik. Er hat an der Universität von Bergen (Norwegen) und der Universität von Waikato (Neuseeland) gelehrt und war außerdem Gastprofessor an der Louvain la Neuve (Belgien). Er hat zwei Bücher und viele Artikel verfasst sowie Bewertungen in Fachzeitschriften und Kommentare in Publikationen in den USA, Europa und Australien geschrieben. Er ist zu erreichen unter joneill@qldbar.asn.au.