In Karlsruhe beginnt heute die mündliche Verhandlung zu den Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB, der professionelle Freitodbegleitungen unter Strafe stellt. Der Arzt und Sterbehelfer Uwe-Christian Arnold, der am vergangenen Freitag aufgrund seiner schweren Krebserkrankung selbstbestimmt aus dem Leben schied, formulierte noch am Vorabend seines Todes einen letzten, nachdrücklichen Appell an das Bundesverfassungsgericht, den wir hier im vollen Wortlaut veröffentlichen.
Sehr geehrte Damen und Herren, hohes Gericht!
Ich habe mir sehr gewünscht, zur mündlichen Verhandlung in Karlsruhe erscheinen zu können, aber leider ist mir dies aufgrund einer fortgeschrittenen Krebserkrankung nicht mehr möglich. Da ich in den letzten Jahrzehnten mehrere hundert Personen in den Tod begleitet habe, weiß ich genau, was in einer solchen Situation zu tun ist. Als Arzt und Sterbehelfer bin ich in dieser Hinsicht privilegiert, die meisten Menschen hingegen wissen nicht, wie sie mit ihrem Elend, ihrer Not, ihrem Schmerz, ihren Ängsten umgehen sollen und an wen sie sich in ihrer Notlage wenden können.
Ich denke, dass sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestags bei der Verabschiedung des „Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten, welche Verzweiflung sie mit dieser Entscheidung auslösten. Viele meiner langjährigen Patientinnen und Patienten sind in Tränen ausgebrochen, als sie erfuhren, dass ich ihnen wegen § 217 StGB nicht mehr helfen darf. Denn Sterbehilfe ist nicht zuletzt auch Lebenshilfe! Viele Menschen haben gerade dadurch wieder neue Kraft zum Leben gefunden, weil sie wussten, dass ich ihnen in einer ausweglosen Situation zur Seite stehen würde. Dieses Versprechen konnte ich nach Verabschiedung des Gesetzes nicht mehr einhalten, was mich persönlich sehr belastet hat.
Die meisten Ärztinnen und Ärzte in Deutschland haben – wenn überhaupt – nur sehr wenige Menschen beim Freitod begleitet, weshalb ihr Wissen auf diesem Gebiet rein anekdotisch ist und nur wenig Aussagekraft besitzt. Ich aber habe Hunderten von Menschen beim Sterben geholfen, so dass ich mit dem gesamten Spektrum an Leid konfrontiert wurde, das mit schwerwiegenden Erkrankungen unterschiedlichster Art einhergeht. Leider werde ich dieses Wissen wegen meiner eigenen schweren Erkrankung nicht mehr teilen können. Doch mein Buch „Letzte Hilfe – Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben“ gibt einen guten Eindruck von diesen unterschiedlichen persönlichen Schicksalen und auch von der Notwendigkeit einer humanen Sterbehilfe. Es ist, wenn Sie so wollen, mein politisches Testament.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand, der dieses Buch mit Herz und Verstand gelesen hat, weiterhin für eine Aufrechterhaltung von § 217 StGB eintreten kann. Deshalb bitte ich Sie, verehrte Richterinnen und Richter, beschäftigen Sie sich mit den individuellen Schicksalen, die in „Letzte Hilfe“ geschildert werden – und treffen Sie erst danach Ihre Entscheidung! Bitte verschließen Sie nicht die Augen vor der Realität, indem Sie sich vom „Mythos des natürlichen Todes“ blenden lassen. Wir alle werden irgendwann sterben müssen – und dies sollte mit Hilfe eines erfahrenen Arztes möglichst schmerzfrei und selbstbestimmt geschehen, nicht qualvoll und fremdbestimmt! Versagen Sie den Menschen nicht ihr „letztes Menschenrecht“ auf einen würdevollen Tod! Deshalb muss dieses „Sterbehilfeverhinderungsgesetz“, wie es mein Freund und Co-Autor Michael Schmidt-Salomon einmal genannt hat, unbedingt fallen: Es kann und darf in einer modernen, offenen Gesellschaft keinen Bestand haben!
Uwe-Christian Arnold,
11.4.2019