Was gut oder böse ist, bestimmen die Götter: So halten es Weltreligionen wie Christentum, Judentum und Islam. Lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass solche Konzepte von höheren Mächten als Moralhüter die Basis für das Entstehen früher Hochkulturen bildete. Doch nun belegt eine umfangreiche Studie, dass sich die Idee von moralisierenden Gottheiten erst bildete, nachdem sich die frühen Hochkulturen bereits etabliert hatten. Demnach haben die Religionen nicht die Gesellschaftsordnung geformt, sondern bereits Bestehendes stabilisiert.
Gebote, Verbote, Regeln und Strafen gehören ebenso zu den großen Religionen wie die Vorstellung einer übermächtigen Gottheit oder Kraft – sei es der christliche, jüdische beziehungsweise islamische Gott oder das Karma-Konzept im Buddhismus. Sie alle werden in komplexen Gesellschaften mit einer unüberschaubaren Anzahl von Mitgliedern verehrt. Kleineren Stammesgesellschaften dagegen liegt die Vorstellung fern, dass sich höhere Wesen um die Belange des Einzelnen kümmern würden. Zwar glaubt man dort in der Regel an Geister, die Opfer und Anbetung fordern. Doch diese interessieren sich nicht dafür, ob sich individuelle Stammesmitglieder sozial verhalten oder die Gemeinschaft schädigen.
In der Religionsgeschichte geht man davon aus, dass es vor den ersten Hochkulturen noch keine Religionen mit strafenden Mächten gab. Doch was war zuerst da, die neue Glaubens- oder die neue Gesellschaftsform? Darüber herrschte in der Forschung bislang Uneinigkeit. Viele Wissenschaftler vermuteten, dass die neue Glaubensform erst die Grundlage für komplexe soziale Systeme schuf: Moralisierende Religion als Motor des Fortschritts. Andererseits gab es gute Gründe für Zweifel, denn die Datenlage war alles andere als eindeutig.
Dass die Entwicklung in Wahrheit genau umgekehrt verlief, legt eine aktuelle Studie nahe, die ein internationales Forscherteam um Harvey Whitehouse, Pieter François und Patrick Savage von der University of Oxford nun im Fachjournal Nature veröffentlichten. In ihrer Untersuchung, der umfangreichsten ihrer Art, erhoben sie standardisierte historische Daten für 414 Kulturen, die sich in den letzten 10.000 Jahren in 30 Regionen der Erde entwickelten. Neben den religiösen Vorstellungen aller Gruppen listeten die Forscher in einem Index der gesellschaftlichen Komplexität 51 kulturelle und soziale Parameter, darunter Bevölkerungszahl, räumliche Ausdehnung und Gesellschaftsstruktur sowie Kulturtechniken – etwa Schrift – und Währungssysteme.
Ein bedeutendes Ergebnis: Moralisierende Gottheiten tauchen erst nach der Entstehung von „Megagesellschaften“ mit einer Bevölkerung über einer Million Menschen auf. Den frühesten Hinweis fanden Whitehouse und seine Kollegen in Ägypten um 2.800 vor unserer Zeitrechnung. Dort entwickelte sich die Vorstellung vom Weltkonzept „Maat“, das gleichermaßen Gerechtigkeit und kosmische Ordnung umfasste. Bekannt ist seine Rolle im Mythos vom ägyptischen Totengericht, wo das Herz des Verstorbenen mit einer Feder aufgewogen wird. Spätere moralisch orientierte Religionen fanden sich beispielsweise in Mesopotamien, China und der heutigen Türkei.
An all diesen Orten hatten sich bereits größere, anonyme Gesellschaften gebildet, in denen sich nicht mehr alle Mitglieder persönlich kannten, so das Ergebnis der Studie. Nach Ansicht der Forscher war damit ein bedeutendes Element der sozialen Kontrolle verloren gegangen. Betrug und andere antisoziale Verhaltensweisen hätten leichtes Spiel gehabt – wäre da nicht die Angst vor der strafenden Allmacht gewesen. „Moralisierende Götter stellen keine Voraussetzung für die Entwicklung komplexer Gesellschaften dar“, so das Fazit der Forscher. „Doch ist ein komplexes, multiethnisches Reich erst einmal gegründet, tragen sie zu seiner Erhaltung und weiteren Ausdehnung bei.“