Von Günter Grzega
Wenn man die Wirtschaftsnachrichten der letzten Wochen verfolgt, dann könnte man annehmen, dass doch in Deutschland alles ganz gut läuft. Die Arbeitslosenzahlen sinken und die Wirtschaftsdaten zeigen immer noch ein beachtlich hohes Niveau. Auch die aktuellen Bilanz-Pressekonferenzen der Finanzinstitute lassen, zumindest im Bereich der Genossenschaftsbanken und Sparkassen, keine akut krisenhafte Entwicklung erkennen.
Wenn man dann aber die Gesamtsituation im Finanzmarktbereich analysiert, dann wird deutlich, dass die seit der großen Finanzkrise 2008 aufgedeckten Risiken keineswegs im erforderlichen Umfang abgebaut wurden, sondern dass sogar entgegen der politischen Versprechungen nach dem Crash eine Ausweitung von sog. „Klumpen-Risiken“ plötzlich wieder als „sinnvoll“ betrachtet werden. Oder wie ist es zu verstehen, wenn 2009 nach der Rettung einiger vor der Pleite stehender Finanzkonzernen mit Steuergeldern, die dann automatisch zu einer höheren Staatsverschuldung führten, versprochen wurde, nie mehr Banken zuzulassen, die „too big to fail“, also zu groß, um sie scheitern zu lassen, aber nun politisch von einer Fusion von Deutscher Bank und Commerzbank debattiert wird?
Nichts gelernt aus der Finanzkrise von 2008?
Wieder einmal versucht man offensichtlich den schon in der Natur gescheiterten Weg der Dinosaurier, die vergebliche Hoffnung der Rettung durch Größe. Ebenso forsch forderten nach 2008 die Entscheider in der Politik, die Finanzmärkte streng zu regulieren und eine Finanztransaktionssteuer nicht nur zur Verhinderung von unsinnigen Wettgeschäften, sondern auch zur Transparenz von diesen Finanzwetten einzuführen. Aber nichts dergleichen wurde umgesetzt, außer eine kaum mehr zu überblickende Zahl von oftmals unsinnigen neuen Regulatorien für kleine und mittlere Banken und Sparkassen einzuführen.
Diese überbordende und offensichtlich als Beweis für politische Aktivität durchgeführte Regulatorik, führt inzwischen dazu, dass immer mehr kleine kerngesunde Kreditgenossenschaften oder Sparkassen fusionieren müssen, um die Kosten dieser unangemessenen Bürokratie zu schultern. Für die großen Bankkonzerne mit ihren eigenen Rechtsabteilungen bedeuten diese neuen Vorschriften keinerlei Überbelastung, und man kann davon ausgehen, dass sie mit großer Genugtuung feststellen, dass auf Grund dieser „Neben-Kriegsschauplätze“ kaum jemand bemerkt, dass in ihre Finanzwettgeschäfte nicht nachhaltig eingegriffen und keine Finanztransaktionssteuer eingeführt oder gar ein Trennbanken-System mit einer Zerschlagung der Konzerne in Geschäftsbanken und Investmentbanken ernsthaft politisch angegangen wurde.
Cum-ex, Cum-cum und die Verwahrlosung der Eliten
Ebenso wenig gab es eine umfassende Rückkehr zu den Normen von Ethik und Moral in einigen Bereichen der Finanzmärkte. Oder wie ist es mit Ethik und Moral zu vereinbaren, wenn durch die Rückerstattung nicht bezahlter Steuern mittels der sog. Cum-ex- und Cum-cum-Geschäfte allein in Deutschland ein finanzieller Schaden für den staatlichen Haushalt, also für alle Steuerzahler, von rund 31,8 Milliarden Euro entstanden ist und schon wieder neue Erstattungsstrategien für nicht bezahlte Steuern entdeckt wurden?
Die neu entdeckte Masche wird als „Cum-Fake“ bezeichnet. Dabei geht es um von Banken ausgestellte Papiere, die in den USA stellvertretend für ausländische Aktien, also z. B. auch deutsche Aktien, gehandelt werden. Grundsätzlich müssten für solche ADR-Papiere (American Depositary Receipts) echte Aktien hinterlegt werden. Großbanken und Aktienhändlern wird nun aber vorgeworfen, in den USA mehrere Millionen von ADR-Papieren herausgegeben zu haben, die nicht mit einer echten Aktie hinterlegt waren, also dafür auch keine Steuern gezahlt, aber dann eine Steuererstattung verlangt wurde. Gabor Steingart, ehemaliger Mitherausgeber des „Handelsblatt“, scheint doch nicht übertrieben zu haben, als er die Machenschaften in manchen Chefetagen der Wirtschaft als „Elitenverwahrlosung“ bezeichnete.
Übrigens, allein mit den ungerechtfertigten Steuererstattungen aus Cum-ex- und Cum-cum-Geschäften hätte unser Staat jeder Schule in Deutschland 1 Million Euro zusätzlich zur Verfügung stellen können. Und stellen wir uns einfach vor, dass die Aufdeckung dieser extrem gesellschaftsschädigenden Praktiken endlich eine grundsätzliche Änderung der aktuellen, auf Profit und Gier ausgerichteten Wirtschafts- und Finanzpolitik, einen Wandel hin zu einer am Gemeinwohl ausgerichteten Wirtschaftsordnung angestoßen hätte. Aber noch spürt man keinen Aufbruch bei den Eliten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Schüler*Innen, Unternehmen und Zivilgesellschaft sind bereit für den Wandel
Dass dieser Wandel überlebenswichtig ist, wird jedoch von Tag zu Tag deutlicher und auch die wunderbaren „Fridays-for-Future-Demonstrationen“ der Schülerinnen und Schüler zeigen es unmissverständlich auf: Die zerstörerische Ideologie des Neoliberalismus muss endlich überwunden werden oder wir fahren letztlich Klima und Umwelt und damit unser aller Zukunft, aber zuerst den Euro, Europa und damit unausweichlich auch Deutschland gegen die Wand. Und dafür gibt es ein bereits in der Praxis erfolgreich umgesetztes Konzept, nämlich das im Jahr 2011 von fünfzehn UnternehmerInnen als ähnliche „Graswurzel-Bewegung“ wie „Fridays-for-Future“ begonnene Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie (www.ecogood.org).
Inzwischen wird die Gemeinwohl-Ökonomie nicht nur von tausenden von UnternehmerInnen, Gemeinden, Universitäten, Privatpersonen etc. in Deutschland, Österreich und Europa unterstützt, sondern verbreitet sich auch in sog. „Energie-Feldern“ auch in Nord-, Mittel- und Süd-Amerika. Selbst der Nachweis der „gelebten“ Gemeinwohl-Ökonomie, nämlich die Erstellung einer auditierten und mit Punkten bewerteten „Gemeinwohl-Bilanz“, und zwar neben der Finanzbilanz, wird inzwischen von mehr als 500 Unternehmen und auch einigen Gemeinden in Deutschland und Europa praktiziert.
Die Gemeinwohl-Ökonomie wirtschaftet zum Wohl aller!
In der Gemeinwohl-Bilanz eines Unternehmens, einer Gemeinde etc. werden entsprechend der sich ständig in demokratischer Abstimmung weiter entwickelten Gemeinwohl-Bilanz-Matrix die festgelegten Werte „Menschenwürde – Solidarität und Gerechtigkeit – Ökologische Nachhaltigkeit – Transparenz und Mitentscheidung“ mit den Berührungsgruppen des Unternehmens, der Gemeinde etc., wie beispielsweise Lieferanten, Gesellschaftliche Umfeld, MitarbeiterInnen, verknüpft und bewertet. In dem 5-Minuten-Video der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung kann man sich das Grundverständnis der Gemeinwohl-Ökonomie schnell und unkompliziert aneignen.
Erste Schritte für ein neues Wirtschaftssystem
Selbstverständlich kann eine ideologisch verfestigte Wirtschaftsstrategie nicht von heute auf morgen umgestellt werden. Der Weg ist das Ziel! Und wir haben es doch geschafft, mit Übergangsfristen den Ausstieg aus der – ähnlich wie der Neoliberalismus – so zerstörerischen Atomenergie zu gestalten. Wie wäre es, wenn wir als ersten, wichtigsten und besonders dynamische Entwicklungen auslösenden Schritt die Vergabe von öffentlichen Aufträgen gesetzlich an die Voraussetzung koppeln, dass sich nur Unternehmen mit einer auditierten Gemeinwohl-Bilanz für öffentliche Aufträge bewerben können?
Selbstverständlich muss es hier wie beim Atomausstieg eine Übergangsfrist geben. Eine faire Geschichte wäre beispielsweise eine Frist für diese Bilanzerstellung bis spätestens zum 31.12.2024. Dabei dürfen wir sicher sein, dass nur die wenigsten Unternehmen bis zu diesem Zeitpunkt auf eine Gemeinwohl-Bilanz verzichten würden. Übrigens benötigt es auch keine Vorgabe von Mindest-Pluspunkten. Die Erfahrungen der inzwischen über 500 Unternehmen mit solchen Bilanzen zeigen, dass sich mit der erstmaligen Aufstellung eine unternehmensinterne Dynamik hin zu Gemeinwohlthemen insgesamt entwickelt, die automatisch zu immer besseren Ergebnissen führt.
Drei Kernfragen weisen den Weg
Nicht zu vergessen ist, dass das Thema Gemeinwohl-Ökonomie inzwischen auch in wichtigen Gremien der EU als zu unterstützende Wirtschaftsform angekommen ist. Ergänzen wir also die Forderung der „Fridays-for-Future-Bewegung“ mit dem Hauptziel der Rettung von Klima und Umwelt mit der persönlichen täglichen Forderung an jedes Mitglied in einem Kommunal-, Landes- und Bundes- oder Europa-Parlament zur verpflichtenden Einführung der „Gemeinwohl-Bilanz“ als „Daily-for-Future-Bewegung“. Die Gemeinwohl-Ökonomie stellt nämlich die grundsätzlich entscheidenden Fragen für alles Handeln von Unternehmen, Gemeinden, Institutionen und an jeden von uns:
Dient es den Menschen? – Dient es der Umwelt? – Dient es dem Frieden?
Die Zeit ist reif für einen Wandel!
Günter Grzega ist Diplom-Bankbetriebswirt und Diplom-Verwaltungsbetriebswirt. Er ist emeritierter Vorstandsvorsitzender der Sparda-Bank München eG, Vorsitzender des Ethik-Beirats der Bank sowie Botschafter der Gemeinwohl-Ökonomie. In seiner Amtszeit hat Grzega die Sparda-Bank München mit zur größten Genossenschaftsbank Bayerns geführt. Von 2010 bis 2015 war er Vorstandsvorsitzender des Senatsinstituts für gemeinwohlorientierte Politik (IGP). Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die Vorstufe zum Paradies für uns alle – Warum wir sie erreichen können und wie sie finanzierbar wäre“, geschrieben zusammen mit Sarah Benecke und Gunther Moll (erschienen im Papeto-Verlag, 2018).