Fast drei Jahrzehnte lang war es undenkbar, dass eines Tages die innerdeutsche Mauer fallen könnte. Doch plötzlich kam Bewegung in die Politik, die Mauer wurde geöffnet und wenig später sogar ganz abgerissen.

Fridays for Future

Vor sieben Jahren veröffentlichte ich gemeinsam mit meinem Sohn Benjamin die fiktive Geschichte einer „Kinderwagen-Revolution“, in der Kinder, Eltern und Großeltern mit Aktionen und Protesten auf die Straße gingen. Diese „Kinderwagen-Bewegung“ wuchs in nur wenigen Monaten so stark an, dass sich die Regierenden gezwungen sahen, die Kinderrechte in unserem Land zu gewährleisten.

Bis vor Kurzem dachte (und befürchtete) ich, dass eine solche „Märchengeschichte“, wenn überhaupt, frühestens in zwei bis drei Jahrzehnten Wirklichkeit werden könnte. Doch plötzlich entstand vor wenigen Monaten eine Bewegung, die niemand vorhersehen konnte. Sie heißt nicht „Kinderwagen-Revolution“, sondern Fridays for Future; ihr Thema ist nicht die Gewährleistung der in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte, sondern der Schutz unseres Klimas, die Umsetzung der international vereinbarten Klimaziele und damit der Erhalt der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten.

Ihr Erfolg steht aber noch weit „in den Sternen“. In der Kinderwagen-Revolution war der Gegner auch „nur“ das politische Establishment der Bundeshauptstadt. Deren Spitzenpolitiker „knickten“ unter dem sich im ganzen Land ausgebreiteten Druck der Straße ein, weil sie um ihre Wiederwahl und ihren Machtverlust bangten und deshalb lieber den „bitteren Apfel“ Kinderrechte schluckten, als abgewählt zu werden.

Im Gegensatz zu dieser „Kinderwagen-Geschichte“ sind die Gegner der Fridays for Future Bewegung aber um Gebirgskettenhöhe mächtiger. Es sind die wenigen superreichen Menschen, die weltweit stärksten Konzerne und Banken sowie die jeden Tag mit Billionen spekulierende Geld-Finanzwirtschaft. Diese haben nicht nur die Lobby-Politiker*innen in ihren Händen, sondern ebenfalls den größten Teil der Medien und damit beinahe die gesamte öffentliche Meinung.

Deshalb kann die Fridays for Future Bewegung, früher oder später, zum Scheitern verurteilt sein. Denn die Erwärmung unseres Planeten verspricht den Nutznießern des neoliberalen Finanz- und Wirtschaftssystems unglaublich hohe Gewinne, von der Ausbeutung jetzt noch unter Eis verborgener Bodenschätze, der Reparatur der „Umweltschäden“ – die natürlich wir Bürger*innen zu bezahlen haben – bis zur Verlagerung ganzer Millionenstädte, die durch den steigenden Meeresspiegel sonst nicht mehr bewohnbar wären.

Chemieunterricht

Bei der Sorge vor einem Scheitern fiel mir plötzlich wieder der Chemieunterricht meiner Schulzeit ein. Ein jedes Mal war ich beeindruckt wie begeistert, wenn mein Lehrer aus einer Substanz durch die Zugabe einer zweiten – beide für sich ganz harmlos und ungefährlich – ein Produkt mit völlig neuen Eigenschaften, oft sogar mit Explosion, lautem Knall und leuchtendem „Feuerblitz“, hervorzauberte.

Was für eine Energie konnte bei solchen chemischen Reaktionen entstehen! Bei dieser Rückerinnerung kam mir wenig später folgender Gedanke in den Sinn: Wie wäre es, die „erste Substanz“ – die Fridays for Future Bewegung – mit einer „zweiten Substanz“ zusammenzubringen, um daraus eine ausreichend hohe Energie und Wirkstärke zu erzielen und erfolgreich zu sein?

Da es in unserer heutigen Welt um die Gewinnmaximierung für die Besitzer der großen Unternehmen, Banken, Konzerne und Finanzderivate geht, sollte die „zweite Substanz“ eine Antwort auf das ungerechte und zerstörerische neoliberale Finanz- und Wirtschaftssystem bieten, deren Motto nicht „maximaler Gewinn für nur Wenige“, sondern „Wirtschaften zum Wohle aller“ ist. Und diese „zweite Substanz“ gibt es! Es ist eine erst vor wenigen Jahren entstandene und von Monat zu Monat stärker werdende Graswurzelbewegung, bei der sich ein jeder „von zuhause aus“ beteiligen kann und deren Ziel ein gutes Leben für uns alle ist.

Gemeinwohl-Ökonomie

Diese Bewegung heißt Gemeinwohl-Ökonomie. Sie ist ein ethisches Wirtschaftsmodell, welches die Umsetzung der Werte Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz in einer Kommune oder einem Unternehmen in einer eigenen, zusätzlich zur Finanzbilanz geführten Gemeinwohl-Bilanz dokumentiert.

Dies bedeutet in Politik und Wirtschaft Kooperation statt Konkurrenz, Nachhaltigkeit statt kurzfristigen Gewinn und Gemeinwohl statt Profit um jeden Preis. Denn bei allen politischen wie wirtschaftlichen Entscheidungen geht es in erster Linie darum:

Nützt es den Menschen, nützt es der Natur und dient es dem Frieden.

Damit wären Ressourcenverschwendung, Umweltverschmutzung und Vermüllung, Monokulturen und Artensterben, Massentierhaltung und Konsumrausch, Profit und Wachstum um jeden Preis – und das mit steigender sozialer Ungleichheit von unvorstellbarem Reichtum weniger und Armut vieler – nicht mehr möglich. Ebenso nicht mehr Regierungen und Parlamente mit ihren Parteispitzen und Lobby-Politiker*innen, denen es vor allem anderen um Posten, Macht und das Wohl der deregulierten Geld- beziehungsweise Finanzmärkte geht.

Die „chemische“ Reaktion – ein Appell an uns Erwachsene

Wir müssen – für die gute Zukunft unseres Planeten wie für ein gutes Leben für uns alle – Einsatz und Kraft der Fridays for Future Bewegung unserer Schüler*innen mit einer Gemeinwohl-Ausrichtung unserer Politik wie unseres Finanz- und Wirtschaftssystems zusammenbringen. Das heißt, zur „ersten Substanz“, dem Klimaschutz, den unsere Schüler*innen von Monat zu Monat immer lautstärker einfordern, wird von uns Erwachsenen als „zweite Substanz“ auf allen Ebenen die Gemeinwohl-Ökonomie als neues Wirtschaftsmodell eingeführt.

Dazu fordern wir – wenn es die Politiker*innen aus ihrer Verantwortung und ihrem Eid auf unser Grundgesetz heraus nicht schnellstens selbst umsetzen – als Bürger*innen und Wähler*innen mit allem Nachdruck die Einführung von Gemeinwohl-Kommunen, stellen als Geschäft, Unternehmer*in oder Bank eine Gemeinwohl-Bilanzierung auf und richten unsere tägliche Lebensführung – neben einem sozialen Miteinander – auf ökologische Nachhaltigkeit aus.

Dies bedeutet Änderungen im Kaufverhalten (nachhaltige Produkte und Dienstleistungen, und nur so viel, wie tatsächlich gebraucht werden), in der Ernährung (weitestgehend pflanzliche, biologische, regionale und saisonale beziehungsweise selbst angebaute Lebensmittel), in der Energie (Nutzung von Strom und Heizenergie aus erneuerbaren Quellen), in der Mobilität (Wahl umweltfreundlicher Verkehrsmittel) wie im Engagement für unsere Umwelt (andere Menschen ebenfalls zu ökologisch nachhaltigem Verhalten bewegen).

Dieses Reaktionsgemisch wird eine so große Energie entfachen, dass wir das Klima auf unserem Planeten gerade noch schützen, als auch unsere Menschlichkeit und Gesundheit erhalten können.

Wir Erwachsene dürfen unsere Schüler*innen, die jeden Freitag auf die Straße gehen, nicht alleine lassen. Wir müssen, auch „von zuhause aus“, selbst aktiv werden. Denn nur gemeinsam – dies ist meine Überzeugung – können wir die für die Zukunft entscheidende „chemische“ Reaktion mit Explosion, lautem Knall und leuchtendem „Feuerblitz“ hervorzaubern:

Fridays for Future + Gemeinwohl-Ökonomie = Klimaschutz und ein gutes Leben für uns alle.

Ich bin dabei.


Professor Dr. Gunther Moll ist Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen. Er setzt sich für die Rechte der Kinder ein. Gemeinsam mit seinem Sohn Benjamin veröffentlichte er 2012 im Papeto Verlag das Buch „DieKinderwagenRevolution“ und 2016 „Der Umbruch: Wie Kinder, Eltern und Großeltern unser Land veränderten“. 2018 publizierte er zusammen mit Sarah Benecke und Günter Grzega „Die Vorstufe zum Paradies für uns alle“. Gunther Moll ist politisch aktiv. Für die Freie Wählergemeinschaft Erlangen ist er im Stadtrat.

Der Originalartikel kann hier besucht werden