Von Deborah Ryszka

Gegner des bedingungslosen Grundeinkommens befürworten repressive Maßnahmen, da ihrer Meinung nach der Mensch von Grund auf faul sei. Das sind zurechtgestutzte Interpretationen. System- und individuumbedingte Notwendigkeiten werden zugunsten der eigenen Perspektive ausgeblendet.

Die Angst vor dem bedingungslosen Grundeinkommen

Das Experiment zum bedingungslosen Grundeinkommen (kurz BGE) in Finnland gilt vorerst als gescheitert. Das ist kein Wunder. Politischen und wirtschaftlichen Interessen, die maßgeblich die Richtung vorschrieben, ging es nicht um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern vielmehr um die Durchsetzung eigener Ideologien.

Wie aber könnte etwas gelingen, was von Anfang an zum Scheitern verdammt sein soll? Dennoch verdeutlicht das Beispiel Finnland, was viele aus dem Juste Milieu sich nicht auszusprechen trauen: Die Angst vor der Einführung eines BGEs.

Eine materielle bedingungslose Sicherung, die den Freiheitsraum jedes einzelnen Menschen erweitert, wäre gleichbedeutend mit einer Aberkennung gesellschaftlicher Macht. Es würde eine Begegnung zwischen Machthabern und Machtdienern auf Augenhöhe hervorrufen, und das Machtgefälle sowie das tragende Signum selbst, also die Macht an sich, als identitätsstiftendes Momentum zerschlagen. Für all jene, die nichts außer ihrer Macht besitzen, wäre dies ihr Untergang.

Sie würden sich in einer Welt der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Anerkennung als Mensch, fernab von materiellen oder ideologischen Grundlagen, vermutlich nicht zurecht finden und auch nicht mehr durchsetzen können. Womit auch? Die ökonomische Knute wäre ihnen aus der Hand genommen. Und weil sie um ihr eigenes Schicksal wissen, zetern sie choral in gemeinsamen Takt gegen das BGE und gleichzeitig für ihre Lebensgrundlage.

Die Verhaltensökonomie bietet Argumente für das bedingungslose Grundeinkommen

Experimente aus der Verhaltensökonomie, konkret das sogenannte Ultimatum- und Diktatorspiel (Bolton, Katok & Zwick, 1998; Güth, Schmittberger & Schwarze, 1982) – verstanden als praktische Anwendungen der Spieltheorie –, ermöglichen durch die Verknüpfung ökonomischer und psychologischer Annahmen ein realitätsnäheres Abbild menschlichen Verhaltens als die Vorstellung vom Homo oeconomicus [1], und konkretisieren das Machtdilemma der BGE-Gegner.

Worum geht es beim Ultimatum- und Diktatorspiel? In beiden Spielversuchen steht die Aufteilung einer bestimmten Geldsumme zwischen zwei Spielern im Fokus. Beim Diktatorspiel muss der eine Spieler das Angebot seines Gegenübers, egal wie ungerecht dieses sein sollte, stets annehmen. Der Diktator bestimmt einseitig die Summe, die ihm und seinem Mitspieler zukommt. Diese Zwangsakzeptanz entfällt beim Ultimatumspiel. Zwar offeriert auch hier eine Person einen bestimmten Geldbetrag, jedoch obliegt es dem Gegenüber dieses Angebot auszuschlagen, mit der Konsequenz, dass beide Personen leer ausgehen können, was üblicherweise bei relativ niedrigen Geldbeträgen der Fall ist (Hoffman, McCabe, Schachat, & Smith, 1994).

Vor diesem Hintergrund werden die Ängste der BGE-Gegner ersichtlicher. In ihrer gegenwärtigen – dem Diktator vergleichbaren – Position des Privilegierten, die ihnen aufgrund der materiellen Abhängigkeit der vielen anderen zukommt, setzen sie allein die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt fest. Durch die bestehende Bildungsinflation und dem einhergehenden Überangebot an Fachkräften drückten sie nicht nur die Löhne, sondern vernachlässigten zudem die Arbeitsbedingungen.

Die (von Erwerbsarbeit) Abhängigen akzeptierten diese Entwicklung. Nicht weil ihnen keine Wahl blieb, sondern aus Angst vor dem sozialen Abstieg, dem damit einhergehenden materiellen Verlust sowie der sozialen Ächtung.

Und dies, obwohl die Verführungskraft der materiellen Anreize wegen ihrer Niedrigschwelligkeit zunehmend schwindet, hingegen soziale Aspekte, wie ein angenehmes Arbeitsklima oder angemessene Arbeits- und Freizeiten, an Bedeutungskraft gewinnen.

Doch die sozialen Aspekte allein vermögen es nicht zunehmende Mietpreise, steigende Lebensunterhaltungskosten und dergleichen zu kompensieren. Hierzu bedarf es einer materiellen Grundlage, sollten die Arbeitsbedingungen, mit Wohlfühlkantine und sportlichem Check-up, auch noch so paradiesisch sein.

Das bedingungslose Grundeinkommen ermöglicht ein neues Verständnis von Humanismus

Hingegen wäre das Beziehungsgefüge durch die Einführung des BGEs dem Ultimatumspiel, mit einem idealen Lehrer-Schüler-Verhältnis, zu vergleichen. Beide Parteien besetzen gleichberechtigte Einflussräume und es liegt im Interesse des Lehrers, seinen Schützling nach bestem Gewissen zu fördern.

Dieses Gefüge wäre weit vom gegenwärtigen Beziehungssystem, dem zwischen Herrn und Knecht, entfernt, bei dem die Versklavung des einen den Vorteil des anderen bedeutet.

Übertragen auf die Arbeitswelt würde solch ein durch das BGE ermöglichtes Klima massive, aus humanistischer Perspektive jedoch notwendige Veränderungen seitens der Arbeitgeber erfordern. Arbeitsplätze müssten aufgrund des Fehlens eines primär finanziellen Anreizes – und denn damit verbundenen Abstiegsängsten – entsprechend entlohnt werden. Fehlt die monetaristische Honorierung der geleisteten Arbeit, könnten sich die Erwerbsabhängigen nach besseren Alternativen umsehen, was ihren Marktwert steigerte.

Zudem würden arbeitnehmerfreundliche Arbeitsbedingungen zum Standard, wie etwa verhältnismäßig-notwendige Überstunden sowie deren gerechte Bezahlung, aber auch eine höhere Entlohnung flexibler Arbeitskräfte, die jederzeit einsatzbereit sein müssen sowie von Schichtarbeitern, die gesundheitlichen Folgeschäden in Kauf nehmen.

Es ist ein menschliches Unding, dass gerade diese Berufsgruppen, insbesondere im Niedriglohnsektor und dem Care-Bereich, um ihre Existenz buhlen müssen. Welch ein Chaos würde wohl ausbrechen, legten die Straßenreinigung und Müllabfuhr für eine Woche ihre Arbeit nieder. Kaum zu denken an den Gestank, der sich in den Straßen entfalten würde.

Ähnlich sehe es im Care-Bereich aus. Eine Woche ohne Pflegepersonal und Abertausende Patienten würden sterben.

Archaische Strukturen und digitale Errungenschaften

Gesellschaftliche Kulturtransformationen, wie etwa der Digitalisierungsprozess, erfordern neue, an die Gegebenheiten angepasste, Lösungsansätze. Es ist wie bei einem Kind das aufgrund seines Wachstums mehrfach neue und passende Schuhe benötigt, um nicht in seiner Entwicklung gehemmt zu werden.

Gleiches gilt für die Gesellschaft und dem herrschenden Verständnis von Arbeit und der Arbeitswelt, die archaische Strukturen aus dem Industriezeitalter mit digitalen Errungenschaften ausrüsten möchte.

Maschinen und Computerprogramme übernehmen schon heute viele Aufgaben, die früher durch Menschenhand ausgeführt werden mussten. Das Ziel der Vollbeschäftigung ist ein politisch irreales Ziel, weil nicht umsetzbar im Angesicht ständiger Rationalisierung und Automatisierung, und in sich ohnehin völlig unlogisch, weil ein Arbeitsmarkt ohne Arbeitslose nicht funktioniert. Es muss ständig ein Pool von Arbeitssuchenden verfügbar sein, um kurzfristig Stellen besetzen zu können.

Die SPD und ihr Verständnis als Arbeiterpartei steht per exemplum für diese Diskrepanz zwischen digitalem Anspruch und archaischem Denken. Schließlich gibt es den typischen Arbeiter schon lange nicht mehr. Anstatt sich dieser Realität durch ein notwendig neues Selbstverständnis anzupassen und etwa zur Partei der (gefühlt) Abgehängten zu werden, reitet die sozialdemokratische Partei auf ihrem digitalen Wellentrip dem eigenen Untergang entgegen. Überall tönt es Digitalisierung, aber gelebt und gedacht wird wie zu Zeiten der Industrialisierung.

Diese nicht zeitgemäße Denkweise spiegelt sich in der Befürwortung von Strafen wider. Sie werden nicht nur im Hartz-IV-System als bessere Anreize gegenüber Belohnungen verstanden.

In der Tat replizieren neurowissenschaftliche Befunde etwa eine stärkere Gehirnaktivität und bessere Leistung junger Erwachsener zwischen 18 und 25 Jahren bei negativen und nicht positiven Rückmeldungen; hingegen bei Kindern im Alter von 8 bis 9 und 11 bis 12 Jahren den umgekehrten Befund (Van Duijvenvoorde, Zanolie, Rombouts, Raijmakers & Crone, 2008).

Hierbei wird jedoch vergessen, dass Kinder in dieser Altersgruppe weniger den sozialen Einflüssen des repressiven Systems durch Schulnoten oder Leistungsbewertung ausgesetzt sind und das spielerische Lernen im Vordergrund steht, wohingegen junge Erwachsene sich an das soziale System durch Internalisierung ihrer Leitwerte, wie dem der Bestrafung, bereits angepasst haben.

Folglich können die Ergebnisse der jungen Alterskohorte – im Gegensatz zu der älteren Gruppe – als der menschlichen Natur gerechter betrachtet werden, da soziale Einflüsse weniger das gezeigte Verhalten „verzerren“. Belohnung motiviert sehr wohl, sofern die Umstände es ermöglichen.

Ein bedingungsloses Grundeinkommens kann das repressive System in ein honorierendes transformieren

Mit der Einführung eines BGEs würde man den Verhältnissen nicht nur aus systemischer Sicht gerechter, nämlich einer Passung vom digitalen Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit, welches das System vor dem drohenden Aufplatzen bewahrte, sondern auch dem Entwicklungspotential der menschlichen Psyche.

Denn statt den Regeln eines repressiven würden diejenigen eines honorierenden Systems gelten, in dem nicht Angst sondern Freude der treibende soziale Kitt wäre. Statt eines „hinter-sich-bringen“ dominierte ein „vor-sich-haben“, statt Abstiegsängsten gebe es erblühende Aufstiegshoffnungen und statt Misstrauen herrschte zwischenmenschliches Vertrauen.

Obwohl schwer vorzustellen, ginge dies auch mit wirtschaftlichen Entlastungen einher, zum Beispiel durch eine Abnahme der Ausgaben im Gesundheitssektor, dessen Kosten im Bereich psychischer Erkrankungen eine maßgebliche Konsequenz systembedingter Repressalien sind.

So sind etwa psychische Erkrankungen nicht nur die zweithäufigste Ursache für Fehltage am Arbeitsplatz, sondern sie wirken sich grundsätzlich auf die Arbeitsfähigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aus. Doch zu viele Profiteure, von Psychotherapeuten, Ärzten bis zu Beratern und Trainern, saugen an dieser nie versiegenden Geldquelle, als dass sie aus Vernunftgründen freiwillig ihre systembedingte Nichtigkeit akzeptierten.

Um das einzelne menschliche Leben geht es schon lange nicht mehr. Zu abhängig und „krankgemacht“ sind die einzelnen Akteure von dem repressiven System, in dessen ökonomischen Teufelskreis sie sich bewegen. Lange kann diese Kombination aus dysfunktionalem System und kranken Menschen ohne folgenschwere Konsequenzen nicht mehr aufrecht gehalten werden.

Jetzt ist der Zeitpunkt für ein bedingungsloses Grundeinkommen

Der einzelne Mensch ist nicht mehr ausschließlich konsumorientiert, wie etliche Sharing-Konzepte und Eigenproduktionen auf YouTube und anderen Plattformen verdeutlichen, sondern produktiv-tätig unterwegs, was einen Wandel der psychischen Struktur impliziert.

Andererseits entgleiten wirtschaftliche, gesellschaftliche und bürokratische Prozesse mehr und mehr menschlicher Kontrolle. Die bereits unumkehrbar eingeleitete Kulturtransformation, angetrieben durch die Digitalisierung, erfordert neue Lösungen. Daher ist jetzt der richtige Zeitpunkt für die Einführung eines existenzsichernden BGEs.

 

Quellen und Anmerkungen
[1] Der Homo oeconomicus (Wirtschaftsmensch), der auch als rationaler Agent bezeichnet wird, ist in der Wirtschaftswissenschaft und Spieltheorie das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers. Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie gehen vom Modell eines ausschließlich wirtschaftlich denken Menschen aus. ↩

Weiterführende Literatur
Bolton, G., Katok, E., & Zwick, R. (1998). Dictator Game Giving: Rules of Fairness Versus Acts of Kindness. International Journal of Game Theory, 27(2), 269-299.

Van Duijvenvoorde, A., Zanolie, K., Rombouts, S. A. R. B., Raijmakers, M., & Crone, E. A. (2008). Evaluating the negative or valuing the positive? Neural mechanisms supporting feedback-based learning across development. Journal of Neuroscience, 28, 9495-9503.

Güth, W., Schmittbegrer, R. & Schwarze, B. (1982). An Experimental Analysis of Ultimatum Bargaining, Journal of Economic Behavior and Organization, 3(4), 367-388.

Hoffman, E., McCabe, K., Schachat, K., & Smith, V. (1994). Preferences, Property Rights, and Anonimity in Bagaining Games. Games and Economic Behavior, 7(3), 346-380.

 

Deborah Ryszka (Jahrgang 1989), M. Sc. Psychologie. Nach universitär-berufspsychologischen Irrwegen in den Neurowissenschaften und Erziehungswissenschaften nun mit aktuellem Lager in der universitären Philosophie. Sie versucht sich so weit wie möglich der gesellschaftlichen Direktive einer hemmungslosen öffentlichen Selbstdarstellung bis hin zur Selbstaufgabe zu entziehen. Mit Epikur ausgedrückt: „Lebe im Verborgenen. Entziehe dich den Vergewaltigungen durch die Gesellschaft – ihrer Bewunderung, wie ihrer Verurteilung. Lass ihre Irrtümer und Dummheiten und gemeinen Lügen nicht einmal in der Form von Büchern zu dir dringen.“

Der Originalartikel kann hier besucht werden