Imperien, die beginnen, Mauern zu bauen, um ihre Herrschaft zu sichern, haben den Zenit ihrer Macht überschritten. Es geht nie nur um die Physis, es geht um die geistige Führung, die mächtige materielle Werte im Hintergrund hat.

Das kann militärisches Equipment sein, das kann der unbändige Hunger der Jugend sein, es kann sich um wirtschaftliche Stärke handeln und schließlich um eine Idee, die in der Lage ist, weit über die eigenen Grenzen hinaus eine Faszination hervorzurufen, die tradierte Weisen und Wege überschreitet.

Zumeist sind es verschiedene der genannten Faktoren, die ein Imperium ausmachen. Die Mauer als Ultima Ratio [1] jedoch ist immer ein sicheres Zeichen für den bevorstehenden Niedergang.

Die Chinesische Mauer hatte als Bauwerk weniger Erfolg als die Idee, sich vor den umliegenden barbarischen Völkern schützen zu wollen. Denn als Idee herrschte das Reich der Mitte fort, auch nach dem die Barbaren die Mauer selbst diverse Male überwunden und erfolgreich nach der Herrschaft im Reich gegriffen hatten.

Auch beim Limes [2] handelte es sich um den vergeblichen Versuch Roms, am kritischen Punkt der strategischen Überdehnung haltmachen zu wollen und sich vor den Barbaren aus dem Norden zu schützen. Die Idee des Imperiums blieb, es selbst, oder seine Teile entlang des Limes gingen Schritt für Schritt verloren.

Und selbst das sozialistische Bollwerk namens DDR vermochte es nicht trotz einer Mauer den langsamen Untergang des Imperiums einer neuen Idee, nämlich der des Sozialismus, aufzuhalten. Ganz im Gegenteil: Die Mauer quer durch Deutschland unterminierte den durch den Staat propagierten Internationalismus so gewaltig, dass das Marode der Propaganda aller Welt bewusst wurde.

Bei der hier nur im Staccato vorgetragenen Geschichte von Imperien und Mauern verwundert es gerade nicht, dass ausgerechnet der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika der fixen Idee einer Mauer verfallen ist, die, wie logisch, dazu dienen soll, das Imperium vor den Barbaren zu schützen. Dabei geht er so weit, mit der Funktionsfähigkeit des Staates als Einsatz zu spielen.

Alle Räder stehen still, zumindest in der Administration des Imperiums, um beim Poker um den Wall gegen die Barbaren den Zuschlag zu bekommen. Wieder geht ein Imperium ernsthaft daran, die Idee einer physischen Verteidigungslinie zu opfern. Und wieder wird am Ende der historischen Periode die Erkenntnis stehen, dass eine Mauer das Imperium nicht hat retten können.

Die Bill of Rights [3] der Vereinigten Staaten, die in Konkordanz mit dem Spirit der Französischen Revolution die universalen Prinzipien des bürgerlichen Zeitalters formuliert hatte, ist vielleicht das letzte tragikomische Artefakt, das entstehen könnte, indem sie auf das beabsichtigte Bauwerk an der mexikanischen Grenze geschrieben würde. Denn irrsinniger könnten die Gegensätze nicht illustriert werden.

Hier die universalen Rechte und Freiheiten – bis hin zum Recht auf die Jagd nach dem Glück – und dort der elektrische Zaun oder der gerollte Stacheldraht, der aus den unverbrüchlichen, universalen Rechten eine Provinznummer macht, die nicht nur auf das Territorium der USA beschränkt, sondern auch innerhalb der USA nur auf einen kleinen Kreis von Menschen bezogen ist. Das ist Street Art der besonderen Art, oder, anders ausgedrückt, es ist der Vordruck für die Sterbeanzeige des Imperiums.

Die Rechte und Pflichten der bürgerlichen Verfassung, aufgetragen auf eine Mauer, die andere davon abhalten wird, von dem Leben, das diese Verfassung verspricht, zu kosten.

Quellen und Anmerkungen

[1] Ultima Ratio bezeichnet allgemein den letzten Ausweg, Lösungsweg oder auch das letzte Mittel in einem Interessenkonflikt, wenn zuvor alle sonstigen Lösungsvorschläge verworfen wurden, da mit ihnen offensichtlich keine – oder angeblich keine – Einigung erzielt werden konnte.
[2] Der Limes bezeichnet die vom Römischen Reich vom 1. bis 6. Jahrhundert n. Chr. angelegten Grenzwälle beziehungsweise militärischen Grenzsicherungssysteme in Europa, Vorderasien und Nordafrika.
[3] Die Bill of Rights besteht aus den ersten zehn Zusatzartikeln zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie sichern den Einwohnern im Rahmen einer freien und demokratischen Gesellschaft bestimmte unveräußerliche Grundrechte zu. Dazu gehören zum Beispiel die Trennung von Staat und Kirche sowie Religions-, Versammlungs-, Presse- und Meinungsfreiheit.


Gerhard Mersmann studierte Politologie und Literaturwissenschaften, war als Personalentwickler tätig und als Leiter von Changeprozessen in der Kommunalverwaltung. Außerdem als Regierungsberater in Indonesien nach dem Sturz von Haji Mohamed Suharto. Gerhard Mersmann ist Geschäftsführer eines Studieninstituts und Blogger. Auf Form7 schreibt er pointiert über das politische und gesellschaftliche Geschehen und wirft einen kritischen Blick auf das Handeln der Akteure.

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