Da Mitteleuropa das Schlachtfeld eines Atomkriegs zwischen den westlichen Mächten und Rußland wäre, sollte es das vordringlichste Anliegen deutscher Außenpolitik sein, durch Vermittlung zwischen den verhärteten Positionen maßgeblich zu einer Deeskalation beizutragen. Das gilt um so mehr, als die Bundesrepublik seit Januar für zwei Jahre einen Sitz im UN-Sicherheitsrat innehat, was ihrer Stimme zusätzliches Gewicht verleihen könnte.

Doch Außenminister Heiko Maas spricht mit gespaltener Zunge, wenn er eindringlich vor dem Auslaufen des INF-Abrüstungsvertrags Anfang Februar warnt, der explizit auf die Sicherheit Europas ausgerichtet sei, jahrzehntelang zu deren Gewährleistung beigetragen habe und deshalb von besonderer Bedeutung für die Menschen in Deutschland sei. Denn im selben Atemzug weist er die alleinige Verantwortung Rußland zu: „Der Schlüssel, um den INF-Vertrag zu bewahren, liegt in Moskau.“ Rußland habe den Vertrag „gebrochen, indem es einen verbotenen Marschflugkörper entwickelt und in seine Streitkräfte eingeführt hat. Wenn Russland den Vertrag bewahren will, muss es jetzt überprüfbar abrüsten“.

Damit schließt sich die Bundesregierung definitiv US-Präsident Donald Trump an, der im Oktober gedroht hatte, den 1987 zwischen Washington und Moskau vereinbarten Vertrag aufzukündigen. Die USA setzten Moskau Anfang Dezember eine Frist von 60 Tagen, um die Zerstörung der Marschflugkörper mit dem Namen 9M729 (NATO-Code: SSC-8) zuzusagen. Wenn Rußland den Vertrag verletze, ergebe es für die USA keinen Sinn mehr, im Vertrag zu bleiben, erklärte damals US-Außenminister Mike Pompeo in Brüssel. [2] Die NATO-Verbündeten, darunter auch Deutschland, unterstützen den Standpunkt Washingtons und das Ultimatum. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte vor wenigen Tagen: „Wenn Russland nicht wieder vertragstreu wird, dann haben wir ein großes Problem. Derzeit gibt es keine neuen US-Marschflugkörper in Europa, aber es gibt neue russische Marschflugkörper.“ Die SSC-8 sei mobil einsetzbar, lasse sich mit atomaren Sprengköpfen bestücken und könne europäische Städte erreichen. Russland habe eine letzte Chance, aber die NATO würde sich „im Fall der Fälle auf eine Welt ohne Vertrag vorbereiten müssen“.

Rußlands Präsident Wladimir Putin hatte vor Weihnachten eindringlich vor der steigenden Gefahr eines Atomkriegs gewarnt. Sollten die USA in Europa Mittelstreckenraketen stationierten, sähe sich sein Land gezwungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Das von den Amerikanern gesetzte Ultimatum sei inakzeptabel, erklärte Vizeaußenminister Sergej Rjabkow jüngst in der russischen Nachrichtenagentur Interfax. Zugleich warf er den USA fehlende Gesprächsbereitschaft über den Erhalt des INF-Vertrags vor. Es habe zwar Aussagen Washingtons gegeben, den Dialog fortzusetzen, doch die Bereitschaft dazu sei nicht zu erkennen.

Erinnern wir uns: Der NATO-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 bestand aus zwei Teilen: Die NATO kündigte die Aufstellung neuer mit Atomsprengköpfen bestückter Raketen und Marschflugkörper (Pershing II und BGM-109 Tomahawk) in Westeuropa an. Zugleich verlangte sie bilaterale Verhandlungen der Supermächte über die Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen. Dabei blieben die französischen und ein Teil der britischen Atomraketen ausgeklammert. Nach dem Scheitern der Genfer Verhandlungen im November 1982 lehnten Bevölkerungsmehrheiten mehrerer NATO-Staaten die geplante Aufstellung ab. Eine Mehrheit des Deutschen Bundestages stimmte ihr jedoch am 22. November 1983 zu. Ab Dezember 1983 wurden die neuen Atomraketen aufgestellt.

Am 22. Oktober 1983 hatten bundesweit rund 1,3 Millionen Menschen gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Mitteleuropa demonstriert. Im Bonner Hofgarten kamen damals rund eine halbe Million Menschen zur größten Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik zusammen. Die Proteste in Europa konzentrierten sich ausgerechnet in jenem Land, dessen Kanzler sich bei den Westmächten vehement für die Aufrüstung stark gemacht hatte. Für Helmut Schmidt gab es nur eine Antwort auf die Stationierung sowjetischer SS-20-Raketen: mit Pershing-II-Raketen kontern. [3]

Im Vertrag über Atomwaffen mittlerer Reichweite (INF) einigten sich die USA und die damalige Sowjetunion 1987 darauf, alle landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern abzuschaffen wie auch die Produktion und Tests solcher Systeme zu unterlassen. Es war die erste große Abrüstungsvereinbarung im Zeichen des von Michail Gorbatschow ausgelösten Tauwetters, und sie eliminierte auf einen Schlag eine ganze Klasse von Atomwaffen, da sie unter anderem zur Verschrottung der sowjetischen SS-20 und der amerikanischen Pershing-Raketen führte. [4]

Im Zuge des Vormarsches der NATO bis an die russische Grenze und der Errichtung des Raketenabwehrschirms in Osteuropa geriet der INF-Vertrag zwangsläufig unter Druck. Während er kein Verbot von seegestützten Cruise-Missiles umfaßt, schließt er die Stationierung solcher Waffen an Land aus. Die US-Navy verfügt über Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, während die russische Marine den Marschflugkörper Kalibr einsetzt. Laut US-amerikanischen Experten handelt es sich bei der SSC-8 vermutlich um eine landgestützte Version der Kalibr, deren Reichweite 2500 Kilometer beträgt, womit sie unter das INF-Verbot fallen würde. Da bereits die Entwicklung solcher Waffen gemäß des Vertrags verboten ist, hatte die Obama-Administration versucht, Moskau damit unter Druck zu setzen – natürlich ohne die eigenen Tomahawks an dem gleichen Leisten zu messen. Beide Seiten verfügen also über Waffen, die atomar bestückt werden können und deren Reichweite unter das Verbot des INF-Vertrags fällt. Es stellt sich folglich die Frage, ob nicht auch beide Seiten einen landgestützten Einsatz vorbereiten oder bereits dazu in der Lage sind.

Die westlichen Mächte fordern, daß die Einhaltung des INF-Vertrags überprüfbar sein müsse, also das SSC-8-System entweder beendet wird oder die Raketen die verlangte Reichweite einhalten. Rußland hat die Vorwürfe stets zurückgewiesen und lediglich versichert, die Raketen seien nicht auf die Reichweite 500 bis 5000 km getestet worden, weswegen sie keine Vertragsverletzung darstellten. Rußland hatte bereits 2007 gedroht, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, da die USA nach ihrem einseitigen Rückzug aus dem ABM-Abkommen 2002 mit der darauffolgenden Planung von Stützpunkten des Raketenabwehrschirms an der russischen Grenze den INF-Vertrag verletzten. Die zunächst für das Aegis-System verwendeten Raketen des Typs SM-3 mit einer Reichweite bis 900 km wurden auf einem rumänischen Stützpunkt stationiert. 2020 soll die Basis des Raketenabwehrschilds mit bodengestützten SM-3 fertiggestellt sein, und von diesen Abschußrampen können auch die künftigen SM-3 Block-IIA-Raketen mit einer Reichweite von 2500 km sowie Tomahawk-Marschflugkörper derselben Reichweite abgefeuert werden. [5]

Obgleich also auch die NATO die Voraussetzungen dafür schafft, landgestützte atomare Mittelstreckenraketen einzusetzen, wirft sie einseitig der russischen Seite vor, den INF-Vertrag zu verletzen. Um dies zu begründen, hält sie die absurde Behauptung vor, der Raketenabwehrschild richte sich nicht gegen Rußland, sondern ausschließlich gegen den Iran. Wäre der Bundesregierung an einer bilateralen Eindämmung des Konflikts gelegen, könnte sie sich nicht zuletzt für eine gegenseitige Inspektion der fraglichen Waffensysteme einsetzen, in deren Rahmen die Einhaltung des INF-Vertrags überprüft würde. Statt dessen schließt sie sich dem Ultimatum an die Adresse Moskaus an, was dazu führen kann, daß neue Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen auch nach Deutschland verlegt werden, das spätestens dann im Kriegsfall allererstes Angriffsziel wäre. Vielleicht hat Donald Trump kein Problem damit, Europa im nuklearen Feuer verbrennen zu sehen, weil er sich im Universum seines Wahnwitzes in sicherer Entfernung wähnt. Daß jedoch Heiko Maas und Konsorten auf einen reservierten Platz im Atombunker setzen, auf daß sie einige Stunden oder gar Tage länger als die schutzlosen Millionen draußen überleben, zeugt von einer apokalyptischen Zukunftsvision deutscher Außenpolitik.

Der Artikel wurde am 7. Januar 2019 unter dem Titel ‚‚Atomwaffen – Europas vorauseilender Gehorsam … (SB)‘ auf Schattenblick veröffentlicht.


Fußnoten:
[1] www.welt.de/politik/deutschland/article186605834/Heiko-Maas-zu-INF-Vertrag-Russland-muss-jetzt-ueberpruefbar-abruesten.html
[2] www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_85038870/streit-um-inf-vertrag-maas-russland-muss-im-streit-um-abruestungsvertrag-einlenken.html
[3] www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/500.000-protestierten-gegen-Nato-Doppelbeschluss-article1176315.html
[4] www.nzz.ch/international/washington-wirft-moskau-vertragsbruch-vor-russlands-mysterioese-lenkwaffe-ld.150183
[5] www.heise.de/tp/features/Nato-setzt-Russland-Ultimatum-4266035.html

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