2000 warnte der Asienexperte und CIA-Berater Chalmers Johnson in seinem damals vielbeachteten Sachbuch „Blowback“ vor den Gefahren, die den USA aufgrund ihres weltumspannenden „Basenimperiums“ drohten – vergeblich. Am 11. September 2001 wurden Johnsons Kassandravisionen mit den spektakulären Flugzeugangriffen auf die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Centers und das Pentagon in Arlington zur schrecklichen Realität.
Statt sich eines Besseren zu besinnen, legten damals die USA unter dem Vorwand eines „globalen Antiterrorkrieges“ einen ungeheuren Aktionismus an den Tag, der das grundlegende Übel – „imperiale Überdehnung“, um den Begriff des Historikers Paul Kennedy zu benutzen – um ein Vielfaches verschärfte, statt es zu beseitigen.
Seitdem ist die Zahl die Kampfmissionen der US-Streitkräfte in Übersee regelrecht explodiert, wodurch wiederum die Staatsschulden Amerikas in astronomische Höhe schießen. Und – von der Vergabe lukrativer Aufträge an die US-Rüstungs- und Sicherheitsindustrie einmal abgesehen – wofür? In Irak, Syrien und Libyen toben seit Jahren grausame Bürgerkriege. Von Nigeria bis Somalia treiben diverse Gruppen wie Boko Haram und Al Schabab ihr Unwesen. In Afghanistan stehen die Taliban nach 17 Jahren Krieg gegen die „Wertegemeinschaft“ NATO unbesiegt da und führen seit einigen Monaten aus einer Position der Stärke informelle Friedensverhandlungen mit Vertretern der Regierung Donald Trumps. Nach der Destablisierung weiter Teile Afrikas und Asiens wendet sich die außenpolitische Elite in Washington von den scheinbar niemals endenden „Kriegen niedriger Intensität“ gelangweilt ab, besinnt sich auf die gute alte „Großmachtsrivalität“ und redet sich den Dritten Weltkrieg mit China oder Rußland bzw. mit beiden gleichzeitig herbei. Nicht umsonst hat im vergangenen Januar der Aufsichtsrat des Bulletin of Atomic Scientists seine berühmte Atomkriegsuhr auf zwei Minuten vor Mitternacht gestellt. So nahe am selbstverschuldeten Untergang war die Menschheit seit der Kubakrise 1962 nicht mehr.
Die extrem bedrohliche Situation hat eine breitgefächerte Allianz aus Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen aus aller Welt dazu veranlaßt, eine „globale Kampagne gegen US/NATO-Basen“ ins Leben zu rufen. Schließlich unterhalten die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten zusammen mehr als 1000 Militärstützpunkte in 170 Staaten, schüren in den Heimatländern anderer Völker Konflikte, statt sie zu beseitigen, und umzingeln auf brandgefährliche Weise das Territorium der „revisionistischen Mächte“ China und Rußland sowie der „Schurkenstaaten“ Nordkorea und Iran; Australien und Japan gelten deshalb längst als informelle NATO-Mitgliedstaaten, während aktuell über die Möglichkeit einer Militärintervention des jüngsten „NATO-Partners“ Kolumbien im ölreichen Nachbarland Venezuela diskutiert wird.
Die Kriegsgegner sehen in der Schließung all dieser Militärbasen eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung einer Welt, in der internationale Dispute ausschließlich mittels Diplomatie beigelegt werden, statt durch Waffengewalt verschärft und künstlich am Leben gehalten zu werden. Um sich mit der Basenproblematik angemessen zu befassen und die Kampagne gegen Militärstützpunkte loszutreten, hat man zu einer internationalen Konferenz aufgerufen, die vom 16. bis zu 18. November in Dublin stattfand. Zu der Fair City am Ufer des Liffey kamen rund 300 Delegierte aus 35 Ländern. Alle fünf Kontinente waren vertreten.
Die Entscheidung für die irische Hauptstadt als Austragungsort ergab sich aus der jahrelangen Zusammenarbeit der Peace and Neutrality Alliance (PANA) in Irland mit den ideologischen Verbündeten im Ausland vor allem in den USA. Seit Ende 2001 protestieren Friedensaktivisten an jedem Sonntag vor der Einfahrt zum zivilen Flughafen Shannon an der irischen Atlantikküste gegen dessen Nutzung durch das US-Militär. Dort haben in den letzten 17 Jahren mehr als drei Millionen amerikanische Soldaten Zwischenstopps auf dem Weg zu Kriegseinsätzen in Afrika und Asien oder auf dem Heimweg davon eingelegt. Unmengen amerikanischer Waffen und Munition sind in dieser Zeit über Shannon Airport zu den Kriegsschauplätzen östlich des Greenwich Meridians transportiert worden. Auch einige Folteropfer der „außergewöhnlichen Überstellungen“ der CIA wurden während der Präsidentschaft George W. Bushs über den Flughafen bei Limerick in das Sonderinternierungslager auf dem Gelände des Marinestützpunktes Guantánamo Bay auf Kuba oder zu den berüchtigten „black sites“ Langleys in Osteuropa verfrachtet. Das haben die fleißigen Beobachter von Shannon Watch durch systematische Notierung und Auswertung der entsprechenden Flugzeugnummern belegt.
In der Liberty Hall im Herzen Dublins haben die Organisatoren der Anti-NATO-Konferenz von den Räumlichkeiten und den technischen Möglichkeiten her den besten wie auch einen sehr geschichtsträchtigen Austragungsort gefunden. Das 1965 eröffnete, modernistische Hochhaus ist Hauptquartier der Gewerkschaft SIPTU (Services, Industrial, Professional and Technical Union), Nachfolgeorganisation der Irish Transport & General Worker’s Union. Die 1909 von James Larkin gegründete ITGWU führte 1913 von der alten Liberty Hall aus den Kampf gegen die Aussperrung Zehntausender Arbeiter wegen Gewerkschaftsmitgliedschaft durch die Dubliner Großbetriebe. Im Rahmen des siebenmonatigen, schwerwiegendsten Arbeitskonflikts in der irischen Geschichte kamen mehrere Menschen um Leben – entweder weil sie durch Polizisten zu Tode geprügelt oder von Streikbrechern erschossen wurden.
Um die Arbeiter künftig schützen zu können, gründeten 1913 Gewerschaftsboß Larkin und Sozialistenchef James Connolly die Irish Citizen Army (ICA). 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, haben die ICA und die Irish Volunteers den Osteraufstand gegen die britische Herrschaft durchgeführt. Die dazu passende irische Unabhängigkeitserklärung wurde vorab heimlich in der Liberty Hall gedruckt. Die Führung der Aufständischen traf sich am frühen Ostermontag in Liberty Hall, um anschließend mit mehreren hundert Kampfgefährten das General Post Office (GPO) im nahegelegenen Sackville Street (heute O’Connell Street) zu besetzen.
Vor den wuchtigen Säulen des neoklassischen Baus verlas Pádraig Pearse Irlands Proclamation of Independence. Nach sechs Tagen schwerer Kämpfe – die Aufständischen hatten nicht nur das GPO, sondern auch zahlreiche strategisch wichtige Positionen in Dublin besetzt – war der Aufstand vorbei. Angesichts der Zerstörung und der gegnerischen Übermacht sahen sich die Rebellen zur Kapitulation gezwungen. In den darauffolgenden Wochen ließen die britischen Militärbehörden alle sieben Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung – darunter Connolly und Pearse – wegen Hochverrats aufgrund von Kontakten zum deutschen Kaiserreich hinrichten. Mit dem irischen Unabhängigkeitskrieg 1919-1921 erzielte die Irish Republican Army (IRA), die aus der Fusion der Irish Volunteers mit der Irish Citizen Army hervorgegangen war, den Freistaatsstatus für 26 von 32 Grafschaften Irlands innerhalb des British Empire.
Folgerichtig war die erste Veranstaltung der Anti-NATO-Konferenz eine Kundgebung und ein Fototermin. Transparente und Gesang auf der Verkehrsinsel mitten in der O’Connell Street mit dem GPO im Hintergrund, das in den vergangenen 100 Jahren zum weltweit bekannten, steingewordenen Symbol des antikolonialen Kampfs geworden ist, ergaben eine beeindruckende Kulisse. Danach fand am Freitagabend eine „internationale Nacht“ im großen Sitzungssaal der Liberty Hall statt. Begrüßungsreden hielten unter anderem Ed Horgan von PANA, der italienische Kriegskorrespondent Fulvio Grimaldi, Dr. Stelios Sofocli, Vorsitzender des Pan-Zyprischen Friedensrats, Silvio Platero, Vorsitzender der kubanischen Bewegung für Frieden und Souveränität der Nation (MOVPAZ), Lukas Wirl von der deutschen Sektion der International Lawyers against Nuclear Arms (IALANA), sowie Clare Daly. Die feurige Rede der unabhängigen linken Abgeordneten im irischen Unterhaus (Dáil) kam bei den Delegierten besonders gut an, nicht nur weil Daly sie mit einem witzigen Zitat des Dubliner Dramatikers und Trunkenbolds Brendan Behan begonnen hatte, sondern vermutlich auch weil die ehemalige SIPTU-Betriebsrätin seit der polizeilichen Festnahme 2014 beim Versuch, ausländische Sondermaschinen auf dem Rollfeld von Shannon nach illegalem Gefahrengut zu kontrollieren, als mutige Heldin der irischen Friedensbewegung gilt.
Am Samstag und Sonntag fanden informative und aufschlußreiche Diskussionsrunden zu den Themen Militarismus, Atomwaffen und Militärbasen, Auswirkung von Militärstützpunkten auf Umwelt und Gesundheit, Zentral- und Südamerika/Guantánamo, Asien- Pazifik/Neuausrichtung der US-Sicherheitspolitik nach Asien/Okinawa, Nahost/US-NATO-Plan, Europa/NATO-Erweiterung sowie Africa/AFRICOM statt. Praktisch aus jedem Winkel der Erde waren Aktivisten gekommen, die Zeugnis der negativen Folgen des Lebens in der Nähe von ausländischen Militärbasen ablegten. Dabei wurde unter anderem die kaum bekannte Tatsache der Verseuchung des Grundwassers nahe aller mehr als 400 Militärbasen in den USA durch Perfluoroctonsäure, die selbst in mikroskopisch kleinen Mengen als hochgradig krebserregend gilt, groß thematisiert. Über den möglichen, von US-Basen in Übersee ausgehenden Folgen für Mensch und Umwelt liegt weitgehend ein Mantel des Schweigens. Dafür sorgen die State of Forces Agreements (SOFA), die das Pentagon mit den Gastgeberländern vereinbart hat.
Als erster Militärstützpunkt der USA im Ausland gilt Guantánamo Bay, dessen Pachtvertrag 1903 zwischen Havana und Washington beschlossen wurde. Die kubanische Regierung und das Volk auf der Insel betrachten das Abkommen inzwischen als ungültig. Dies machte auf der Konferenz in Dublin Dr. Aledio Guevara, Tochter des berühmten argentinischen Revolutionsführers Ernesto „Che“ Guevara, deutlich. Im kommenden Jahr wollen die Kubaner unter internationaler Beteiligung eine große Veranstaltung unter dem Motto „Schließe Guantánamo jetzt!“ abhalten. Nicht minder engagiert war Friedensnobelpreisträgerin Mairéad Maguire, die auf der Konferenz mit sichtlicher Leidenschaft auf das Schicksal Julian Assange hinwies. Seit mehr als sechs Jahren sitzt der Wikileaks-Gründer aus Angst vor Repressalien in der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Am 15. November war erstmals die Existenz einer geheimen Anklage gegen Assange vor dem Eastern District Court of Virginia offiziell bekannt geworden. Nach der eventuellen Auslieferung wollen die Amerikaner den gebürtigen Australier wegen Spionage den Prozeß machen, nur weil er im Internet geheime Dokumente über die zum Teil illegalen Machenschaften des State Department und des US-Militärs veröffentlicht hat. Im andauernden Martyrium Assanges sieht Maguire zu Recht einen Frontalangriff der USA und Großbritanniens auf die traditionelle Pressefreiheit in den westlichen Industrienationen.
Die Anti-NATO-Basen-Konferenz in Dublin fand eine Woche nach einer Veranstaltung in Frankreich statt, zu der die wichtigsten Würdenträger aus Nordamerika und Europa gepilgert waren, um fernsehgerecht des Endes des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren zu gedenken. Dabei hatte das lautstarke Postulat des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, es bestehe eine Notwendigkeit, eine „echte EU-Armee“ zu schaffen, bewiesen, wie wenig die heutige politische Klasse Europas aus dem Abschlachten von Millionen von Menschen auf dem Alten Kontinent zwischen 1914 und 1918 und 1939 und 1945 gelernt hat.
In Irland sehen deshalb viele Menschen die Entscheidung der Regierung Dublins zur Teilnahme an PESCO (Permanent Structured Cooperation / Ständige Strukturierte Zusammenarbeit), die als Zwischenstufe Richtung EU-Armee gedacht ist, mit Sorge. Von daher war es wirklich enttäuschend, wenngleich nicht verwunderlich, wie wenig Presseresonanz es auf die Konferenz in Liberty Hall gegeben hat. In den privaten und staatlichen irischen Medien wurde bis auf eine Meldung im Belfast Newsletter – der Hauspostille der euroskeptischen, probritischen Democratic Unionist Party (DUP) Nordirlands – die Konferenz mit keinem Wort erwähnt.
Auch seitens der konservativen Minderheitsregierung von Fine Gael gab es keine Willkommensgrüße. Im Gegenteil hat das Außenministerium Simon Coveneys einem palästinensischen Delegierten aus dem Westjordandland das Einreisevisum verweigert. Dafür hat Irlands im Oktober mit überwältigender Mehrheit zu einer zweiten siebenjährigen Amtszeit gewählte Präsident Michael D. Higgins die Anführerin der palästinensischen Delegation, die Knesset-Abgeordnete Aida Touma-Sliman, überraschend zu einer einstündigen Unterredung am 18. November in seiner Residenz im Dubliner Phoenix Park empfangen. Auch wenn sich die amtierende Regierung um Premierminister Leo Varadkar längst auf Pro-NATO-Kurs befindet, hält immerhin der im Volk sehr beliebte Michael D., der sich in den achtziger Jahren als linker Abgeordnete der irischen Labour Party mit Kritik an Ronald Reagans verbrecherischen Mittelamerika-Politik hervortat, am antikolonialen Erbe Irlands fest.
Erstveröffentlichung auf Schattenblick am 27. November 2018