Von Claire Funke

Für Menschen mit wenig Geld ist die Weihnachtszeit eine echte Herausforderung. Ich habe schon im Sommer angefangen, die Kleinigkeiten für die zwei Adventskalender der Kinder zu kaufen, da beide im September Geburtstag haben, die Schule anfängt und dann für mich gefühlt gleich Weihnachten ist. Also, mehrere  finanzielle „Großereignisse“ hintereinander anstehen. Ich bin zwar durch meinen 450-Euro-Job und einige kleinere Aufträge als virtuelle Assistentin, nicht mehr im Hartz-4-Bezug, aber die finanzielle Lage hat sich nicht entspannt und ich habe nun Wohngeld beantragt. Eigentlich ist das mit den Finanzen schon seit 9 Jahren schwierig. Eben seit ich alleinerziehend bin, denn auch hier schützt Erwerbsarbeit nicht davor, lediglich von der Hand in den Mund zu leben. Leider.

In der letzten Woche habe ich einen Beitrag aus der taz gelesen mit dem Titel „Hartz IV ist ein Gespenst“. Ein Satz, in dem Interview zur Sozialreform mit Katja Kipping (Linke) und Karl Lauterbach (SPD), hat mich fast zum Heulen gebracht vor Wut:

„Bei der Berechnung der Regelsätze werden alle Ausgaben für Übernachtungskosten oder selbst für einen Campingurlaub abgezogen, genauso wie Weihnachtsbaum, Blumen, Grabschmuck, Hundefutter, Reinigungskosten oder die Tasse Kaffee unterwegs. Hartz IV Beziehenden stehe das nicht zu. Korrekte Berechnungsgrundlagen für Regelsätze liegen auf dem Tisch. Sie sollten nicht so tun, als ob es im Sozialministerium einen Erkenntnismangel gibt.“

Kein Weihnachtsbaum? Warum?

Hartz-IV-Beziehenden steht also kein Weihnachtsbaum zu? Warum? Welches verkorkste Menschenbild hatten die Politiker, die das beschlossen haben? Welches verkorkste Menschenbild haben die Volksvertreter, die das heute immer noch für richtig halten? Wollen wir, die Bürger dieses Landes, wirklich von Politikern vertreten werden, die Menschen, die Hartz-IV beziehen, keinen Weihnachtsbaum zugestehen? Ich möchte das auf alle Fälle nicht. Und Ihr?

Caregiver sind niemals arbeitslos

Meine Erfahrung aus der Arbeit mit Langzeitarbeitslosen in der Erwachsenenbildung ist die, dass die MEISTEN, die jetzt keine Erwerbsarbeit haben, gesundheitlich beeinträchtigte Menschen sind oder Mütter / Väter oder pflegende Angehörige / pflegende Eltern oder Flüchtlinge. Je nach Alter oder Konstitution können gesundheitliche Beeinträchtigungen vorkommen. Ich würde sagen, dafür sollte niemand „bestraft“ werden, in dem ein Regelsatz gilt, der das soziokulturelle Existenzminimum nicht abdeckt. Gerade bei Eltern und pflegenden Angehörigen ist es darüber hinaus nicht richtig, dass sie als arbeitslos bezeichnet werden. Das suggeriert, dass das Sorgen für Kinder oder zu pflegende Angehörige keine Arbeit ist und das ist falsch. Fürsorgearbeit ist Arbeit, die absolut notwendig ist, Zeit kostet und nicht abgesichert ist, im Gegensatz zur Erwerbsarbeit, die entlohnt wird.

„Funktionstüchtige“ Mitarbeiter werden „entsorgt“

Ich habe 2013 in der Erwachsenenbildung eine ältere, schüchterne, sehr freundliche Dame betreut, die nicht einmal ein Telefon besaß, weil sie es sich finanziell nicht leisten konnte. Menschen im Hartz-IV-Bezug müssen vom Regelsatz (derzeit 416 Euro pro Monat) neben Lebensmitteln, nämlich auch Strom, Telefon, Internet, Versicherungen, Kleidung, Reparaturen, usw. bezahlen. Die ältere Dame, wir nennen sie einmal Frau Müller (Name geändert) war im Übrigen nicht faul, wie 95 % aller anderen Langzeitarbeitslosen, die ich in 10 Jahren betreut habe, auch nicht faul waren. Sie hat viele Jahre im Pflegeheim als Pflegerin gearbeitet. Nach einem langen, herausfordernden Arbeitsleben bekam sie mehrere Bandscheibenvorfälle und war viele Monate krank. Der Arbeitgeber legte ihr daraufhin einen Aufhebungsvertrag nahe, dem sie zugestimmt hat, weil sie sich wegen der langen krankheitsbedingten Fehlzeit geschämt hat. Ich war damals fassungslos, als ich diese Geschichte gehört habe. Ich meine, es handelt sich hier um einen Arbeitgeber im sozialen Bereich, einer der großen Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Wenn die Mitarbeiter hier also krank sind, weiß man mit ihnen nichts besseres anzufangen, als ihnen einen Aufhebungsvertrag nahezulegen um sich des Problems, des vermeintlich „funktionsuntüchtigen Mitarbeiter*in“, schnell zu entledigen? Wenn Arbeitgebern die Kreativität fehlt, um Menschen mit gesundheitlichen, zeitlichen (Eltern, pflegende Angehörige) oder sonstigen (z. B. sprachlichen, körperlichen) Beeinträchtigungen zu integrieren in den Arbeitsmarkt, dann ist das ein Armutszeugnis im Jahr 2018.

Es steht ihnen nicht zu: Grabschmuck, Hundefutter, Weihnachtsbaum

Erschwerend kommt nun hinzu, dass unsere Volksvertreter bei der Berechnung der Hartz-4-Regelsätze beschlossen haben, dass langzeitarbeitslosen Menschen, wie Frau Müller, kein Weihnachtsbaum zusteht und außerdem auch nicht der Grabschmuck für das Grab ihrer verstorbenen Schwester oder das Katzenfutter für ihre Katze. Es steht ihr nicht zu und allen anderen 4.156.783 Menschen, die Hartz-IV beziehen, steht es auch nicht zu. Wahnsinn ist das!

Verletzlichkeit

Wo sind die Menschen in der Politik, die das wirkliche Leben, mit all seinen Unwägbarkeiten, einbeziehen in ihre politischen Überlegungen? Vielleicht würde unseren Volksvertretern das besser gelingen, wenn sie sich ihrer eigenen Verletzlichkeit und damit auch der Verletzlichkeit der anderen Menschen bewusst wären? In einem Interview im Süddeutsche Zeitung Magazin (15.11.2018) sagt Brenè Brown (Sozialwissenschaftlerin, US Professorin, erforscht Scham und Verletzlichkeit):

„Verletzlichkeit ist der Schlüssel zu allem.“

Eine weitere wichtige, grundlegende Aussage aus dem Interview:

„Wir brauchen uns gegenseitig. Und das Fehlen von Gemeinschaft bedeutet Leiden. Jeder Mensch ist auf andere angewiesen.“

Werte

Wir brauchen uns gegenseitig. Ja! Wir brauchen Verständnis und Solidarität füreinander. Ja! Wir brauchen Menschlichkeit und Menschenwürde. Ja!

Wie kommt es dann dazu, dass Volksvertreter einem anderen Menschen keinen Weihnachtsbaum zugestehen, während sie vielleicht im warmen, sauberen, reichlich weihnachtlich geschmückten Bundestag sitzen um das zu beschließen? Oder vielleicht wurde darüber auch diskutiert beim Mittagessen im 5-Sterne-Hotel während man selbst von den Hotelmitarbeiterin rund um versorgt wurde? Als (frühere) Hotelfachfrau im Messe- / Veranstaltungsbereich habe ich hier Einblick und schon viele prominente Persönlichkeiten als Gäste betreut. Darunter waren auch Politiker*innen wie z. B. Angela Merkel, Renate Künast, Theo Weigel, Edmund Stoiber – die Liste wäre lang. Mir ist das auch eigentlich wurscht. Für mich waren sie immer Gäste, wie alle anderen Gäste auch. Aber der Aufwand, der hier betrieben wird, um prominente Gäste zu bewirten, der ist natürlich schon sehr hoch. Und dann noch die wahnsinnigen Sicherheitsvorkehrungen. Da hatte man als Mitarbeiter Glück, wenn man nicht noch die Unterhose herzeigen musste. Sei`s drum. Aber.

Wer ist eigentlich ein Steuerzahler?

Das alles bezahlt der Steuerzahler. Also wir ALLE. Auch Frau Müller. Gerne wird von Politikern argumentiert, dass man den Hartz-IV-Regelsatz nicht wesentlich erhöhen kann, denn man könne das dem Steuerzahler nicht zumuten. Ha! Frau Müller zahlt heute im Hartz-IV-Bezug natürlich keine Einkommenssteuer mehr. Das ist richtig. Was jedoch NICHT richtig ist, ist, dass sie keine Steuerzahlerin mehr ist  (ob der Wert eines Menschen anhand seiner Steuerzahlungen definiert werden sollte?). Als Endkundin bezahlt Frau Müller Mehrwertsteuer und ist dadurch natürlich auch eine Steuerzahlerin. Die Mehrwertsteuer trägt immerhin zu einem Viertel des Steueraufkommens bei und mit dieser werden sämtliche staatliche Aufgaben finanziert. Daher möchte ich nun einfach mal überspitzt sagen, dass alle Endkunden, die von Sozialleistungen leben, auch mit dazu beitragen, dass der Weihnachtsbaum vor dem Bundeskanzleramt rechtzeitig in seiner Herrlichkeit erstrahlt. Ihnen selbst, steht aber kein Weihnachtsbaum zu. Darunter auch viele Kinder. Frohe Weihnachten!

Zum weiter Lesen:

Im Rahmen der Überprüfung des UN-Sozialpaktes (September 2018) ist Deutschland mittlerweile gerügt worden dahingehend, dass die Grundsicherung, sowie die Mietsätze angehoben werden müssten und die Sanktionspraxis überprüft werden sollte. Die grundlegenden Bedarfe der Menschen, die Grundsicherung beziehen, werden kaum gedeckt.

 

Weitere Infos und Artikel von Claire Funke gibt es auf ihrer Blogseite MAMA STREIKT .

Sie hat zudem die Petition „Care-Arbeit ist Arbeit – Fürsorge-Gehalt jetzt!“ ins Leben gerufen, die sich an Familienministerin Franziska Giffey richtet und die hier unterzeichnet werden kann.

Der Originalartikel kann hier besucht werden