Als zum Jahrtausendwechsel ein zentrales Mahnmal als „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ * diskutiert wurde, das mitten in Berlin, unweit des Brandenburger Tors seinen Standort finden sollte, war auch ich zunächst skeptisch, was die künstlerische Gestaltung dieses wichtigen Denkmals anging.
Ein 19.000 Quadratmeter großes Feld auf dem 2711 Stelen wellenförmig angeordnet sind – das war der Gewinnerentwurf, der aus 528 eingereichten Arbeiten hervorging. Massiv, mächtig. schwer, grau, trostlos, kalt – das waren meine ersten Assoziationen, die wenig emotionale Regung bei mir auslösten, als ich das Mahnmal zum ersten Mal umgesetzt sah. Völlig anders allerdings war es, das Mahnmal das erste Mal direkt zu begehen, denn dadurch entfaltete sich ein unglaublich unangenehmes Gefühl. Geht man durch die Stelen hindurch – was ja auch so gedacht ist – muss man alle paar Sekunden anhalten, um nicht auf andere Besucher – man kann wegen der Enge immer nur einzeln zwischen den Gängen gehen – und damit mit ihnen zusammenzustoßen. Das wäre zwar in diesem Fall nicht allzu schlimm, dennoch entwickelt sich in Verlauf der Durchquerung ein starkes Bedürfnis, aus dem Stelenfeld ohne Zwischenfall herauszukommen.
Ständig ist man versucht, um die Stelen herumzublicken, weil man sich beobachtet, ja sogar verfolgt fühlt. Beklemmung kommt auf, freies Gehen ist nicht möglich, ständig wird man ausgebremst, muss aufpassen, dass man aufgrund der Bodenwellen nicht stolpert und ich dachte mir irgendwann, ich hab die Nase voll, ich will hier raus. Nach diesem Erlebnis war mir klar, es gibt keine bessere Umsetzung für solch ein Mahnmal, das einen zum Gejagten macht. Auch wenn es nur ein paar Minuten – gefühlt natürlich viel länger – dauert. Auch die Steigerung dieses Erlebens – je länger man sich durch das Stelenfeld bewegt, desto gehetzter fühlt man sich – ist perfekt dafür zu zeigen, wie es Millionen von Menschen während der Nazizeit erging.
Genau denselben Effekt hatte für mich das von Torben Kessler sehr einfühlsam eingelesene Hörbuch des wiederentdeckten Romans „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz. Boschwitz – 1915 in Deutschland als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, der im ersten Weltkrieg fiel, und einer aus einer bekannten Lübecker Senatorenfamilie stammenden Protestantin – war 1935 gemeinsam mit seiner Mutter emigriert. Von Schweden über Norwegen kam er 1936 nach Frankreich, um schließlich über Luxemburg / Belgien im Jahr 1939 nach England zu gelangen. Nachdem aber 1939 der Krieg ausgebrochen war, wurden seine Mutter und er als „feindliche Ausländer“ interniert. Als die Engländer beschlossen, alle männlichen Internierten nach Australien zu deportieren, traf dieses Schicksal auch Boschwitz. um im Anschluss nach Australien deportiert zu werden. Dort wiederum verbrachte er die Zeit bis 1942. Auf der Rückreise nach England wurde das Schiff, auf dem er sich befand, von einem deutschen U-Boot torpediert. Boschwitz starb mit nur 27 Jahren. Sein letztes Manuskript ging wohl mit ihm verloren.
Was Boschwitz persönlich erlebt hat, die plötzliche Entwurzelung aufgrund von – ja was eigentlich? – unerklärlichen Ressentiments ihm gegenüber, das erlebt auch Otto Silbermann. Er wird als Folge der Novemberpogrome 1939 aus seiner Wohnung vertrieben und von seiner Frau getrennt. Bisher galt er als angesehener jüdischer Kaufmann. mittlerweile sind seine Freunde und Bekannten verschwunden und er begibt sich mit einer Aktentasche voller Geld auf die Reise. Als der Übergriff in seiner Wohnung stattfindet, wird er ironischerweise mit dem durchaus hinterhältigen Käufer seines Hauses gehalten, der ganz nach Mitläuferart Kapital aus der misslichen Lage Silbermanns schlagen will. Parvenüs und Profiteure könnte man sagen, zeigen sich allerorten.
Silbermann schafft es also mit Geld ausgestattet zu entkommen und versucht unsichtbar zu werden. Er fährt Zug. Von A nach B nach irgendwohin, wo er bleiben kann und trifft auf dieser Reise auf Menschen, die ihn ob seines Äußeren für Ihres Gleichen halten, nichts davon ahnen, dass hier ein Mensch sitzt, der verzweifelt versucht, irgendwie aus dieser Situation herauszukommen. Auch die Telefonate mit seinem Sohn laufen ins Leere. Zwar hat versucht dieser nach wie vor Ausreisepapiere für seine Eltern nach Frankreich, wo er selbst bereits lebt, zu organisieren, doch auch dort mahlen die Mühlen der Administration langsam. Silbermanns Frau hat vermeintlich nichts zu befürchten.
Boschwitz lässt die Zuhörerschaft an den Gedanken Silbermanns ganz dicht teilnehmen – innere Monologe beschreiben die äußere Szenerie und das Erleben des Reisenden, eigentlich ja Flüchtenden, bewegend direkt und zeigen die Situation, in der sich plötzlich viele Menschen in Deutschland befanden, erschreckend realistisch. Wer einmal Fotos der Pogromnächte gesehen hat, den Menschen quasi in die Augen sehen konnte, die allein aufgrund ihres Glaubens verfolgt wurden, der erkennt, was Boschwitz hier beschreibt, war die reine Wahrheit. Niemand hatte sich vorstellen können, dass alte Freunde, Nachbarn oder Bekannte, mit denen man doch eigentlich immer gut ausgekommen war, plötzlich nichts mehr mit einem zu tun haben wollten oder einen gar hassten. Hier ist sie, die Banalität des Bösen, die Hannah Arendt während der Beobachtung des Eichmann Prozesses erkannt, so benannt und dafür viel Schelte bezogen hat, weil sie angeblich versuchte, die Taten der Nazi zu verharmlosen. Mitnichten war das damit gemeint. Genau das, was Boschwitz unglaublich klar und sprachlich eher einfach, aber gerade deshalb so dringlich aufzeigt, dass dieses Böse nicht nur in Menschen zu finden ist, die offensichtliche Monster sind, sondern ganz schnell bei ganz normalen Menschen ausgelöst werden kann, dass es eine Entscheidung ist, wie man sich verhält, das halt in seinem Roman „Der Reisende“ gerade in der Hörbuchfassung unglaublich nach.
Torben Kessler gibt Otto Silbermann genau die richtige Stimme, die uns heutige Zuhörer mit der Nase darauf stößt, dass wir verdammt gut aufpassen müssen, dass so etwas nie mehr passiert. Der Eindruck des Gejagtwerdens, der Wunsch des Entkommens wird hier so plastisch vermittelt, wie bei einer Durchquerung des eingangs erwähnten Stelenfelds.
Neben den begeisterten Stimmen des Feuilletons gibt es auch eine hervorragende Besprechung des Romans auf Kaffeehaussitzer – dessen Resümee »Lest. Dieses. Buch.« man nichts mehr hinzufügen muss, außer vielleicht: Oder lasst es euch in dieser bemerkenswerter Fassung vorlesen.
„Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz ist in der Hörbuchfassung im März 2018 bei DAV – Der Audio Verlag erschienen. Weitere Informationen auf der Verlagsseite.
* Die Anführungsstriche sind deshalb eingefügt, weil das der offizielle Titel des Mahnmals ist.