Roger Cole ist Vorsitzender der 1996 in Dublin gegründeten Peace And Neutrality Alliance (PANA), auf Gälisch auch Comhaontas na Síochána is Neodrachta genannt, die für die Beibehaltung der Neutralität Irlands, für eine Transformation der Vereinten Nationen hin zu einer echten friedensstiftenden Organisation und gegen die Militarisierung der Europäischen Union kämpft.
In den letzten Jahren hat sich PANA in der irischen Öffentlichkeit durch ihre Protestaktionen gegen die Nutzung des Flughafens Shannon an der irischen Atlantikküste durch Transportflüge des US-Militärs und durch ihre Beteiligung an der Kampagne gegen die Ratizifierung des EU-Reformvertrags, auch Lissaboner Abkommen genannt, einen Namen gemacht. Zusammen mit anderen irischen Friedensaktivisten nahm Cole vom 19. bis zum 21. November in Lissabon am NATO-Gegengipfel teil, das quasi parallel zum Treffen der Regierungschefs der 28 Mitgliedsstaaten der nordatlantischen Militärallianz in der portugiesischen Hauptstadt stattfand. Am 23. November sprach der Schattenblick mit Cole, der inzwischen wieder in Dublin war, per Telefon.
Schattenblick: Wie ist Ihrer Meinung nach der NATO-Gegengipfel in Lissabon verlaufen? Offenbar wurde einigen Teilnehmern die Einreise nach Portugal durch die zuständigen Grenzbeamten verweigert. Haben Sie so etwas ebenfalls erlebt?
Roger Cole: Nein. Wir sind zu fünft von Irland nach Portugal geflogen und problemlos eingereist. Wie ich erfahren habe, hat man jedoch mindestens 150 Friedensaktivisten bei der Einreise nach Lissabon auf dem internationalen Flughafen zum Rückflug gezwungen. Obendrein wurde einer großen Anzahl spanischer Aktivisten, die mit dem Zug oder dem Auto unterwegs waren, der Grenzübergang verboten. Insgesamt sind nach meinem Dafürhalten einige hundert auf diese Weise daran gehindert worden, an der Konferenz teilzunehmen. Das konnte man auch deutlich an der Gesamtzahl der erschienenen internationalen Delegierten ablesen.
Auf dem Live Feed im Internet schienen die Teilnehmerzahlen im Vergleich zu Strasbourg im vorigen Jahr tatsächlich etwas niedriger zu sein.
Soweit es die Konferenz selbst betrifft, mag das wohl stimmen. Doch die Anzahl der Teilnehmer am Friedensmarsch war wesentlich größer als in Strasbourg. Ich schätze, etwa 40.000 Menschen hatten sich an der Demonstration unter dem Motto „Ja zum Frieden – Nein zur NATO“ beteiligt. Die mehrheitlich portugiesischen Demonstranten forderten eine vollständige Demontage der NATO, die sie als imperialistisches Projekt kritisieren. Wie Sie sicher wissen, fanden im Verlauf des Wochenendes zwei verschiedene Friedenskonferenzen in Lissabon statt. Die eine wurde vom „Portuguese Council for Peace and Cooperation“ (Portugiesischer Rat für Frieden und Kooperation) organisiert, die andere von der „Plataforma Anti-guerra Anti-NATO“ (PAGAN). Seamus Rattigan, PR-Manager der PANA, und ich haben beide Veranstaltungen besucht.
Was hat die beiden Friedensorganisationen davon abgehalten, die Anti-NATO Konferenz gemeinsam durchzuführen? Wissen Sie etwas über die näheren Beweggründe, die zur Kontroverse der beiden Organisationen führte?
Ich könnte bestenfalls Vermutungen anstellen, da ich kein Experte auf dem Gebiet der portugiesischen Innenpolitik bin. Wahrscheinlich sind die Gründe geschichtlicher Natur, da der „Portuguese Council for Peace and Cooperation“ schon seit dem Ende der Diktatur 1974 existiert, während PAGAN erst im letzten Jahr ins Leben gerufen wurde. Nach meinen Beobachtungen folgten etwa 85 Prozent der Demonstranten am Sonnabend dem Banner des „Portuguese Council for Peace and Cooperation“. Im Vorfeld des Protestmarsches hatten die Medien die Teilnehmerzahl auf voraussichtlich 10.000 geschätzt. Also muß schon die Tatsache, daß 40.000 Menschen kamen, als gewaltiger Erfolg gewertet werden. Dieses unerwartet hohe Menschenaufkommen zeigt, daß das Interesse an politischer Beteiligung bei den Portugiesen derzeit zunimmt, die sich gerade in einer schweren Wirtschaftskrise befinden. Die Demonstration war bei geringem Polizeiaufgebot äußerst sorgfältig durchorganisiert. Nur vereinzelt wurden Polizisten gesehen.
Wie ist Ihrer Meinung nach die Hauptveranstaltung, also die PAGAN-Konferenz verlaufen?
Sehr gut, wenn man bedenkt, daß einer großen Anzahl von Menschen, die daran teilnehmen wollten, die Einreise nach Portugal nicht gestattet worden war, was die Gesamtteilnehmerzahl negativ beeinflußte. Doch davon abgesehen war es eine umfangreiche Konferenz mit zahlreichen bedeutenden Debatten und Diskussionen. Für die Beteiligten hat sich das Kommen auf jeden Fall gelohnt, zumal es recht wenig Gelegenheiten gibt, in denen Friedensorganisationen aus ganz Europa zum Informations- und – zumeist sehr unterschiedlichen – Erfahrungsaustausch zusammenkommen können. Jan Majicek vom Tschechischen „No-Bases-Network“, hielt beispielsweise einen ausgesprochen informativen Vortrag über die Kampagne gegen die geplante Installation einer Radaranlage in seinem Land, die im Rahmen eines US-amerikanischen Raketenabwehrsystems geplant war. Darüber hinaus beteiligten sich einige Amerikaner, Vertreter der französischen Friedensbewegung, eine umfassende Delegation des britischen CND und auch nicht wenige deutsche Teilnehmer an der Veranstaltung. Ich würde sagen, daß diejenigen, die letztlich an der Konferenz teilnahmen, eine recht repräsentativen Schnitt durch die verschiedenen Friedensorganisationen in Europa darstellten.
Inwieweit – falls überhaupt – war etwas von der sogenannten „Sicherheitsarchitektur der NATO“ in der portugiesischen Hauptstadt zu spüren, während sie dort waren?
Lissabon ist eine ziemlich große Stadt, so daß dort, wo wir uns befanden, kaum etwas von dem praktisch gleichzeitig stattfindenden NATO-Gipfel mitzubekommen war.
Eine der Fragen, die wir Ihnen stellen wollten, betrifft die Wirtschaftskrise und ob diese die Bemühungen der Friedensbewegungen für die davon betroffenen Menschen weniger relevant erscheinen läßt. Das scheint angesichts der Schilderung Ihrer persönlichen Erfahrung in Portugal nicht der Fall zu sein. Sehen wir das richtig?
Ganz bestimmt. Wenn überhaupt, dann hat die Wirtschaftskrise, die nicht nur Portugal, sondern ebenso sehr auch mein eigenes Land, Irland, betrifft, mehr Menschen auf die Straße gebracht, als man erwarten konnte. Daß zur gleichen Zeit ein derart großes Ereignis wie der NATO-Gipfel stattfand, war natürlich eine große Hilfe, da es den Menschen etwas Konkretes bot, gegen das sie demonstrieren konnten. Von den Portugiesen zu erwarten, daß sie einerseits massive Einbußen ihres bisherigen Lebensstandards akzeptieren und gleichzeitig Milliarden für ein Raketenabwehrschild zahlen sollen, um einer gar nicht existierenden Gefahr zu begegnen, ist schon sehr hart. Der Gedanke, daß der Iran beginnen wird, Raketen auf Europa zu schießen, ist etwa so realistisch wie die Vorstellung, daß Marsmenschen in Washington einfallen.
Wir kommen jetzt langsam auf den NATO-Gipfel selbst zu sprechen. Was ist Ihrer Meinung nach das neue Strategiekonzept der NATO? Ist damit irgend etwas verbunden, das Ihnen besonders neuartig oder erwähnenswert erscheint?
In unserer Kampagne 2008 und 2009 in Irland gegen die Ratifizierung des Lissabon Vertrags haben wir davor gewarnt, daß die Europäische Union in einen militärischen Superstaat umgewandelt werden sollte. Das neue Strategiekonzept der NATO bestätigt unseren Verdacht. Indem im neuen Konzept die Europäische Union in einem bestimmten Zusammenhang direkt als strategischer- und in einem anderen Kontext als Militär-Partner definiert wird, haben die NATO-Führer, die in Lissabon zusammengekommen waren, ihre Idee eines Europäischen Militärblocks international verlautbart. Eine der Konsequenzen des Lissaboner Abkommens war für die EU der Erhalt einer eigenen Rechtspersönlichkeit. Erst kürzlich hat Joao Marques de Almeida, ein ranghoher Berater Jose Manual Durao Barrosos, des Präsidenten der Europäischen Kommission, den Vorschlag gemacht, die EU könne der NATO beitreten. [1]
Worauf Sie sich hier beziehen, scheint alle vorschauend auf den Gipfel in Lissabon geäußerten Erwartungen gewisser politischer Beobachter Lügen zu strafen, die EU und die NATO oder auch die europäischen Großmächte und die Vereinigten Staaten von Amerika würden sich immer mehr von einem möglichen Zusammenschluß entfernen.
Ich habe persönlich keinen Zweifel daran, daß sie zunehmend miteinander verschmelzen. Der fortgesetzte Zusammenschluß von beiden Organisationen wird von den politischen Führungskräften auf beiden Seiten des Atlantik vorangetrieben. Ich glaube indes nicht, daß dies die Menschen in Europa oder auch in Nordamerika wollen. Die größte Sorge der einfachen Menschen ist augenblicklich ihr Lebensstandard, der durch die Wirtschaftskrisen in Irland wie in Portugal zerschmettert wird, während Spanien, Italien, Belgien und möglicherweise weitere EU Mitglieder zu den nächsten Angriffszielen der Spekulanten auf den internationalen Anleihemärkten werden. Man kann einfach nicht alle dauerhaften Kürzungen und Einschränkungen des Lebensstandards durchdrücken und gleichzeitig von den Menschen erwarten, daß sie es gutheißen, wenn noch mehr Truppen nach Afghanistan geschickt werden und sie für die Errichtung eines unsinnigen Raketenabwehr-Schirms zahlen sollen. Bei beiden handelt es sich um extrem teure Projekte, die enorme Mengen an Ressourcen verschlingen werden. Ich denke doch, 40.000 Menschen auf dem Protestmarsch in Lissabon waren ein deutliches Zeichen des Widerstands gegen derartige Entwicklungen.
In Bezug auf die finanzielle Krise sind bestimmte Initiativen aufgegriffen worden, welche die größeren europäischen Staaten zunehmend in die Lage zu versetzen scheinen, unabhängig von der NATO militärische Expeditionen im Ausland durchzuführen, beispielsweise die neue Allianz zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich (UK), und auch die deutsche Bundeswehrreform. Wie bewerten Sie solche Entwicklungen?
Natürlich gibt es Widersprüche innerhalb des fortschreitenden großen Zusammenschlusses von EU und NATO. So hat beispielsweise das Verfassungsgericht in Deutschland verfügt, daß die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist und deshalb nicht ohne Zustimmung oder Genehmigung des Bundestags ins Ausland entsendet werden darf. Diese Gesetzgebung kollidiert mit einigen zentralen Punkten des Abkommens von Lissabon, nach dem die EU-Kampfgruppen ohne parlamentarische Zustimmung, sondern einzig aufgrund einer Anordnung der Exekutive im jeweiligen Land nach Übersee geschickt werden sollen.
Dennoch besteht der ausdrückliche Zweck der geplanten Abschaffung der Wehrpflicht und der Verwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligen- bzw. Berufsarmee darin, daß deutsche bewaffnete Truppen in der Lage sein sollen, deutsche Wirtschaftsinteressen im Ausland abzusichern.
Das Problem besteht darin, daß man die politischen Ziele nicht wirklich von den militärischen trennen kann. Und tatsächlich hat Kanzlerin Angela Merkel erklärt, daß die Wirtschaftsreform innerhalb der EU letztendlich zur Bildung einer europäischen Armee führen könnte. Sie macht keinen Hehl daraus, daß wirtschaftliche und militärische Integration miteinander einhergehen. Naheliegenderweise ist das der Grund, warum wir als Mitglieder der irischen Friedensbewegung gegen den wachsenden Einigungsprozeß der Europäischen Union opponieren. Ich könnte mir vorstellen, daß die meisten Menschen in Deutschland und in anderen EU-Mitgliedsstaaten ebenfalls nicht mit einem militarisierten Europa einverstanden sind.
In mehr als einem der Workshops des Gegengipfels wurde auf den Erfolg des von PANA durchgeführten Protests verwiesen, der sich gegen die Nutzung des zivilen Linienflughafens am Shannon, im Westen Irlands, für Überflüge der US-Luftwaffe richtet. Umgekehrt werden seit Ende 2001 hunderttausend, wenn nicht Millionen von US-Soldaten auf dem Flug in den Irak oder nach Afghanistan bzw. auf dem Heimweg von dort über den Flughafen Shannon geschleust. Ist es angesichts dieser Tatsachen nicht etwas übertrieben zu behaupten, daß die Proteste ein Erfolg gewesen seien und wird nicht auch die Integration von Irland in die militärischen Strukturen der Europäischen Union und der NATO unerbittlich weiter verfolgt?
Geht man auf die PANA-Webseite [www.pana.ie], findet man dort die Ergebnisse einer unabhängigen Studie, laut der 58 Prozent der Iren nicht gutheißen, daß Shannon Airport durch die Vereinigten Staaten von Amerika genutzt wird, um Truppen nach Afghanistan und in den Irak zu transportieren und wieder zurück. Leider konnte diese deutliche Opposition nichts dagegen tun, daß circa zwei Millionen Soldaten in den letzten neun Jahren über Shannon Airport gereist sind. Es wird aber schon in geraumer Zeit (zwischen jetzt und Anfang nächsten Jahres) allgemeine Wahlen in Irland geben, und es wird erwartet, daß Fianna Fáil, die derzeitige Regierungspartei, die sich für die militärische Nutzung des zivilen Flughafens Shannon verantwortlich zeichnet, wegen ihrer inkompetenten Wirtschaftspolitik eine schwere Niederlage wird hinnehmen müssen. In Meinungsumfragen ist ihre Beliebtheit von 42 Prozent, mit denen sie die Wahl 2007 gewinnen konnte, auf 17 Prozent abgesunken.
Aber ist nicht zu befürchten, daß bei einem Regierungswechsel die derzeit größte Oppositionspartei, Fine Gael, ebenfalls die fortgesetzte Nutzung des Shannon Airports durch amerikanisches Militär befürworten wird?
Das ist sehr wohl zu befürchten. Doch derzeit lassen die Meinungsumfragen einen Trend weg von Fine Gael erkennen, die genauso wie Fianna Fáil eine konservative Partei ist, und hin zu Labour und Sinn Féin, die beide zum linken Flügel zählen und die eine Rückkehr des Flughafen Shannon zu rein ziviler Nutzung befürworten. Unlängst legte sich der außenpolitische Sprecher der Labour Partei fest, daß irische Offiziere, die derzeit im Rahmen von ISAF in Kabul sind, nach Hause gebracht werden sollten und daß man das Auftanken von Militärmaschinen der US-Armee auf dem Flughafen am Shannon beenden solle. Am kommenden Donnerstag wird eine Nachwahl in Donegal South-West stattfinden, bei der laut Meinungsumfragen der erwartete Sieger Sinn Féin sein wird. [2] Sinn Féin ist eine der politischen Organisationen, die an PANA angeschlossen sind. Ihre Repräsentanten haben während des Wahlkampfs zur Nachwahl in Donegal South-West auch PANA Prospekte verteilt.
Bleiben wir kurz beim Thema Meinungsumfragen. Laut einer, deren Ergebnisse gerade heute veröffentlicht wurden, sind 43 Prozent aller Befragten der Ansicht, Irland sollte lieber von Ausländern regiert werden als von der eigenen Regierung. Angesichts eines derart deprimierenden Ergebnisses, inwieweit ist dann die Finanzkrise jenen Interessen hilfreich, die eine zunehmende internationale Kontrolle à la Krisenmanagement der EU und NATO durchsetzen wollen?
Ich habe von jener Meinungsumfrage ebenfalls gehört. Ich denke, das ist ein Hinweis für die vollständige Entfremdung der irischen Bevölkerung von der politischen Führung ihres Landes. Erst letzte Woche hat die Irish Times, eine der Tageszeitungen, die sich am meisten für die Integration Irlands in das europäische Gefüge stark macht, in einem aufsehenerregenden Leitartikel die derzeitige Regierung bezichtigt, die Männer, die 1916 den Osteraufstand durchführten und die Unabhängigkeit der Irischen Republik verkündeten, betrogen zu haben, weil sie das Land an den IMF und die Europäische Zentralbank ausverkauft hätte. Das ist eine ziemlich erstaunliche Kehrtwende auf Seiten der Irish Times, die bei uns großen Einfluß hat. Ich bin fast aus dem Sessel gefallen, als ich das las. Plötzlich wird die ganze Frage der nationalen Souveränität, die in den letzten Jahren von Kräften bagatellisiert wurde, die für das Abkommen von Lissabon waren, wieder auf die Bühne gebracht. Das Umfrageergebnis, das sie vorhin erwähnten, ist meiner Ansicht nach ein Ausdruck für Desillusionierung, jedoch nicht im Bezug auf die Idee der nationalen Souveränität, sondern auf die politische Elite, welche sie verraten hat.
Roger Cole, vielen Dank für das Gespräch.
1. „Barroso’s adviser proposes EU entering NATO“, [„Barrosos Ratgeber schlägt Beitritt der EU zur NATO vor“], Global Times, October 23, 2010.
2. Am 26. November gewann Sinn Féins Kandidat Pearse Doherty die Nachwahl in Donegal South-West mit 44 Prozent der Stimmen. Der Stimmenanteil von Fianna Fáil sank um mehr als die Hälfte, von 50 Prozent 2007 auf 22 Prozent.
3. Dezember 2010