Der angekündigte Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag, über den Berlin in der NATO verhandeln will, droht eine Rüstungsspirale rings um China in Gang zu setzen.
US-Militärstrategen erklären schon seit geraumer Zeit, der Vertrag sei nachteilig für die US-Machtpolitik, weil Beijing nicht beteiligt ist und Mittelstreckenraketen besitzen darf. In der Tat halten die chinesischen Streitkräfte Raketen mittlerer Reichweite bereit, um im Kriegsfalle feindlichen See- und Lufteinheiten Angriffsoperationen in und über den an China grenzenden Meeren zu erschweren. US-Strategen dringen darauf, US-Mittelstreckenraketen etwa in Japan, Nordaustralien und auf den Philippinen zu stationieren, um das US-Aggressionspotenzial gegenüber China zu stärken; von einem „Alptraumszenario“ für die Volksrepublik, deren angrenzende Meere zu einem operativen „Niemandsland“ würden, ist die Rede. In den Regionen Ost- und Südostasiens sowie des Westpazifik, in denen damit ein umfassendes Wettrüsten droht, ist in zunehmendem Maß auch die Bundeswehr unterwegs.
Gegenschlagsfähig
US-Militärstrategen erklären bereits seit geraumer Zeit, der INF-Vertrag habe negative Folgen für den Operationsspielraum der US-Streitkräfte in Ost- und Südostasien. Ursache ist demnach zum einen, dass Beijing an den Vertrag, der Ende 1987 zwischen Washington und Moskau geschlossen wurde, nicht gebunden ist. Tatsächlich besteht ein großer Teil des chinesischen Raketenbestandes aus Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern. Ihre zentrale Funktion besteht darin, feindliche Operationen nahe des chinesischen Territoriums zu verhindern: Sie sind ein wichtiger Teil von Chinas „Anti Access/Area Denial“-System (A2/AD) [1], das den Zugang feindlicher Streitkräfte zu angrenzenden Gewässern wie etwa dem Südchinesischen Meer sperren („Anti Access“) und dortige Kampfhandlungen unterbinden („Area Denial“) soll (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Es handelt sich demnach um eine defensive Funktion. Zu den chinesischen Mittelstreckenraketen zählen Modelle wie die DF-21D, die auch „Carrier Killer“ genannt worden ist und die Fähigkeit haben soll, Flugzeugträger der U.S. Navy auszuschalten.[3] Andere chinesische Mittelstreckenraketen sind, wie ein Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erklärt, im Konfliktfall jederzeit in der Lage, „alle US-Militärbasen auf dem japanischen Festland sowie Okinawa zu erfassen“ und außerdem auch die US-Marinebasis auf Guam zu erreichen.[4] Washington müsste also im Falle einer Aggression gegen China mit höchst empfindlichen Gegenschlägen rechnen.
„Offensive Feuerkraft“
Der Austritt aus dem INF-Vertrag würde den Vereinigten Staaten nicht nur die – als wenig erfolgversprechend eingestufte – Option eröffnen, China in etwaige Gespräche über ein neues Abkommen zum Verbot von Mittelstreckenraketen einzubinden. Vor allem ermöglichte er es den USA, künftig eigene landgestützte Mittelstreckenraketen in Ost- und Südostasien zu stationieren. Verfügbar sind die Waffen bereits jetzt, allerdings nicht auf Land; sie müssen von U-Booten, Schiffen oder Flugzeugen abgeschossen werden, da der INF-Vertrag landgestützte Systeme verbietet. US-Strategen halten eine Stationierung auf Land in Ost- und Südostasien für überaus vorteilhaft. Zum einen könne man damit die eigene, derzeit als „unzulänglich“ eingestufte „offensive konventionelle Feuerkraft“ in Ost- und Südostasien stärken, erklärt ein ehemaliger Berater des Kommandeurs des U.S. Pacific Command, der heute für den Washingtoner Think Tank Center for Strategic and International Studies (CSIS) tätig ist.[5] Zum anderen sei die Stationierung von Mittelstreckenraketen an Land nicht nur billiger; sie setze auch Kräfte der Marine und der Luftwaffe frei, die dann für andere Operationen bereitstünden. Als Standorte für US-Mittelstreckenraketen kommen demnach nicht nur Guam und US-Stützpunkte in Japan, sondern auch die Philippinen sowie Nordaustralien in Betracht.
Ein Eckstein der neuen US-Strategie
Für China hätte die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen rings um sein Territorium gravierende Folgen. Zum einen werde die Volksrepublik auf die neue Bedrohung mit kostspieligen Maßnahmen zum Schutz ihrer militärischen Einrichtungen reagieren müssen, erläutert der CSIS-Experte.[6] Zum anderen könnten die Mittelstreckenraketen als „Eckstein“ für eine neue US-Militärstrategie im westlichen Pazifik dienen, die Strategen mit zunehmender Energie einforderten, urteilt ein Fachmann des US-amerikanischen Asia Society Policy Institute. Demnach könnten die US-Streitkräfte künftig ihre eigenen A2/AD-Fähigkeiten in Ost- und Südostasien nutzen und sie mit Hilfe dort stationierter Mittelstreckenraketen auf die Gewässer vor den chinesischen Küsten richten – etwa auf das Südchinesische Meer. Dieses würde damit – so wie mutmaßlich auch das Ostchinesische und das Gelbe Meer – „im Kriegsfall zu einem ‚Niemandsland'“, weil auch chinesische Einheiten dort nicht mehr operieren könnten, urteilt der Experte.[7] Die damit heraufziehende Gefahr, faktisch auf eigenem Territorium eingekesselt und von feindlichem Militär umzingelt zu sein, sei für China „ein Alptraumszenario“.
NATO-Verhandlungen
Deutschland betrifft dies auf doppelte Weise. Zum einen verlangt Berlin im Rahmen der NATO Mitsprache über die Zukunft des INF-Vertrags. „Unabhängig davon, ob der Vertrag gerettet oder neu verhandelt werden muss“, äußerte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen schon am Montag – „wichtig“ sei es, „dass alle NATO-Staaten in diese Gespräche einbezogen werden“.[8] US-Präsident Donald Trump hat sich schon am Wochenende dahingehend geäußert, dass die chinesischen Mittelstreckenraketen eine wichtige Rolle für seine Ankündigung gespielt haben, aus dem Vertrag auszusteigen. Damit wird de facto ein Rüstungswettlauf in Ost- und Südostasien möglicherweise zum Thema von Gesprächen, bei denen die Bundesrepublik eine wichtige Rolle spielt.
Kriegsübungen im Pazifik
Zum anderen ist die Bundeswehr inzwischen auch selbst in Ostasien sowie im Westpazifik unterwegs. Anfang Juni teilte Frankreichs Verteidigungsministerin Florence Parly mit, Deutsche nähmen als „Beobachter“ an Patrouillenfahrten französischer Kriegsschiffe im Südchinesischen Meer teil. Zudem ist immer häufiger die Forderung zu hören, die Bundeswehr solle ihrerseits Kriegsschiffe dorthin entsenden, um die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich bei Durchfahrten durch die Gewässer vor Inseln und Inselgruppen im Südchinesischen Meer zu unterstützen, die China für sich beansprucht. Mit den provozierenden Durchfahrten, die ein erhebliches Eskalationspotenzial bergen, soll dieser Anspruch in Frage gestellt werden. Darüber hinaus hat die Bundeswehr im Sommer schon zum zweiten Mal an einem US-geführten Manöver im Westpazifik teilgenommen, bei dem zahlreiche Szenarien erprobt wurden, die grundsätzlich in bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Volksrepublik praktisch umgesetzt werden könnten – darunter zum Beispiel der Abschuss landgestützter Anti-Schiffs-Raketen durch die japanischen Streitkräfte (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Mit diesen Aktivitäten bewegen sich die deutschen Militärs zunehmend in ein Territorium hinein, in dem die Spannungen nach dem angekündigten Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag und einer möglichen Aufrüstung der US-Streitkräfte mit Mittelstreckenraketen ganz erheblich zunähmen.
Beitrag mit freundlicher Genehmigung von GERMAN-FOREIGN-POLICY.com übernommen.
[1] Missiles of China. missilethreat.csis.org 15.06.2018.
[2] S. dazu Konfliktzonen der Zukunft.
[3] Harry Kazianis: Lifting the Veil on China’s „Carrier-Killer“. thediplomat.com 23.10.2013.
[4] Michael Paul: Kriegsgefahr im Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino-amerikanischen Rivalität. Baden-Baden 2017.
[5], [6] Eric Sayers: The Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty and the Future of the Indo-Pacific Military Balance. warontherocks.com 13.02.2018.
[7] Nathan Levine: Why America Leaving the INF Treaty is China’s New Nightmare. nationalinterest.org 22.10.2018.
[8] Von der Leyen fordert Nato-Mitsprache in Diskussion über Abrüstungsvertrag. handelsblatt.com 22.10.2018.
[9] S. dazu „China herausfordern“ und Kriegsspiele im Pazifik.