Wir haben den humanistischen Abgeordneten von Frente Amplio in Chile, Tomás Hirsch, nach seinem Besuch in Israel und Palästina interviewt und wollten von ihm wissen, warum und in welchem Zusammenhang die Reise stattfand.
Tomás Hirsch: Ich gehöre zwei parlamentarischen Freundschaftsgruppen an, ich bin so etwas wie ein Sonderfall. Ich nehme an der chilenisch-israelische parlamentarische Freundschaftsgruppe und an der chilenisch-palästinensische parlamentarische Freundschaftsgruppe teil. Ich gehöre zu beiden, weil ich ein Signal setzen möchte; anstatt Gegenpole und Antagonisten zu sehen, sollten Brücken der Kommunikation, des Dialogs und der Versöhnung zwischen beiden Völkern gesucht werden.
Die chilenisch-israelische parlamentarische Freundschaftsgruppe organisierte diese Reise, um die Realität Israels und Palästinas kennen zu lernen, aber von dieser Gruppe aus koordiniert. Leider wurde gleichzeitig auch eine Reise nach Palästina und ein kurzer Besuch in Israel von der Chile-Palästina-Gruppe organisiert. Ich sage bedauerlicherweise, weil ich gerne mit beiden Gruppen gereist wäre, um diese Erfahrung tiefer zu erleben. Aber es kommt in diesen Kreisen vor und in meinem persönlichen Fall entschied ich mich zu fahren, weil ich seit vielen Jahren eng mit diesem Prozess verbunden bin. Erstens aus familiären Gründen, da ich aus einer jüdischen Familie stamme, und dann vor allem wegen des Versuchs, den wir von 2010 bis 2014 unternommen haben, um den Humanismus nach Israel und Palästina zu bringen und um eine neue Sichtweise zur Lösung des Konflikts beizutragen. Es ist nicht gut gelaufen, diese Entwicklung setzt der gesamten Region stark zu und wir scheiterten mit unserem Versuch. Aber ich wollte in dieses Gebiet zurückkehren und sehen, was aktuell dort geschieht, wie die Ansichten dazu in Israel aus verschiedenen Sektoren und auch in Palästina aus dem offiziellen und aus anderen Bereichen über die gegenwärtige und die zukünftige Situation sind.
Pressenza: Bei diesen früheren Besuchen zwischen 2010 und 2014 hattest du viele Freunde gefunden und auch Kontakt zu fortschrittlichen Organisationen in der Region aufgenommen, sodass du bereits einen Eindruck über die Situation hattest. In welchem Sinne hat sich deine Sicht der Lage durch diese Reise verändert?
Tomás Hirsch: Heute gibt es einen starken Pessimismus, ein Gefühl tiefgreifender Entmutigung, eine Art Unterdrückung all jener, die auf irgendeine Weise eine gerechte und allen Parteien angemessene Lösung des Konflikts anstreben. Konkret spreche ich von den Sektoren, die man als progressiv bezeichnen könnte, die Linke. Es wird eine Situation erlebt, die sich stark verschlechtert hat. In Israel ist die Ultrarechte in der Regierung installiert und halten im Namen der Sicherheit einen Status Quo aufrecht, in dem nichts voranschreitet, in dem sich nichts entwickelt, es keinen Ausweg aus dem Konflikt gibt, sondern im Gegenteil ein unendliches Hinausschieben betrieben wird. In Palästina auf der anderen Seite, bei den Menschen, die ich traf, wird die Regierung ebenso als unbeweglich empfunden, dass es viel Korruption gibt, dass keine demokratische Wahlen abgehalten werden, dass alle abwarten, was mit Präsident Abas, der sehr alt ist, geschehen wird und wer sein Nachfolger wird. Ich habe den Eindruck mitgenommen, und in den progressiven Kreisen wird es ebenso empfunden, dass die Führung des Establishments auf beiden Seiten diesen Status quo beibehalten wollen. Es kommt ihnen gelegen, um ihr Festhalten an der Macht zu begründen. In Wirklichkeit ändert sich die Situation jedoch nicht, nichts entwickelt sich.
In Israel erzeugt dies eine enorme Frustration in sehr breiten Schichten der Gesellschaft, aber diese wiederum bilden keine Mehrheit bei den Wahlen oder können die Richtung der Ereignisse nicht ändern. Eine starke Angst wurde erzeugt. Sie glauben, dass sie von Feinden umgeben sind, die sich auf einen Angriff vorbereiten. Basierend auf dieser Angst wird die Besatzung weiter verstärkt, Siedlungen und die Mauer werden verstärkt, und all dies erzeugt eine große Impotenz, es ist etwas anderes als das, was ich bei früheren Besuchen gesehen habe.
Auf dieser Reise wurde ich wiederholt auf Oslo angesprochen, auf die Zeit, als sie näher am Frieden waren, über Isaac Rabin, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit der PLO, Yasir Arafat, über den Prozess geeinigt hatte. Das kam jetzt immer wieder – nicht so auf früheren Reisen – und deutet daraufhin, dass der Mord an Rabin und der Prozess, der so gewalttätig unterbrochen wurde, nicht verarbeitet worden ist.
Und die Situation in Gaza?
Ich war in Israel und im Westjordanland, in Ramallah und in Ost-Jerusalem. Ich war diesmal nicht in Gaza. Die Situation ist kurios, weil einerseits eine sehr große Spannung herrscht. Gaza ist nicht in den Händen der Palästinensischen Autonomiebehörde, sondern in den Händen der Hamas, die eine völlig andere politische, religiöse und nationale Haltung als die PNA vertritt. Tatsächlich halten sie sich gewaltsam an der Macht, töten viele Menschen und die Palästinensische Autonomiebehörde macht die Hamas dafür verantwortlich, dass derzeit keine demokratischen Wahlen abgehalten werden können. Weil, so sagen sie, 2 Millionen Palästinenser in Gaza „gekidnappt“ seien. Auf der anderen Seite befinden sie sich in einem permanenten Konflikt mit Israel; sehr gewalttätig, sie werden beschossen, ihre Leute werden ermordet; Jugendlichen, Kindern aus Gaza, die sich dem Grenzzaun nähern. Merkwürdigerweise, ist es gleichzeitig der Ort, von dem Israel sich zurückgezogen hat. Territorien und auch Siedlungen wurden aufgegeben. Seltsamerweise zeigt sich in Gaza ein Beispiel-Effekt; es ist möglich sich aus den Territorien zurückzuziehen, die Siedlungen aufzugeben und die Macht an die Palästinenser zu übergeben. Dies wurde bereits einmal gemacht.
Welche Schlüsse ziehst du nach all dem, was du gesehen hast und nach so vielen Gesprächen und Treffen mit interessanten Leuten in der Gegend?
Von den mehr als 25 Treffen, Gesprächen, in offiziellen Rahmen, mit dem Militär, mit verschiedenen fortschrittlichen Gruppierungen, Akademikern, Wissenschaftlern, NGOs, Umweltschützern, Vertretern aus verschiedenen spirituellen Strömungen, blieb am Ende etwas, was zumindest, wenn man es vorstellt, ziemlich einfach erscheint. Ich würde klar und deutlich sagen: hier müssen zuerst die Beschlüsse der Vereinten Nationen erfüllt werden.
Die Vereinten Nationen haben viele Mängel, viele Schwächen, sie müssen zweifellos vollständig reformiert werden, aber in der Zwischenzeit ist diese Organisation die einzige, die wir auf internationaler Ebene haben, um auf die Konflikte zu reagieren, in denen sich Länder, Kulturen oder Gesellschaften gegenüber stehen. Und die Vereinten Nationen haben sehr klare Resolutionen verabschiedet und nicht wenige, sondern viele.
Alle sagen im Grunde dasselbe: „die besetzten Gebiete müssen zurückgegeben werden“. Im Nahen Osten gibt es einen komplexen Konflikt zwischen Israel und Palästina, der viele Aspekte hat und mehrere Punkte, für die eine Lösung gefunden werden muss. Aber es gibt eine Angelegenheit, die vorher da war, und ich würde sagen, dass dies für mich der wichtigste Teil dieser Reise war, diese Ausgangsbedienung zu verstehen. Heute gibt es Gebiete, die von Israel besetzt sind, von einem Staat, der Territorien besetzt hat, die ihm nicht gehören. Das ist so klar und selbst in Israel wird es niemand leugnen.
Angesichts dessen sage ich, dass die besetzten Gebiete, wie es schon Silo vorschlug, zurückgegeben werden müssen! Gebt die besetzten Gebiete zurück! Alle Resolutionen der Vereinten Nationen sagen, dass die besetzten Gebiete zurückzugeben werden müssen.
Dort heißt es: „Wir können aufgrund von Sicherheitsfragen die besetzten Gebiete nicht zurückgeben“. Falsch! Die Sicherheit ist garantiert. Erstens durch eine der mächtigsten Armeen der Welt. Zweitens durch eine Mauer; wir werden sehen müssen, was mit ihr passieren soll, aber zunächst ist sie da. Außer in Gaza hat die Gewalt generell abgenommen. Zum Beispiel gibt es an der Grenze zwischen Israel und Syrien – einem Land, mit dem Kriegszustand herrscht – keinen Konflikt. Es gibt einen Zaun, an der Grenze passiert nichts. Die Frage der Sicherheit ist also ein Vorwand, denn Israel hat ein Sicherheitsmanagement wie wenige Länder der Welt.
Außerdem wird gesagt, dass die besetzten Gebiete nicht zurückgegeben werden können, weil es dort Siedlungen mit 450.000 bis 500.000 Menschen gibt. Nun, Israel hat Siedlungen bereits dreimal aufgelöst: in Gaza, auf dem Sinai und im Westjordanland selbst. Israel hat es getan. Sobald die politische Entscheidung getroffen war, die vom Obersten Gerichtshof genehmigt wurde, wurde es umgesetzt. Es ist durchaus möglich es wieder zu tun. Es gibt aber auch andere Lösungen. Die Siedlungen beizubehalten – mindestens 80% mit einem vereinbarten Austausch von Territorien – es gibt Möglichkeiten.
Die besetzten Gebiete zurückzugeben ist aus unserer Sicht das Erste. Wenn das einmal gelöst ist, können die Probleme der Beziehung zwischen Israel und Palästina diskutiert werden. Hierüber gibt es verschiedene Vorschläge. Die Zweistaatslösung basierend auf den Vereinbarungen der Vereinten Nationen und der Teilung, die 1948 gemacht wurde, ist, so glauben wir, eine praktikable Lösung. Die Fragen der Rückkehr, der Entschädigung für beschlagnahmtes Land, das Thema der Religion, der Sprache, viele Themen müssen diskutiert werden. Aber sie haben nichts mit der Besetzung von Gebieten zu tun, die bereits 51 Jahre andauert. Die Frage, die viele sich stellen ist, wie viele Jahre mehr? 50 oder 100 weitere Jahre?
Die Rückgabe besetzter Gebiete schafft die Mindestvoraussetzung für den Dialog. Weder ein inhaltlicher Dialog noch eine Lösung des Konflikts ist möglich, wenn die besetzten Gebiete nicht vorher zurückgegeben werden. Außer innenpolitische Gründe gibt es keine Rechtfertigung. Es erlaubt den israelischen extremen Rechten, an der Macht zu bleiben und ein Gefühl von Unsicherheit und Angst zu schüren; diese Angst verbindet sie erhält sie aufrecht .
Eine letzte Frage über den Nahen Osten, jenseits des von dir besuchten Gebietes.
Die Situation in dieser Region ist viel komplexer als das, was man zunächst sieht, denn es ist nicht nur ein Konflikt zwischen Israel und Palästina, die mächtigen Interessen der Großmächte spielen mit.
Wir haben die Vereinigten Staaten, die Israel und andere Länder als Stützpunkte für ihre Interessen in einem weiten Gebiet sehen, das sich bis nach Asien und sogar nach Nordafrika erstreckt. Wir haben auch Russland, das große geopolitische und wirtschaftliche Interesse hat, sein eigenes Öl und Gas zu bewegen, vor allem aber das iranische Öl und Gas in die Mittelmeerregion und den Rest der Welt zu bringen. Dort haben wir die Interessen Irans, ein Land mit großer Macht auch wenn es unterschätzt wird. Es ist ein weites Land mit 5000 Jahren Geschichte, mit einem starken religiösen und kulturellen Hintergrund, mit einer großen Bevölkerung und eindeutig mit eigenen geopolitischen Interessen. Wir haben China, das weniger gesehen wird, weil, wie wir aus anderen Ländern wissen, sehr unauffällig wirkt; eine eher sanfte Art und Weise, nicht so rabiat, wie die Yankees. China hat jedoch starke Interessen und unterhält eine sehr tiefe Beziehung zu Israel. An der Wissenschaft und Technik Israels sind sie besonders interessiert. Alles fließt hier zusammen.
Und dann gibt es die Konflikte innerhalb der muslimischen Welt. Die sunnitische Welt hat nichts mit der Schia des Irans zu tun. Dann gibt es Verbindungen, die von hier aus schwer zu verstehen sind, aber es gibt Verbindungen zwischen Saudi-Arabien und Israel, die einen gemeinsamen Feind in den Schiiten sehen, und Ägypten, das ebenfalls sunnitisch ist und die Grenzen zu Gaza völlig abriegelt.
Es ist ein Konflikt und eine Region, in dem gigantische politische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Interessen vieler anderer Akteure zusammentreffen. Und anstatt eine Lösung zu erleichtern, behindert es enorm.
Ganz zu schweigen von der Rüstungsindustrie. Es ist von Bedeutung für die nordamerikanische Rüstungsindustrie, deren größte Kunden nicht in Israel, sondern in Saudi-Arabien, Katar und einigen anderen Staaten des Persischen Golfs sitzen, die wiederum die größten Ölproduzenten der Welt sind. Ebenso von Bedeutung ist der israelisch-iranische Rüstungswettlauf, der natürlich die russische Industrie nährt, die große Interessen an Iran hat, gleichzeitig aber keinen „exzessiven Vormarsch“ des Irans wünscht und diesen dann in Syrien bremst. Interessanterweise ist Russland gleichzeitig Freund und Feind des Iran. Es ermöglicht den Vormarsch in bestimmten Bereichen, sorgt für militärische Entwicklung einerseits, in Syrien stoppt Russland Iran, mit der Botschaft „bis hierhin und nicht weiter“ und streitet mit dem Iran um diesen geschwächt zu halten.
Es ist eine sehr komplexe Situation in diesem Gebiet, modellhaft für die Situation auf der ganzen Welt. Leider tragen die Menschen, die Völkern, die Kosten für diese ganze Situation. An erste Stelle das palästinensische Volk und die Leute der Gegend im Allgemeinen.
Übersetzung aus dem Spanischen von Monica Lavin