Nach den Ereignissen in Chemnitz scheinen Politiker Deutschlands genervt und ihre Medien aufgeschreckt zu sein, als ob Deutschland kurz vor dem Notstand zu stünde. Nüchterne wissenschaftliche Analysen der Ursachenforschung stehen noch aus.
Die politischen Demonstrationen und die verwerfliche Messerattacke mit tödlichem Ausgang haben wohl unterschiedliche Hintergründe. Die Finger werden medial vorschnell in Richtung „Ossis“ und Flüchtlinge gestreckt.
Die abscheuliche Messerattacke ist mit aller Strenge der vorhandenen Gesetze aufzuklären. Die Berliner Zeitung berichtete am 7.9.2018, dass bereits 120 Verfahren eingeleitet worden sind. Das Netzwerk der Gesetze reicht sicher aus. Die Tat reiht sich wahrscheinlich in die lange Reihe verrohter Tötungsdelikte in ganz Deutschland ein.
Als Anregung für die Ursachenanalyse wäre es gut, sich an die chaotischen 90ziger Jahre im Osten nach der Wende zu erinnern. Die Bewohner der Neuen Bundesländer, auch Sachsens, hatten damals ein anderes Verständnis von den Grundwerten einer Gesellschaft. Die westlichen waren im Allgemeinen unbekannt.
Die Brüche in ihrer gewohnten Lebens- und Arbeitswelt, verbunden mit sozialen Unsicherheit waren nach der Wende schmerzlich tief. Die Wunden sind bis zur Gegenwart nicht vollständig verheilt. Eine große Lernperiode setzte in den Wendejahren zwangsläufig im Osten ein, um durch Arbeit das Überleben zu sichern. Aus der Steuerkasse des vergrößerten Deutschlands gab es Arbeitslosengelder und sie übernahm dankenswerterweise die Kosten, für berufliche Fortbildungskurse. Damit sollten auch die Fluchtbewegung zu den Arbeitsplätzen im Westen gestoppt werden. Almosen aus dem Westen waren es nicht. Die Ostler zahlten ebenfalls den monatlichen Solibeitrag in die gesamtdeutsche Staatskasse ein, wie auch ihre Mehrwertsteuer. Auch die Versicherungs- und Lohnsteuern der Ostler flossen nach Bonn.
Die ungewohnte Arbeitslosigkeit, ständige Preisbewegungen für das Lebensnotwendige etc. erschütterten die Lebensplanung der Ostdeutschen heftig. Ein leises Echo ist noch in Chemnitz zu vernehmen.
Vergessen wurde in der Nachwendezeit die politische Aufklärung. Es gab kein Ringen um Herstellung eines Konsenses zwischen Ost und West. Eher waren ständige mediale Aktionen zu erkennen, um an die dunklen Flecken des Realsozialismus zu erinnern. Es fanden keine öffentlichen Debatten über die Inhalte der westlichen repräsentativen Wahldemokratie statt. Das westliche Mehrparteien System mit der scheinbaren Teilung der Macht wurde vom Parlament gemäß den Mehrheitsverhältnissen auf die Schwestern und Brüdern im Osten per Gesetz einfach übertragen. Sie merkten erst spät, dass die machthabenden Parteien, trotz Koalitionen, Brüder im neoliberalen Geiste waren.
Versuche, in den Nachwendejahren eine neue Verfassung mit demokratischen Werten öffentlich zu debattieren, wurden von den großen Mehrheitsparteien abgelehnt. Ein Entwurf aus Kreisen der Bürgerrechtler der Neuen Bundesländer lag bereit in der Schublade.
Die Bundeszentrale für politische Bildung stellte zahlreiche Lesematerialien kostenfrei zur Verfügung. Das konnte das Fehlen politischer Lehrfächer in den Schulsystemen der allgemeinbildenden Schulen bis zu den Hochschulen nicht ausgleichen. Einzelne Wissenschaftler stellten sich der Aufgabe zur Aufklärung. Beispielsweise verfolgten die Professoren Besson und Jasper mit ihrem Projekt „Leitbild der modernen Demokratie“ (Paul List Verlag, München) die Schwestern und Brüdern im Osten mit den neuen Ideen vertraut zu machen. Mit solchen Arbeiten standen aber gleichzeitig die Schwächen der westlichen Demokratie im Raum, oder sie machten gleichfalls auf Probleme der allesbeherrschenden Wirtschaft aufmerksam.
Das Korsett der Demokratie, das Grundgesetz, ist an mehreren Stellen morsch geworden oder es war 1947 bei seiner Verabschiedung nicht fest genug gefügt. Bis zur Gegenwart gab es 226 Änderungen oder Einfügungen. Alle Staatsgewalt soll vom Volke ausgehen (ART. 20), aber nach der Wahl wird sie in die Hände der Abgeordneten oder höheren Regierungsbeamten gelegt.
Die ART.26 und 107 stellen den Abgeordneten die Aufgabe für gleiche Lebensverhältnisse zwischen den 16 Bundesländern zu sorgen. Löhne, Renten, Kinderarmut und Vermögen bleiben seit Jahren ungleich verteilt. Die Agenda der jetzigen Regierung sieht kaum deutlich spürbare Veränderungen vor.
Die Präambel des Grundgesetzes verpflichtet die Regierung „dem Frieden der Welt zu dienen“. Das hindert die Regierungsbeamten nicht, Exportgenehmigungen für Kriegsmaterial zu erteilen.
Solche Defizite bleiben auch in Sachsen nicht unbemerkt.
Die brutale Messerattacke in Chemnitz hat offensichtlich andere Ursachen als Demonstrationen, die eine Verbesserung der sozialen Lage einfordern. Brutalität und Verrohung können befördert werden, wenn Gesetze lediglich Selbstbeschränkungen vorsehen, beispielsweise bei der Herstellung von Computerspielen mit Tötungsorgien (z.B. Sniper 3 D, Gangstar 4, Spieleaffe u.a.). Gesetzgebende Abgeordnete, die Justiz und der Ethikrat tragen Verantwortung für die Erziehung der jungen Generation.
Ein weiteres Problem findet zu geringe Beachtung: Demokratie und Gleichheiten sind schwer theoretisch erlernbar. Sollen sie fest verankert werden, müssen sie gelebt und vorgelebt werden. Es braucht mehr als eine Generation, wie es die NPD, NSU und ähnliche Bewegungen mit dauerhafter Präsenz deutlich machen. Neue rückwärtsgewandte Organisationen, wie die AfD sind in einer labilen Demokratie nicht auszuschließen. Es setzt schon Fragezeichen, dass der heutige Ministerpräsident von Sachsen in der Bundestagswahl 2017 gegen einen AfD Mann in Görlitz (Sachsen) unterlag.
Wie weiter?
Eine alleinige Rückschau ist für die Debatte kaum produktiv. Ebenso wenig sind es Vorurteile gegenüber Sachsen oder Berlin (Resterampe der Republik, O Ton des bayrischen Ministerpräsidenten, Berliner Zeitung 05.09.2018). Grundprobleme existieren in allen Bundesländern mehr oder weniger. Parteien und ihre Politiker werden gewählt, um sie künftig zu lösen.
Das stärkere Hinhören auf die Stimme des Souveräns wäre angebracht. Im kommenden Jahr 2019 feiert Deutschland den 100. Geburtstag seiner ersten bürgerlichen Verfassung. Das wäre ein guter Anlass, das 1992 gestoppte Projekt einer modernen deutschen Verfassung wieder aufzunehmen. Weiter sollte die deutsche Regierung die überfällige Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt vornehmen. Das Protokoll stärkt das Recht auf soziale Sicherheit und es kann als subjektives Recht einklagbar werden. Die Eberhard-Schultz-Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation weist seit langem mit vielen Aktionen auf diesen Mangel der deutschen Regierung hin.
Die Bürger aller Bundesländer haben Ansprüche auf die Grundwerte der Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit, des Friedens und der Sicherheit. Alle haben auch Pflichten gegenüber der Gemeinschaft und Möglichkeiten der Mitbestimmung, beispielsweise, sich an politischen Wahlen zu beteiligen.