Scotts „Blade Runner“ hatte es nicht leicht. Der Regisseur kassierte 1982 nicht gerade überwiegend freundliche Filmkritiken und sah sich zudem einer starken Konkurrenz ausgesetzt: Spielbergs „E.T.“.
Kein „Oscar“ war weit und breit zu sehen, lediglich zwei Nominierungen. Dabei ist „Blade Runner“ ein vor allem visuell, aber auch dramaturgisch faszinierendes „Zukunftsgemälde“, ein „Sciencefiction-Western“, der um die Frage kreist, was Menschsein letztlich ausmacht – fotografiert in einer düsteren, schmutzigen Welt des Jahres 2019. Eine der Schlagzeilen auf den Werbewänden enthält die Aufschrift: „Man has made it’s match – now it’s his problem.“ Assoziationen zu Kubricks „The Shining“ (1980), Fred Zinnemanns „High Noon“ (1952) und „Metropolis“ (1927) sind naheliegend.
Mit folgender Einführung beginnt der Film:
„Anfang des 21. Jahrhunderts stieß die Tyrell Corporation in der Entwicklung der Roboter in die Phase „Nexus“ vor, sie schufen ein dem Menschen völlig identisches Wesen – den Replikanten. Diese künstlichen Menschen der Phase Nexus 6 waren stärker, beweglicher und mindestens ebenso intelligent wie die Genetik-Ingenieure, die sie geschaffen haben. Replikanten wurden als Sklavenarbeiter bei der gefährlichen Erforschung und Kolonialisierung anderer Planeten missbraucht.
Nach der blutigen Meuterei einer Nexus 6 Gefechtstruppe in einer Kolonie auf einem anderen Planeten wurde Replikanten unter Androhung der Todesstrafe die Rückkehr zur Erde verboten.
Spezielle Polizei-Einheiten – die ‘Blade Runner’– erhielten den Befehl, jeden Replikanten, der auf der Erde entdeckt wird, zu töten. Man nannte es nicht Exekution, sondern ‘aus dem Verkehr ziehen’.“
Blade Runner Holden (Morgan Paull) wartet in einem tristen Raum auf Leon (Brion James), den er einem Test unterziehen will. Leon betritt das Zimmer, scheinbar verwirrt, fast ängstlich, während Holden, eine Zigarette rauchend, eiskalt seine merkwürdigen Fragen stellt. Er führt den Voightkampff-Test durch. Leon wird von Frage zu Frage immer nervöser. Plötzlich zieht er eine Waffe und gibt zwei Schüsse auf sein Gegenüber ab, nachdem Holden ihn aufgefordert hat, ihm alles Positive zu seiner Mutter zu erzählen. Holden ist tot.
Rick Deckard (Harrison Ford) ist arbeitslos und allein. Vor etlicher Zeit war er Blade Runner. Man sieht ihn auf der Straße sitzend, Zeitung lesend, wartend. Er hat Hunger und wartet, dass der Imbissstand auf der anderen Straßenseite frei wird. Er hat kaum etwas gegessen, als plötzlich der Polizist Gaff (Edward James Olmos) hinter ihm steht und ihn ultimativ auffordert, mit ihm zu Polizeichef Bryant (M. Emmet Walsh) zu fahren. Bryant mustert Deckard kurz und erteilt ihm – der gar nicht mehr bei der Polizei arbeitet – eine Auftrag: sechs Replikanten hätten 23 Menschen getötet und würden sich unerlaubt auf der Erde aufhalten. Er brauche ihn, um sie zu töten. Deckard will ablehnen, aber Bryants Worte belehren ihn eines besseren: „If you’re not a cop, you’re little people.“ Deckard hat keine Wahl: Entweder er macht wieder mit, oder er muss um sein Leben fürchten. Bryant erzählt Deckard, dass die Nexus-6-Replikanten nur über eine Lebensdauer von vier Jahren verfügen, und zwar deshalb, weil sie so ausgestattet seien, dass sie im Laufe der Zeit eine eigene Gefühlswelt entwickeln können. Von diesem Risiko könne er sich selbst überzeugen.
In der Tyrell-Corporation soll er einen Replikanten testen. Deckard ahnt nicht, dass er einem solchen gegenübersteht, als er Rachael (Sean Young) bei Tyrell (Joe Turkel) das erste Mal sieht. Auch Rachael denkt, sie sei ein Mensch. Mehr als hundert Fragen stellt Deckard Rachael. Als sie Tyrells Büro verlassen hat, fragt Deckard Tyrell: „Sie ist eine Replikantin, nicht wahr?“ Und Tyrell bejaht, allerdings eine, der Erinnerungen implantiert worden seien – menschlicher als der Mensch, perfekter als der Mensch. Daher wisse sie nicht, dass sie kein Mensch sei.
Als Rachael später vor seiner Haustür steht und ihm seine Hilfe anbietet, lässt sie Deckard widerwillig herein und macht ihr deutlich, dass sie kein Mensch sein kann: Er erzählt ihr von „ihrer“ Kindheit, die in Wahrheit nur Ausdruck implantierter Erinnerung einer anderen Person sei.
Die Replikanten Roy Batty (Rutger Hauer), Leon und Pris (Daryl Hannah) suchen einen Weg, zu Tyrell zu kommen. Sie nehmen an, dass Tyrell der einzige ist, der ihre Lebenszeit verlängern kann. Der „Augenmacher“ Chew (James Hong) verweist sie an den Mitarbeiter Tyrells, J. F. Sebastian (William Sanderson), einem Designer für künstliches Leben. Pris nimmt Kontakt zu Sebastian auf, und Roy zwingt ihn, sie zu Tyrell zu führen. Der allerdings erklärt Roy, dass es keine Möglichkeit gebe, ihr Leben zu verlängern. Tyrell muss mit seinem Leben bezahlen.
Währenddessen bedroht Leon Deckard. Kurz bevor er ihm die Augen ausstechen will, rettet Rachael Deckard durch einen gezielten Schuss auf Leon. Deckard selbst findet die Schlangenfrau Zhora (Joanna Cassidy) und kann sie töten: Er erschießt sie von hinten. Es bleiben nur noch Roy und Pris, die Deckard bei Sebastian in der Wohnung aufspürt. Und Rachael, zu der Deckard ein zwiespältiges Verhältnis entwickelt. Er scheint sie zu lieben …
Scotts Sciencefiction ist über den Rand voll gefüllt mit gewollten Assoziationen, Andeutungen, Bezügen zu religiösen Mythen usw. Diese Assoziationen werden nicht aus-inszeniert, nur angedeutet, benannt und dem Betrachter bleibt es überlassen, seine Schlüsse zu ziehen. „Blade Runner“ (wörtlich: Klingen-Läufer, auch eine Assoziation, etwa an Ritterfiguren) gehört zu den wenigen Streifen der Filmgeschichte, die – auch dadurch, dass sie sich sozusagen weigern, irgendwelche Lösungen feil zu bieten – zu den „wildesten“ Spekulationen, Überlegungen, Interpretationen Anlass bieten (können).
Die Welt, die Scott zeigt, ist eine dunkle, zerrissene, dampfende, rauchende, nasskalte, maschinelle Welt. Die riesigen Video-Werbeflächen verkünden vordergründig Lügen, doch bei genauem Hinsehen eher sarkastische Kommentare zu dieser Welt, die sich scheinbar in Menschen aus Fleisch und Blut hier, in mit Haut überzogene künstliche Replikanten dort geteilt hat. Eine teuflische Industriewelt überzieht den Globus. Smog und Feuer haben sich offenbar für immer über die Lebenden und ihre Städte gelegt. Die Straßen sind verdreckt, es regnet fast immer, das Gebäude, in dem Sebastian wohnt, ist fast vollständig verfallen. Grelles Kunstlicht scheint die einzige Quelle für Helligkeit zu sein.
Die Figuren leben großenteils von ihren Kunstprodukten. Doch dies ist – in gewisser Hinsicht – keine homogene Welt. Sie besteht aus den Relikten verschiedener Epochen und Jahrzehnte, insbesondere des 20. Jahrhunderts, was Kleidung, Inneneinrichtung der Räume, Gebäude betrifft, ein Sammelsurium, eingerahmt von Vangelis Musik. Wie Tausende von Schichten türmt sich Geschichte in den Bildern auf, Totes, Gewordenes, das sich Erklärungen, Lösungen, Antworten zu entziehen scheint. Die Assoziation zu Kubricks „2001: A Space Odyssey“ ist manchmal frappant, nicht in der Art der Erzählung, der konkreten Visualisierung, aber in dem überwältigenden Gefühl einer Welt, in der sich Menschen vor ihrer eigenen Entwicklung zu verstecken scheinen, ohne dass ihnen das bewusst ist.
Überhaupt ist „Blade Runner“ keine Erzählung, kein Drama im gängigen Sinn. Endpunkt und Ausgangspunkt sind nahezu identisch. Als die Jagd endet, hat sich nichts geändert. Oder doch?
Diese Welt zeigt Scott bis zum Exzess. Die Kamera rauscht durch sie hindurch, als wenn wir Teil dieser Welt wären. Und wir sind es irgendwie auch. Das Auge spielt eine besondere Rolle. Das Auge scheint das einzige Mittel, diese Welt zu erfassen, verbirgt in Wirklichkeit jedoch eher die Geheimnisse dieses bombastischen Kunstproduktes „Welt“. Menschen können Replikanten nur über das Auge, dessen metallischen Glanz erkennen – glauben sie. Aber ist das die letzte Wahrheit? Auch das ist in dieser Welt nicht wirklich sicher. Tyrell, Chew und der Schlangenmacher tragen monströse Brillengestelle, um besser sehen zu können. Durch sie sehen auch wir. Aber was sehen wir und sie und ist das „die Wirklichkeit“? Oder welche?
Das Auge steht im übrigen auch für die Kamera, den Film. Scotts Kamera ist Teil dieses Sammelsuriums von Augen, die angeblich nicht betrügen können. Das Sehen ist einerseits die fast einzige, jedenfalls wichtigste Möglichkeit, die Welt zu verstehen, zu erkennen, andererseits bleibt dieses Sehen einem subjektiven Bereich verhaftet, der den Erkennenden einsam macht. Es ist „nur“ sein Erkennen der Welt, was er durch das Auge, das selbst durch eine Membran Inneres und Äußeres trennt, wahrnimmt.
Das Auge bedeutet auch Gesehen-Werden. Die Replikanten wie die Menschen aber wollen sich verbergen, die einen, weil sie nicht getötet werden wollen, die anderen, weil sie töten wollen. Pris malt sich das Gesicht an, umrandet ihre Augen mit Farbe, spielt eine Puppe in Sebastians Wohnung, als Deckard ihr auf der Spur ist. Sie verbirgt sich. Alle verbergen sich. Die Replikanten erscheine – nicht nur einmal – als künstliche Spiegelung des Menschlichen, das verloren scheint.
Das Erkennen der Replikanten über die Augen selbst ist jedoch zweifelhaft. Der Frage-Test ist zweifelhaft. Über hundert Fragen stellt Deckard Rachael und ist sich hinterher nicht sicher, ob sie zu den Replikanten gehört. Deckard gehört sowieso schon zu den Zweiflern an dieser Welt, der er selbst angehört. Er will keine Verantwortung mehr übernehmen für die Folgen der technologischen Entwicklung. Deshalb ist er kein Blade Runner mehr. Seine vordergründige Härte, die er als Polizist, als Jäger erlernt hat, dient ihm jetzt nur noch als – letztlich vergebliches – Schutzschild. Er ist gescheitert und er weiß noch nicht einmal, wie weitgehend er gescheitert ist. Am Ende, als er mit Rachael den Fahrstuhl betritt, kann er sich nicht mehr sicher sein, ob er nicht selbst Replikant ist. Scott lässt auch diese Frage offen, aber er stellt sie, er konfrontiert den Betrachter mit der Möglichkeit. Vielleicht gehört Deckard, vielleicht gehören alle anderen, die sich für Menschen halten, nur zu einer anderen Sorte von Replikanten. Schließlich kann selbst Rachael nicht von sich aus erkennen, ob sie Mensch oder Replikant ist.
Die Anfangsszene zwischen Leon und Holden, dieser vergebliche, tödlich ausgehende Vorgang des „Erkennens“ reproduziert sich in dem Gespräch zwischen Deckard und Bryant, später zwischen Roy und Tyrell. Es scheint nur um eines zu gehen: Um Erkennen, Suche nach Wirklichkeit und Wahrheit. Immer deutlicher verwischen die Grenzen zwischen Mensch und Replikant. Die Differenz scheint eine Erfindung zu sein, Produktion von Ideologie. Die Replikanten erscheinen wie um ihre Befreiung und ihr Leben kämpfende Unterdrückte, die – als ob sie vom Himmel fallen – auf der Erde in einer Art Revolte ihren Kolonialstatus abstreifen wollen. Tyrell, der scheinbar mächtigste Mann, muss dafür büßen: ein Vatermord, den Roy an ihm vollbringt, indem er ihm den Kopf in Höhe der Augen zusammen quetscht, ihm das Sehen nimmt und damit das Leben. Ist das Sehen wirklich so wichtig, wie Scott uns erzählt? Oder steckt schon hier – potenziert durch die Macht des Visuellen im Film – ein gewaltiger Trugschluss?
Die Replikanten stellt Scott nicht als dumpfe, gefühllose, technisch-„barbarische“ Figuren dar, sondern durchaus ambivalent wie die Menschen auch. Bei Rachael wird dies am deutlichsten, der Replikantin, die sich erinnern kann, der Deckard die Worte einflößt, die sie nicht kennt: „Küss mich, ich will dich, leg deine Arme um mich.“ Diese Worte kennt Rachael nicht, weil sie in ihrer (implantierten?) Erinnerung nicht vorkommen. Als sie ihn fragt, ob er den Test je gemacht habe, gibt sie ihm zu verstehen, dass auch er nicht sicher sein könne, Mensch zu sein. Sie schauen sich in die Augen, sind einsam – auch das eine Andeutung im Film, die immer wieder betont wird: die Einsamkeit aller Figuren –, sehen sich aber für einen kurzen Moment im anderen, spiegeln sich, tun das, was dieser Welt verloren gegangen scheint – eine „gewisse“ Gewissheit, Verlässlichkeit.
Auch Roy ist nicht die brutale Maschine, als die er anfangs vielleicht erscheint. Als seine Zeit abgelaufen ist, rettet er auf der Jagd zwischen ihm und Deckard diesem das Leben. Während Deckard anfangs ein sehr distanziertes Verhältnis gegenüber Rachael an den Tag legt, das darin gipfelt, dass er sie gewaltsam auf ihrer Flucht vor einem Kuss an die Wand schleudert, wandelt sich ab diesem Zeitpunkt beider Beziehung: Letztlich sehen beide keinen gravierenden Unterschied mehr zwischen sich. Aus dem „Es“, das Rachael für Deckard war, ist eine „Sie“ geworden, das Unverständliche für Rachael, das Erotische, nicht nur das Sexuelle, ist zum Teil ihrer Erinnerung geworden. Anders gestaltet sich das Verhältnis zwischen Roy und Tyrell: Roy sucht nach dem Leben, dem längeren Leben, seine Uhr droht abzulaufen. Sein „Vater“ erklärt ihm, dass er ihm nicht helfen kann. Aus einem „technizistischen“ Verhältnis zwischen Vater und Sohn resultiert der Mord. Roy tötet Tyrell, weil dieser Vater ihm kein Leben geschenkt hat, sondern nur den sicheren Tod ohne ein Leben in Freiheit, ein Dasein ohne Lebendigkeit.
Der Traum vom Leben durchzieht „Blade Runner“, aber eben nur der Traum. Weder die Menschen – die möglicherweise Replikanten sind –, noch die Replikanten – die vielleicht doch (mutierte?) Menschen sind – die wohl heiß umstrittenste Frage, die heftig diskutiert wurde und wird – sehen (Augen!) eine andere Möglichkeit zu leben, als dies durch Gewalt zu erreichen. Mit zwei Ausnahmen: Die „wundersame“ Rettung Deckards durch Roy und das Einhorn, das Deckard im Traum erscheint, als er seine Familienfotos anschaut. Das Einhorn symbolisiert – unter der Voraussetzung, dass es sein Haupt in den Schoß einer Jungfrau legt und dadurch seine Wildheit verliert – Unschuld und Reinheit, das weibliche Prinzip des Empfangenden und Instinktiven, die bedingungslose Liebe, auch für die Heilung von Wunden, das Wiedererwecken von Toten, die Natur (so sagt man dem Fabelwesen nach, bei Berührung eines giftigen Flusses mit dem Horn wäre das Wasser wieder rein geworden). Das Einhorn wurde gejagt und ausgerottet.
Genau diese Sehnsucht nach Unschuld, Liebe, Reinheit – in dieser Form ein „absoluter“ Wunsch, eine Phantasie nach Vollkommenheit, aber eben auch die Sehnsucht nach einem fundamental anderen Leben – scheint in einem kurzen Moment bei Deckard auf.
Zu „Blade Runner“ ließe sich viel schreiben, interpretieren, erfühlen. Manche meinen, der Film manipuliere ausschließlich durch seine visuelle Kraft, enthalte aber nicht viel darüber hinaus. Also ein typisches Beispiel für die Macht der Bilder, die Blendung? Auch! Doch die Dekonstruktion dieser Bilder enthüllt meines Erachtens zentrale Momente im Hinblick auf die Frage – nicht die Antwort – was Menschsein ausmacht. Dazu gehören die Bedeutung von Erinnerung als wesentliches subjektstiftendes Moment, die Verlorenheit in der Pseudo-Objektivität des „nach-industriellen“ Zeitalters, die Illusion über die Macht der Technologien und die Illusion über die Ohnmacht des „technologisierten“ sozialen Gefüges, über „die“ weibliche und „die“ männliche Sicht, die sich nicht unbedingt über Personalisierung auf Geschlechter manifestiert, über Einsamkeit und Verbundenheit, Trennung und Zusammenhang – und vielleicht einiges mehr. Auch übrigens über die Art und Weise, wie wir (auch Filme): sehen.
„Blade Runner“ hat den „Vorteil“ – wie wenige andere Filme im Meer der (Kino-)Bilder –, bei jeder Sicht neue Entdeckungen offenbaren zu können. Das hängt von jedem und jeder einzelnen selbst ab.