Der 24. August 2018 ist ein historisches Datum für Spanien. Die neue Regierung unter Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE, Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) hat beschlossen, die sterblichen Überreste des vor 43 Jahren verstorbenen und in einem Mausoleum im „Tal der Gefallenen“ (Valle de los caidos) beigesetzten spanischen Diktators Francisco Franco zu exhumieren. Sein Leichnam soll an einem noch nicht bekannten Ort bestattet werden.
Alte Wunden sollen geschlossen werden
Damit beginnt ein neues Kapitel in der Vergangenheitsbewältigung des von Krisen gebeutelten Spaniens. Sánchez erklärte, dass ein Land, das in die Zukunft blicken will, seinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht haben muss. Keine Demokratie könne sich Denkmäler erlauben, die eine Diktatur verherrlichen. Die Regierung handele mit angemessener Gelassenheit, um den Opfern des Franquismus und damit der Demokratie ihre Würde zurückzugeben. Die Wunden, die das Land erlitten habe, hätten zu viele Jahre offen gelegen. Es sei der Moment gekommen, sie zu schließen. Die Demokratie in Spanien müsse Symbole haben, die die Bürger vereine und nicht entzweie. Es sei dringend zur Tat zu schreiten, denn man sei spät dran. Mehrere Gelegenheiten hätte man verstreichen lassen, statt auf das spanische Parlament, auf die UNO und auf Experten zu hören. Die aktuelle Regierung wolle damit nicht mehr länger warten.
Ein Grab für 33.000 Gefallene
Nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) ordnete Franco per Dekret den Bau eines monumentalen Denkmals an. Es sollte den Gefallenen des Bürgerkrieges gewidmet und gleichzeitig ein Symbol für den Sieg des Franquismus sein. Bei dem „Nationalmonument des Heiligen Kreuzes im Tal der Gefallenen“ handelt es sich um das größte freistehende Kreuz der Welt. In der Höhe misst es 155 Meter, in der Breite 44 Meter. Es steht auf einem Berg, in den eine künstliche Höhle getrieben wurde, in dieser befindet sich eine Basilika mit einer Länge von 263 Meter. Darin ruhen die Gebeine von 33.000 Gefallenen, die Überreste des Gründers der faschistischen Bewegung Falange, José Antonio Primo de Rivera und von Diktator Francisco Franco.
Die Arbeitsbedingungen an dem Monument waren äußerst schwierig. Ein fast chronischer Mangel an Baumaschinen verzögerte die Fertigstellung. Die Bauzeit betrug 19 Jahre. An den Arbeiten waren auch etwa 20.000 politische Gefangenen beteiligt. Als Belohnung war ihnen vom Franco-Regime eine Haftverkürzung zugesagt worden. 1960, ein Jahr nach der Einweihung, erhob Papst Johannes XXIII die eingelassene Kirche zur Basilika. Dieser Akt warf ein schlechtes Licht auf den Vatikan. Dort wird bekannt gewesen sein, wer den Löwenanteil an der Arbeit erbracht hatte.
Nach dem Tod Francos 1975 wurde das Baudenkmal zu einem Wallfahrtsort für Spaniens Faschisten. Bis heute hat sich nichts daran geändert, was zur Spaltung der Bevölkerung beiträgt.
Mauer des Schweigens
Das Spanien nach dem Ende der Diktatur gesellschaftlich nie wirklich zur Ruhe gekommen ist, und es immer wieder zu Auseinandersetzungen der politischen Lager kam, liegt meines Erachtens nach nicht zuletzt darin begründet, dass es keinerlei ernsthaft betriebene Vergangenheitsbewältigung gegeben hat. Im Gegenteil, selbst der erste sozialistische Ministerpräsident Spaniens, Felipe González verhinderte ein solches Unterfangen. Er argumentierte, dass der Bürgerkrieg eine Sache der Vergangenheit und ein abgeschlossenes Kapitel in der Geschichte sei. Kein Verbrechen aus dem Bürgerkrieg oder aus der Zeit der Diktatur wurde je geahndet, kein Täter verurteilt oder bestraft. Noch heute befinden sich Folterer und Mörder aus der Franco-Ära auf freiem Fuß.
Die junge Generation, die weder die Diktatur noch den Bürgerkrieg erlebt hat, begann jedoch Fragen zu stellen. Sie fragten nach dem Verbleib von Großeltern, Vätern und anderen Familienmitgliedern, die sie nie kennengelernt hatten. Damit trieben sie tiefe Risse in die bis dahin bestehende Mauer des Schweigens und riefen vergessene Ängste hervor. Auf Seiten der Opfer die Angst vor Repressalien durch die Täter von gestern, und unter den Tätern die Angst nach den vielen Jahren des Vergessens doch noch bestraft zu werden.
Hinterbliebene und fragende Jugend bauten so lange Druck auf, bis schließlich, unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten José Luís Rodriguez Zapatero eine Phase der Vergangenheitsbewältigung begann. Das Justizministerium stellte Gelder bereit um nach Massengräbern aus dem Bürgerkrieg und der Zeit der Diktatur zu suchen. Es erstellte eine Landkarte, in der bis 2011 Massengräber aus Kriegszeiten und der Diktatur eingezeichnet wurden.
Bis 2011 wurden auf spanischem Territorium 2591 Massengräber gefunden. 120.000 Leichen wurden exhumiert und teilweise identifiziert. Das bis dato größte Massengrab befindet sich in Francos Mausoleum. Von ihnen wurden bis jetzt ca. 12.000 nicht identifiziert. Es wird vermutet, dass es sich bei den meisten der 12.000 um Gefallene Republikaner handelt. Vermutlich wurden ihre Gebeine für Propagandazwecke gebraucht. Weil nicht genug gefallene Faschisten verfügbar waren, wurden aus ganz Spanien Republikaner aus ihren anonymen Massengräbern geholt und im Mausoleum beigesetzt. All das geschah ohne die Erlaubnis der Familienangehörigen der bereits identifizierten Leichen einzuholen.
Horror-Eisberg aus Leichen
2011 führten die Parlamentswahlen zu einem Regierungswechsel. Neuer Ministerpräsident wurde Mariano Rajoy von der rechtskonservativen Partido Popular (PP). Unter Rajoy strich das Innenministerium sämtliche Unterstützungen für die Suche nach Opfern des Franquismus. Die namenlosen Toten blieben verscharrt in Straßengräben, irgendwo in den Bergen und Wäldern Spaniens und man kehrte zur alten Politik des Schweigens zurück. Der Horror-Eisberg aus Leichen, dessen sichtbare Spitze das Mausoleum des alten Diktators bildete, schwamm weiter, als sei nichts gewesen.
Entsprechend motiviert zeigten sich die Franquisten. Immer ungenierter zogen sie in den letzten Jahren zu jeder sich bietenden Gelegenheit durch die Straßen Spaniens.
Das in Kraft Treten des im Volksmund als „Knebelgesetz“ bezeichneten Gesetzes zum Schutz der Bürger trug zur Stärkung des Gefühls bei, Spanien bewege sich in der Zeit zurück, hin zur Diktatur.
Noch im März diesen Jahres lehnte die Regierung von Rajoy den Gesetzesentwurf der PSOE ab, nachdem alle im Mausoleum liegenden Toten exhumiert werden sollten, inklusive die sterblichen Überreste der beiden faschistischen Führer. Als Grund für die Absage führte die Regierung die hohen Kosten von rund 213 Millionen Euro an, in denen unter anderem Entschädigungen für Hinterbliebene, DNA Tests zur Identifikation, Gehälter für die Experten über ungefähr 2 Jahre und Beisetzungskosten einkalkuliert wurden.
Das „Lebenswerk des Diktators“
Als bekannt wurde, dass die 1976 gegründete „Nationale Stiftung Francisco Franco“ finanzielle Zuwendungen von der Regierung erhielt, löste das zahlreiche Proteste innerhalb der Bevölkerung und der parlamentarischer Opposition aus. Die private Stiftung hat das Ziel, das Andenken an das „Lebenswerk des Diktators“ zu erhalten und zu verbreiten. Schirmherrin und Ehrenpräsidentin war bis zu ihrem Tod, Carmen Franco y Polo, die Tochter Francos. Aktueller Präsident ist der ehemalige Adjutant des emeritierten Königs Juan Carlos de Borbón y Borbón.
Kern der Stiftung ist das persönliche Archiv Francos. Es umfasst rund 30.000 Dokumente (300.000 Seiten) unterschiedlicher Natur, darunter befindet sich die Korrespondenz mit anderen Staatschefs, Gesetzentwürfe, persönliche Notizen und laut Aussage der Regierung, Dokumente die Staatsgeheimnisse enthalten. Die Stiftung behauptet, all diese Unterlagen und Schriftstücke seien der Öffentlichkeit zugänglich. Mehrere Historiker gaben gegenüber der Presse allerdings an, dass man ihnen den Zugriff auf das Archiv wiederholt verweigert habe. Damit wurde ihnen eine der wichtigsten Informationsquellen genommen, um eine korrekte Aufarbeitung der Vergangenheit zu betreiben. Wer wenn nicht der Diktator höchst selbst könnte Beweise für seine Verbrechen und die seiner Helfer liefern?
Die Francostiftung hat der Regierung Sanchez mit juristischen Konsequenzen gedroht, falls die Umbettung tatsächlich vorgenommen würde. Es bleibt auch abzuwarten, wie die Mitglieder ultrarechter Bewegungen auf das Ansinnen der Regierung reagieren werden.
Eine zweite Chance
Mit dem Dekret der spanischen Regierung, den Diktator Franco aus seiner bisherigen Ruhestätte zu entfernen, bietet sich die Chance, den Opfern des Franquismus gegenüber Gerechtigkeit zu üben. Anders als beispielsweise in Deutschland bei den Nürnberger Prozessen und späteren Gerichtsverhandlungen, musste sich in Spanien niemand vor Gericht verantworten.
Als Franco starb, gingen viele seiner Anhänger und die Mitläufer des Regimes als Faschisten ins Bett und standen am anderen Morgen als lupenreine Demokraten wieder auf. Möglich wurde dies durch einen Kompromiss der politischen Akteure in der Zeit der so genannten Transición, dem Übergang vom Franquismus zur Demokratie.
Durch ein Amnestiegesetz, das im Oktober 1977 in Kraft trat, öffneten sich nicht nur für die politschen Gefangenen des Franco-Regimes die Gefängnistüren, sondern auch Franquisten, die sich im Dienste der Diktatur der Folter, des Mordes und anderer Verbrechen schuldig gemacht hatten, wurde Straffreiheit zugesichert. Spanien passte sich in den Folgejahren der Entwicklung eines sich immer mehr demokratisierenden Europas an, um nicht in der wirtschaftlichen und politischen Isolation zu bleiben. Das Denken der Franquisten veränderte sich allerdings nicht. Ihr Gedankengut wurde an die Folgegenerationen weitergeben. Politisch entwickelte sich Spanien letztlich zu einer Fassadendemokratie, massiv beeinflusst von konservativen Kräften, die nach wie vor beseelt sind vom Geist Francos. Verbrechen, die während und nach dem spanischen Bürgerkrieg verübt wurden, blieben so bis heute ungesühnt.
Meines Erachtens sind aber nicht nur die Verbrecher und ihre Taten zu verurteilen, sondern auch die EU, die NATO und ihre Vertreter und die Regierungen „befreundeter Nationen“. Nur allzu schnell nahm man Spanien in die Europäische Staatengemeinschaft auf. Man erkannte offensichtlich einen neuen großen Absatzmarkt. Für die NATO hatte Spanien strategische Bedeutung. Dies reichte aus, um Spanien 1982 in das Atlantische Bündnis aufzunehmen und 1985 in die Europäische Gemeinschaft.
Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die während des Bürgerkrieges und der Diktatur verübt wurden, spielten offensichtlich keine Rolle. Es wurde den Spaniern überlassen, sich damit auseinanderzusetzen. Lediglich die UNO forderte Aufklärung. Sanktionen, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, wurden gegen Spanien, das nach Kambodscha die meisten Massengräber aufzuweisen hat, aber nie verhängt.
Um mit den Worten des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez zu schließen: Ein Staat oder eine Staatengemeinschaft kann nicht in die Zukunft blicken, wenn die Vergangenheit nicht bewältigt und man seinen Frieden mit ihr noch nicht gemacht hat.
Es reicht daher nicht aus, steinerne Symbole den Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen. Es ist erforderlich, sich eine Denkweise anzueignen, die von Humanität und Achtsamkeit gegenüber den Mitmenschen, der Natur und jeder Kreatur geprägt ist. Geschieht dies nicht, befindet man sich auf einer Schussfahrt in die dunkelste Vergangenheit.
Von Jairo Gomez und auf Graswurzel Post erstveröffentlicht.