Deutschlands politische Einöde erlebt mitten im Hochsommer einen kleinen medialen Vulkanausbruch. „Aufstehen“ nennt sich die neue Sammelbewegung von Sahra Wagenknecht, wie u.a. bei SPON, Tagesschau, Handelsblatt, Welt und in der Frankfurter Rundschau zu lesen ist. Es geht, so lässt es sich zusammenfassen, um eine inhaltliche Erneuerung der Politik.
Den Bürgerinnen und Bürgern müsse zugehört werden, steht auf der Webseite www.aufstehen.de und, dass Flaschen sammeln keine Lösung sein darf. In Videoclips berichten Menschen aus unterschiedlichen Milieus über ihre Sorgen und formulieren Wünsche und Forderungen an die Politik. Damit ist erst einmal alles gesagt, was im ersten Moment gesagt werden kann.
Denn bewegt hat sich die Bewegung noch nicht, sondern sie sammelt E-Mail-Adressen von Menschen ein, die dabei sein wollen. Bei was genau, bleibt unklar, so wie bei Online-Marketern, die auf einer Landingpage ein mega cooles neues Produkt promoten, sich bei der Beschreibung desselbigen aber möglichst bedeckt halten. Schließlich verpflichtet jedes genannte Detail den Verkäufer zur Lieferung.
Von einem offiziellen Start im September ist die Rede. Die Frage sei erlaubt, seit wann eine Bewegung einen offiziellen Startschuss benötigt, außer, sie wird von oben gelenkt, was mit einer Bewegung nichts zu tun hat. Wo versteckt sich also das emanzipatorische Element und wo ist der politische Ansatz zu finden, der die Missstände beseitigt, die die Gesellschaft quälen? Da wird das Eis dünn.
Wenn die ewig gleichen Kader den Takt vorgeben, ist der Weg jeder linken Bewegung vorgezeichnet: Mobilisierung mit viel Tamtam, Dominanz einer Führungsperson, flankiert durch Prominenz aus den linksintellektuellen Kreisen, inhaltliche Gleichmacherei, Sicherung der Macht wie zu Kaiserszeiten durch klassische Organisationsstrukturen, finales Postengeschacher und als besonderer Höhepunkt die Gründung einer Partei als unausgesprochenes „long-term goal“.
Damit sind eventuell die von den Altparteien enttäuschten und zum Widerstand noch fähigen Wählerinnen und Wähler aus der Mittelschicht, die sich politisch links oder ins sozialdemokratische Lager verorten, kurzzeitig zu begeistern, aber in Wahrheit werden sie kaltgestellt.
Durch den Seiteneingang, der sich Sammelbewegung nennt, werden sie wie eine Schafherde zurück in den vom Parteienfilz durchsetzen und vom Lobbyismus zerfressenen Parlamentarismus geführt. Da ist nichts Emanzipatorisches zu finde, da lauert bürgerliche Kleinkrämerei, die den Status quo erhalten will, aber einen gesellschaftlichen Gegenentwurf verweigert. Der kann logischerweise nur die Abschaffung des Kapitalismus beinhalten, der von einer Krise in die nächste taumelt.
Doch ein radikaler politischer Ansatz übersteigt die Vorstellungskraft der Bürgerlichen, die noch einigermaßen gut leben im System, auch wenn sie merken, dass es ihnen langsam aber sicher ans Leder geht.
Dass zeigte sich schon bei Yanis Varoufakis, der die pan-europäische Bewegung Democracy in Europe Movement 2025 (Diem25) initiierte und im Februar 2016 in Deutschland aus der Taufe hob. [1] Dabei hatte der Ex-Finanzminister von Griechenland nichts Spektakuläres im Gepäck. Den Kapitalismus will er stabilisieren, mehr nicht. Dafür wird der Weg durch die Instanzen eingeschlagen. Aus der Bewegung ist längst eine Partei geworden, die im Europaparlament Impulse setzen will, vorausgesetzt, sie kommt dort irgendwann an.
Für Diem25 hatte im Vorfeld sogar Oskar Lafontaine kräftig geworben. Als Varoufakis allerdings seinen „Job“ als Finanzminister verlor und in die Reihen der „Normalos“ zurückkehrte, sprang der frühere Parteichef der Partei Die Linke schnell wieder ab von der anfahrenden Bimmelbahn. Das nennt sich Machtinstinkt.
Auf der Seite der Gemeinen zu stehen, bedeutet Klinken zu putzen, kleine Brötchen zu backen und den Weg frei zu machen für unverbrauchte Gesichter und frische Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen, Gemeinwohlökonomie, Volksentscheide, regionale Selbstverwaltung oder Basisdemokratie. Kaum vorstellbar für „politische Oldtimer“ mit Führungsanspruch, die es gewohnt sind, unter dem Applaus der Parteimitglieder im Blitzlichtgewitter zu baden. Und jetzt kommt die Sammelbewegung #aufstehen …
„Wir sind bewusst überparteilich und laden alle zum Mitmachen ein, die sich mehr soziale Gerechtigkeit und eine friedliche Außenpolitik wünschen und die für die Erhaltung unserer Umwelt eintreten“, wird Lafontaine in der Welt zitiert. [2]
Überparteilich, aber bereits vor dem Start mit Parteieliten im Rucksack, die tagtäglich im Bundestag, in den Länderparlamenten und in den Gemeinde- und Stadträten die Chance haben, die Missstände anzuprangern, die Abschaffung der schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus zu fordern und dort, wo sie am Drücker sind, diese zu beseitigen?!
Da ist nichts Veränderndes zu finden, außer das bekannte Muster, das im Angesicht einer erstarkenden Partei der Unaussprechlichen hastig in Richtung Rot-Rot-Grün gestrickt wird. Es wird nach politischen Mehrheiten Ausschau gehalten, um eine neue Regierung „mit sozialer Agenda“ zu ermöglichen, sagte Wagenknecht gegenüber dem Spiegel. [3] Das ist okay, aber was ist das anderes, als die Verfolgung von Parteiinteressen und das Stochern nach Wählerstimmen?!
Dass ausgerechnet die SPD, die mit der Agenda 2010 die soziale Spaltung in Deutschland befeuert hat und als Regierungspartei konsequent Krieg gegen die Armen führt, in den Überlegungen von Sahra Wagenknecht eine Rolle spielt, ist keine besondere Abscheulichkeit. Es verdeutlicht lediglich die fehlende Nähe der bürgerlichen Linken zu den ökonomisch benachteiligten Schichten, denen die durch die neoliberale Strategie geprägte „Realpolitik“ keine Perspektiven aufzeigen will und eine an Parteipolitik angelehnte Sammelbewegung keine Perspektiven aufzeigen wird.
Für Millionen Menschen, die im Unterdeck der größten Volkswirtschaft der Europäischen Union ausharren, heißt es trotz #aufstehen wohl schlicht #liegenbleiben!
Ihre Chance ist eine Bewegung von unten, so wie es die Poor People’s Campaign (PPC) in den USA zeigte. [4] In Deutschland medial kaum beachtet, schaffte es die PPC 50 Jahre nach der Ermordung von Martin Luther King nicht nur die ausufernde Armut als das vorrangige Problem ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu tragen, sondern setzte neben der sozialen Frage, die politische und moralische Erneuerung der Vereinigten Staaten auf die Agenda.
Die sich vollziehende Annäherung und Kooperation mit den unteren Einkommensschichten und den ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern im Niedriglohnsektor, die lediglich ein paar Dollar von der Gosse entfernt sind, so wie eben auch der deutsche Facharbeiter nur noch wenige Hundert Euro Abstand zwischen sich, Hartz IV und dem sozialen Abstieg weiß, schaffte die nötige Verbindung zwischen den lediglich auf dem Papier unterschiedlichen Schichten.
Wie der Teufel das Weihwasser fürchtet das herrschende System diesen Schulterschluss, der den Armen zu sozialer Macht verhilft, die sich durch Protest, zivilen Ungehorsam und Streiks ins Politische überführen lässt. Das muss das Ziel einer Sammelbewegung sein – alles andere ist emanzipatorischer Fake.
[1] Reinhard Paulsen: Europa taumelt und die Welt gerät aus den Fugen: Was ist jetzt zu tun? Auf www.neue-debatte.com/2017/01/02/mein-lieber-yanis-ein-essay-ueber-linke-strategie/ (abgerufen am 06.08.2018).
[2] Welt.de: Lafontaine wirbt für linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Auf www.welt.de/politik/deutschland/article180566696/Sammlungsbewegung-Aufstehen-Lafontaine-ruft-zu-Teilnahme-auf.html (abgerufen am 06.08.2018).
[3] SPON: „Aufstehen“ – linke Sammlungsbewegung formiert sich. Auf www.spiegel.de/politik/deutschland/sahra-wagenknecht-linke-sammlungsbewegung-aufstehen-formiert-sich-a-1221510.html (abgerufen am 06.08.2018).
[4] Link zur Homepage der The Poor People’s Campaign: A National Call for Moral Revival.