Noch ist nicht klar, für was die neue Sammlungsbewegung #aufstehen genau steht. Makroskop macht schon mal einen Vorschlag, für was wirtschaftspolitisch ein Aufstehen sinnvoll wäre.
Anfang September geht #aufstehen an den Start, die linke Sammlungsbewegung, die maßgeblich von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine geprägt wird. Bisher gibt es kein Programm und die programmatischen Äußerungen auf der homepage sind äußerst vage. Die Wirtschaft müsse auf den Menschen ausgerichtet sein und nicht auf maximalen Profit, heißt es da oder Flaschen sammeln dürfe keine Lösung sein. Man lässt eine kleine Gruppe von Bürgern zu Wort kommen, die in einem Einspielvideo sagen, was sie jeweils für wichtig halten.
Es wird interessant zu sehen sein, ob die Bewegung sich traut, wirtschaftspolitisch heiße Themen anzusprechen und so zu besetzen, dass eine wirkliche Alternative zu den Alt-Parteien entstehen kann. Als Hilfe für diejenigen, die hinter den Kulissen an einem solchen Papier sitzen, hat sich die Redaktion vom Makroskop schon einmal Gedanken gemacht und einen Entwurf produziert.
Die desolate Lage in Deutschland und Europa
Deutschland befindet sich in einer wirtschaftlichen Scheinblüte, während im Rest Europas Resignation und Zorn wegen eines verlorenen Jahrzehnts herrschen. Seit dem Ausbruch der Euro-Krise im Zuge der globalen Finanzkrise vor zehn Jahren blockiert Deutschland trotz seiner unbestreitbaren Schuld an der europäischen Misere eine progressive Wirtschafts- und Finanzpolitik für die Eurozone. Im Gegenteil, die von Deutschland maßgeblich geprägte Sanierungspolitik in einigen südlichen Ländern in Form von Austeritätspolitik und Lohnkürzungen hat die Krise verlängert und verschärft.
Die deutsche Scheinblüte ist entscheidend geprägt von den deutschen Überschüssen im Außenhandel. Ohne diese Überschüsse gäbe es weder die schwarze Null noch die im Vergleich zu den europäischen Partnern gute Lage am Arbeitsmarkt. Die Überschüsse erlauben es Deutschland, die notwendigerweise mit dem Sparen einiger Sektoren verbundene Schuldenaufnahme anderer Sektoren vollständig auf das Ausland abzuschieben.
Anzuerkennen, dass diese merkantilistische Vorgehensweise nicht nur für die europäischen Partner untragbar ist, sondern auch weltweit bei den Handelspartnern an Grenzen stößt und zu Recht deren Gegenreaktionen provoziert, ist absolut zentral für jede neue politische Initiative.
Damit unmittelbar verbunden ist das Verständnis für die vollkommen veränderte Position der Unternehmen in der heutigen Marktwirtschaft. Während zu Zeiten des Wirtschaftswunders der Unternehmenssektor wie selbstverständlich die Rolle des Schuldners übernahm, zeichnen sich die Unternehmen in den letzten zehn Jahren dadurch aus, dass sie das Sparproblem, mit dem jede Volkswirtschaft zu kämpfen hat, durch eigene Netto-Ersparnisse vergrößern. Daraus folgt zwingend, dass nur der Staat als Schuldner einspringen kann, wenn die merkantilistische Lösung ausscheidet und die Politik sich nicht traut, den Unternehmenssektor in seine alte Rolle zurückzudrängen.
Die Ignoranz gegenüber diesem Problem in der Öffentlichkeit und bei den akademischen Vertretern des neoliberalen Mainstream muss durchbrochen werden. Nur eine offensive Kommunikation mit dem Wähler kann dafür sorgen, die herkömmlichen Vorurteile der „Schwäbischen Hausfrau“ über „Generationengerechtigkeit“ und „Schuldentragfähigkeit des Staates“ abzubauen. Man muss beginnen zu begreifen, dass den alten Kontroversen um Ordoliberalismus und Keynesianismus mit dem neuartigen Verhalten der Unternehmen vollständig der Boden unter den Füßen weggezogen worden ist.
Wer Europa erhalten und weiterentwickeln will, muss radikal umdenken. Nur ein geistig erneuertes Deutschland kann die positiven Impulse geben, die gegen den Rückschritt der letzten zehn Jahre und den inzwischen aufgestauten Hass ein klares Zeichen setzen. Die politische Lage in Italien, die unmittelbar dem Versagen der europäischen Institutionen in der Euro-Krise zuzurechnen ist, wird schon in wenigen Wochen solche neuen Impulse verlangen.
Keine politische Lösung mit den herkömmlichen Parteien
Die politischen Parteien in Deutschland sind nicht mehr in der Lage, einen ernsthaften Beitrag zur Überwindung der europäischen und globalen Krise zu leisten. CDU/CSU und FDP haben sich – nicht anders als die AfD – als Oberlehrer Europas profiliert, ohne auch nur im Ansatz zu begreifen, was wirklich passiert ist. Ja, sie wollen es nicht einmal begreifen, weil nur ihr Unwissen die unerträgliche Überheblichkeit speisen kann, die sie inzwischen für eine deutsche Tugend halten.
SPD und Grüne verdrängen ihre Schuld an der Krise und wollen nicht wahrhaben, dass durch die „deutschen Reformen“ vom Beginn des Jahrhunderts die europäische Krise ausgelöst worden ist. Große Teile der beiden Parteien haben sich durch die Übernahme des ökonomischen Mainstream als ernsthafte Diskussionspartner verabschiedet.
Die Linke greift immer wieder einmal die richtigen Themen und Standpunkte auf, doch die Partei ist innerlich zerrissen. Sie kann die Menschen nicht wirklich überzeugen, weil sie immer noch zu sehr mit der Systemüberwindung gleichgesetzt wird, die von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung schlicht nicht gewollt ist.
Nur eine neue progressive Bewegung, die parteiübergreifend arbeitet und ein überzeugendes Reformprogramm für die Marktwirtschaft vorlegt, hat die Chance, den Stillstand der Großen Koalition als Dauerzustand für Deutschland zu verhindern.
Eine neue wirtschaftspolitische Programmatik
Auf der Ebene praktischer deutscher und europäischer Politik geht es vor allem um folgende Themenbereiche:
- Lösung der Eurokrise durch eine vollkommen neue deutsche Wirtschaftspolitik. Politische Unterstützung für Lohnsteigerungen in Deutschland, die den europäischen Partnern schon in Kürze die Luft zum Atmen lassen. Eine kreditfinanzierte Investitionsoffensive der öffentlichen Hand in den Bereichen Infrastruktur, ökologische Vorsorge und Bildung.
- Abschaffung bzw. Korrektur des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Abkehr von der „schwarzen Null“ in Deutschland und der Austeritätspolitik in Europa. Anerkenntnis der Tatsache, dass die Unternehmen ihrer Aufgabe als Schuldner nicht mehr nachkommen und eine Lösung des Sparproblems über Leistungsbilanzüberschüsse für alle Länder nicht möglich ist.
- Aktives Eintreten für die systematische und volle Beteiligung aller Beschäftigten am Produktivitätszuwachs durch eine am Inflationsziel und den nationalen Produktivitätszuwächsen orientierte Lohnpolitik in der gesamten EWU. Unterstützung für den Flächentarifvertrag durch generelle Allgemeinverbindlichkeitserklärungen; massive Einschränkung der Leiharbeit; vollständige Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen; vollumfängliche Durchsetzung des Ziellandprinzips in der EU-Entsenderichtlinie.
- Sofortige Beseitigung der Hartz-Regelungen, Einführung eines vom Bedarf abhängigen Grundeinkommens von 1000 Euro; sofortige Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro.
- Ein EU-Programm für öffentliche Investitionen mit dem Ziel, die Deindustrialisierung in den Partnerländern aufzuhalten und die öffentliche Infrastruktur europaweit zu modernisieren und ökologisch zu optimieren.
- Reform des Bankensektors und der Europäischen Bankenunion. Überwachung der Banken durch eine kompetente Bankenaufsicht; Trennung des Zahlungsverkehrs und Kreditgeschäfts vom spekulativen Investmentbanking plus einer unbegrenzten Garantie des Staates für die Bestände aller Girokonten.
- Einstieg in einen glaubhaften ökologischen Umbau im Rahmen der globalen Vorgaben. Internationales Eintreten für eine systematische Entkopplung der wirtschaftlichen Entwicklung vom Verbrauch fossiler Energieträger auf lange Sicht. Strikte Vorgaben für einen ökologischen Umbau der deutschen und europäischen Landwirtschaft.
- Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme: Bürgerversicherung im Gesundheitswesen; Stärkung der gesetzlichen Rente, Einführung einer bedarfsorientierten Mindestrente, Abschaffung der Riester-Rente und Übernahme der eingezahlten Beträge und der Rentenansprüche in die gesetzliche Rentenversicherung.
- Durchsetzung eines gemeinsamen und einheitlichen Systems der Unternehmensbesteuerung in der gesamten EU; Besteuerung von Spekulationsgewinnen; Abschaffung der Abgeltungssteuer; Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Körperschaftssteuer, Einführung einer Vermögenssteuer.
Unsere Leser können auf der Basis dieses Papiers Anfang September leicht selbst entscheiden, ob die wirtschaftspolitische Programmatik der neuen Bewegung sie von den Sitzen reißt.