Wenn man so will, hat Stanley Kubrick drei Anti-Kriegs-Filme gedreht – natürlich „Full Metal Jacket“ (1987), sicherlich „Wege zum Ruhm“ (1958), und „Dr. Seltsam“, in dem Peter Sellers gleich drei Rollen spielte.
„Dr. Seltsam“ ist eine für seine Zeit, aber auch noch heute bissige, ja bitterböse Satire auf die Ideologie der atomaren Abschreckung, die die gesamte Nachkriegszeit bis hinein in die 70er Jahre beherrschte, nicht zuletzt aber auch deswegen aktuell, weil der Film die „Hardliner“-Strategen in Washington gründlich und vernichtend dorthin stellt, wo sie hingehören: in die Ecke der Brandstifter. Selten hat sich ein Film derart treffsicher mit der Strategie des atomaren Gleichgewichts auseinander gesetzt. Und sicher hat auch dieser Film wenigstens ein bisschen zur Ablösung der Gleichgewichts-Ideologie durch die Ende der 60er Jahre begonnene Politik der vertrauensbildenden Massnahmen, Abrüstung und Rüstungskontrolle beigetragen, die nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staatenwelt durch die gefährliche US-geführte „Weltsicherheitspolitik“ der Stärke vernichtet wurde.
General Ripper (Sterling Hayden) scheint verrückt geworden zu sein. Oder doch nicht? Ripper trinkt nur noch destilliertes Wasser und meint, die Russen würden kein Wasser, nur Wodka saufen. Warum? Sie hätten das Wasser vergiftet – Teil einer kommunistischen Weltverschwörung. Die Bedrohung wird in Rippers Vorstellungswelt immer klarer, und so ordnet er eines Tages den „Code Red“ an (was eigentlich nur der Präsident darf, falls ein unmittelbarer Angriff auf die USA bevorsteht) und schickt atomar bestückte B-52-Bomber Richtung Sowjetunion. Der auf dem Stützpunkt anwesende britische Captain Mandrake (Peter Sellers – zum Ersten) ist entsetzt.
Als er in Rippers Büro darauf hinweist, dass nichts für einen Angriff von sowjetischer Seite spreche – er zückt ein Radio, in dem Schlagermusik spielt und keine Katastrophennachrichten verkündet werden – und von Ripper verlangt, ihm den Code zu nennen, mit dem allein die Bomber zurückgeholt werden können, stösst er auf taube Ohren und verschlossene Türen. Ripper ist gewillt, die atomare Vernichtung der „roten Horden“ durchzuziehen, Mandrake ist hilf- und machtlos.
General Turgidson (George C. Scott) hat es gar nicht gern, wenn man ihn bei seinen Schäferstündchen stört. Das Pentagon lädt zur Krisensitzung, nachdem Präsident Muffley (Peter Sellers – zum Zweiten) von der Auslösung des atomaren „Gegenschlages“ informiert wurde. Turgidson hält einen militärisch-nüchternen Vortrag über die Umstände, die nun eingetreten sind, und weist immer wieder darauf hin, dass er sich über das Verhalten Rippers nicht äussern wolle, bevor er nicht genau wisse, warum der den „Code Red“ ausgelöst hat. Der Vernichtung der Sowjetunion stünden leidliche 25 Millionen Tote in den Vereinigten Staaten gegenüber, falls die Russen zurückschlagen würden, meint Turgidson, als ob er aus der Bilanz eines Unternehmens zitiere.
Muffley hingegen zitiert – unter Protest Turgidsons – den russischen Botschafter de Sadesky (Peter Bull) in das geheime Kommandozentrum des Pentagon, um ihn und dann auch den sowjetischen Premier Kissof zu unterrichten. Letzterer ist am roten Telefon kaum ansprechbar. Auch er hat sein Schäferstündchen und scheint besoffen. De Sadesky erfährt, dass das Pentagon keinen Kontakt zu Ripper hat, der sich und Mandrake eingebunkert hat, und man daher auch mangels Kenntnis des Rückzugs-Codes die Bomber nicht erreichen könne. De Sadesky seinerseits verkündet, dass in diesem Fall die neue sowjetische „Weltvernichtungsmaschine“ in Gang gesetzt werde, und wenn das geschehe, gebe es ebenfalls keine Möglichkeit, den Prozess der atomaren Vernichtung zu stoppen.
Muffley ordnet an, den Stützpunkt Rippers zu erobern, was den Truppen schliesslich auch gelingt, allein Ripper zog es angesichts dessen vor, sich im Bad zu erschiessen und den Code mit in die Ewigkeit zu nehmen. Muffley informiert die Russen über alle Geheimnisse der Bomber, Mandrake kommt – es geschehen noch Wunder – hinter den Code, etliche Bomber werden von den Sowjets abgeschossen. Aber einer kann unter dem Radar weiter seinem Ziel entgegen steuern. Denn in Major „King“ Kongs (Slim Pickens) Bomber wurde durch einen Raketenangriff der Funk lahmgelegt.
Nicht verzagen: Man hat ja schliesslich noch den Wissenschaftler Dr. Strangelove (Peter Sellers zum Dritten), den ehemals besten Mann aus Hitlers Expertengremium, den die USA nach 1945 „erbten“. Nicht nur dessen rechter, steifer Arm trauert dem Führer noch nach. Die Elite der Vereinigten Staaten, Männer und zehn Mal so viele Frauen sollen sich in die atomar angeblich sicheren Bergwerke begeben, um ein unterirdisches Dasein zu fristen (immerhin: pro Mann zehn Frauen!), um nach Ablauf der atomaren Halbwertszeit „das Reich“ (welches auch immer) wiederersten zu lassen … We’ll meet again – wherever, whenever.
Kubricks Schauplätze sind ein Bomber – unter Leitung des texanischen und texanisch sich aufführenden Major „King“ Kong, der mit patriotischen Sprüchen nicht sparsam umgeht und den Cowboy-Hut nie absetzt –, die Umgebung des Luftwaffenstützpunkts, das Pentagon und das Büro Rippers – ein von der Inszenierung her gesehen sparsamer Umgang mit räumlichen „Ressourcen“ angesichts der drohenden atomaren Vernichtung, aber eben ausreichend, um das Szenario in einer zugleich erschreckenden wie komödiantischen Weise zu entfalten. Auf diesen Schauplätzen lässt Kubrick seine Figuren tanzen, Figuren, die sich bemühen, dem Ernst der Lage gerecht zu werden und darin gnadenlos scheitern. Als da sind:
Der völlig verrückte, aber eben die militärische und politische Logik des „Kalten Krieges“ letztlich nur zu Ende denkende und von einem diffusen kommunistischen Feindbild beherrschte, ja übermannte General Ripper, der das Gespenst von vergiftetem Wasser (die Sowjets hätten das Wasser mit Fluorid angereichert) an die Wand malt und sozusagen zum therapeutischen Ausgleich ständig mit einer übergross, ja phallisch wirkenden Zigarre im Mund herumläuft.
Zwischen Ripper und dem atomaren Desaster steht anfangs nur der Brite Mandrake, der sein Entsetzen, seine Angst, seine Panik angesichts der Situation kaum verbergen kann, das aber genau muss, weil er ansonsten Ripper, der seine Pistole demonstrativ auf dem Schreibtisch liegen hat, zu fürchten hätte. Mandrake reisst sich zusammen und wartet auf eine günstige Gelegenheit.
Dann ist da ein Präsident, der es im Grunde nicht fassen kann, was um ihn herum und in Richtung Feindstaat passiert, der versucht ruhig zu bleiben, auch als er den zu allem Überfluss angetrunkenen sowjetischen Präsidenten am Telefon beruhigen und zu „geeigneten Massnahmen“ überreden muss, um das Schlimmste abzuwenden.
Hinzu gesellt sich ein General, Turgidson, der wahrscheinlich auch in einer Situation, in der ihm eine Bombe vor die Füsse geworfen würde, noch in strenger militärischer Logik seine Vorträge halten und seine Überlegungen preisgeben würde.
Im letzten US-Bomber schliesslich „King“ Kong aus Texas, der – als der automatische Auslöser für die Bombe nicht funktionieren will – texanisch-praktisch die Sache selbst in die Hand nimmt und sich auf die Bombe setzt, als wenn er einen Gaul im Rodeo besteigen würde. Slim Pickens spielt diese Rolle hervorragend, auch wenn statt ihm auch – zum Vierten – Peter Sellers vorgesehen war, der sich jedoch ein Bein gebrochen hatte und im übrigen (als Engländer) den texanischen Akzent nicht beherrschte.
Dialoge und Verhalten der Beteiligten demonstrieren auf eindrückliche Weise das gefährliche Spiel der Strategie der atomaren Abschreckung. Nicht nur dies. Nomen est Omen: Ripper: gleich Jack the Ripper; Mandrake: Alraunwurzel, der nachgesagt wird, die Potenz zu steigern; „Buck Turgidson“: „buck“ bedeutet Zuchthengst, „turgid“ angeschwollen; Merkin Muffley: „merkin“ bedeutet im Slang weibliche Schamzone, „muff“ Schamhaare (der Präsident möchte nicht als Massenmörder in die Geschichte eingehen – obwohl es nach einem atomaren Gegenschlag wohl keine Geschichte mehr geben wird); Kissof: „kiss-off“ bedeutet etwa Anfang eines Desasters; de Sadeski: der Marquis de Sade; King Kong muss niemand erklärt werden und last but not least „strange love“: perverse Liebe.
Apropos: Während der Sitzung im Pentagon ruft Turgidsons Geliebte an. Der plappert am Telefon:
„Gut, schau Kleines, ich kann nicht, kann mit Dir jetzt nicht sprechen, aber…, mein Präsident braucht mich jetzt. Selbstverständlich würde Bucky eher wieder bei Dir sein (Pause) – selbstverständlich, es ist nicht nur körperlich. Ich respektiere Dich zutiefst als menschliches Wesen. Eines Tages mache ich Dich zu Mrs. Buck Turgidson. (Pause), – hör zu, geh’ wieder schlafen. Bucky ist zurück, sobald er kann. In Ordnung? Hör zu, Süsse, vergiss nicht Deine Gebete.“
Ebenso bissig und aufschlussreich ist Dr. Seltsams Rede über ein Leben nach dem Tod, sprich: nach dem atomaren Endsieg-Kahlschlag (die Analogie zu den deutschen Wissenschaftlern, die nach dem zweiten Weltkrieg begierig durch die USA aufgenommen wurden, oder auch zu dem deutschstämmigen Henry Kissinger sind offensichtlich):
„Strangelove: Ich würde die Wahrscheinlichkeit nicht völlig ausser Betracht lassen, einen Kern der menschlichen Spezies zu erhalten. Es würde ziemlich einfach … eh, eh … [er fährt seinen Rollstuhl ins Licht; in seiner schwarzen Brille spiegelt sich das Neonlicht] sein, ganz unten in eh … einigen unserer tieferen Bergwerke. Radioaktivität würde nie in eine Grube einige Tausend Fuss tief eindringen, und in wenigen Wochen könnten genügend Verbesserungen dort leicht durchgeführt werden. Präsident: Wie lang würden man dort unten bleiben müssen?
Strangelove: …Ich würde …uh, vielleicht uh… [er hat mit seinem steifen Arm zu kämpfen, der sich immer wieder zum Hitlergruss nach oben bewegt] hundert Jahre denke ich …, das wäre nicht schwierig, mein Führer!!!! [Strangelove reisst sich zusammen] Kernreaktoren könnten, eh …, [wieder der Arm] Pardon, Herr Präsident. Kernreaktoren könnten Energie fast unbegrenzt zur Verfügung stellen. In Gewächshäusern könnten Pflanzen angebaut werden. Tiere könnten gezüchtet und geschlachtet werden. Eine schnelle Aufstellung aller vorhandenen Bergwerke im Land müsste her, aber ich würde schätzen, dass für mehrere Hunderttausende unserer Leute dort Platz wäre. Präsident: Gut, ich, … ich würde es hassen, entscheiden zu müssen …, wer oben bleibt und …, wer runter geht.
Strangelove: Das wäre gar nicht erforderlich, Herr Präsident. Das könnte mit einem Computer erledigt werden. Und ein Computer könnte so eingerichtet und programmiert werden, dass Faktoren wie Jugend, Gesundheit, sexuelle Fruchtbarkeit, Intelligenz und Querschnitt der notwendigen Fähigkeiten darüber entscheiden. Selbstverständlich würde es absolut lebenswichtig sein, dass unsere Regierung und die hohen Militärs dabei sind, um die erforderlichen Grundregeln der Führung und der Tradition zu garantieren und zu vermitteln.“
Und so spannt Kubrick den Bogen eben auch vom Sieg über den Nationalsozialismus hin zur Strategie der atomaren Abschreckung und wieder – natürlich auf höherem (atomaren) Niveau – zurück zu Menschenzüchtung, Diktatur und Volksgemeinschaft.
Allerdings: Kubrick lässt dies wenigstens im Film nicht zu. In einer ihm eigenen Art endet der Film in einer fast schon virtuosen Groteske des Tanzes der atomaren Pilze: We’ll meet again. Und statt eines sich erübrigenden Fazits hier der Schlusssong von Vera Lynn „We’ll Meet Again Some Sunny Day“:
We’ll meet again, don’t know where, don’t know when
But I know we’ll meet again, some sunny day
Keep smiling through, just like you always do
Till the blue skies drive the dark clouds far away
So will you please say hello to the folks that I know
Tell them I won’t be long
They’ll be happy to know, that as you saw me go
I was singing this song …
von Ulrich Behrens für untergrundBlättle