Das 24. Forum von Sao Paulo in der kubanischen Hauptstadt Havanna schloss mit kritischen und selbstkritischen Debatten über Neoliberalismus und soziale Bewegungen ab. Thema war auch die militärische Bedrohung der USA auf dem amerikanischen Kontinent.
600 Delegierte von linken Regierungen, Parteien und sozialen Bewegungen aus Lateinamerika, Afrika, Asien und Europa trafen sich in Havanna zum 24. Forum von Sao Paulo. Drei Tage lang, vom 15. bis 17. Juli, diskutierten die Teilnehmer über die internationale Lage und Strategien, um den Neoliberalismus zurückzudrängen.
Als Ergebnis verwarf das Forum die von rechten Ideologen verbreitete Behauptung, die Epoche der progressiven, sozial verpflichteten Regierungen sei zuende. Im Gegenteil, in Lateinamerika zeichne sich am Horizont bereits eine neue Entwicklung ab. Beispiel hierfür sei u.a. der überwältigende Wahlsieg des neuen mexikanischen Präsidenten López Obrador.
Die neoliberalen Regierungen haben keine positiven Lösungen anzubieten, ihr politischer Vertrauensvorschuss unter den Wählern nähert sich rapide dem Ende“, lautete die Diagnose in Havanna.
Beispiel hierfür seien die geschwächte Regierung von Präsident Mauricio Macri in Argentinien und die Situation des de-facto-Präsidenten Michel Temer in Brasilien, der noch ganze drei Prozent Rückhalt in der Bevölkerung hat.
Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel erklärte zusammenfassend, dass „die Linke zur Zeit vor der Herausforderung steht, ihre bisher erreichten Fortschritte zu retten“.
Andererseits warnten Teilnehmer davor, dass vor allem die USA ihre Interessen mit militärischer Gewalt durchsetzen wollen. Sie würden trotz oder gerade wegen der wirtschaftlichen und politischen Schwäche des neoliberalen Auslaufmodells Zuflucht in Kriegen suchen.
Mehrere lateinamerikanische Präsidenten kamen nach Havanna. So Evo Morales aus Bolivien, Nicolás Maduro aus Venezuela und aus Salvador Sánchez Cerén. Auch Manuel Zelaya aus Honduras und Dilma Rousseff nahmen in Havanna teil, die beide durch einen Putsch ihre Präsidentschaft verloren. Der populäre Freiheitskämpfer aus Puerto Rico, Oscar López Rivera, zählte ebenso zu den Teilnehmern wie zahlreiche Künstler, Schriftsteller und Gewerkschafter aus ganz Lateinamerika. Der Präsident Kubas, Miguel Díaz-Canel eröffnete das Forum.
Die Solidarität mit dem inhaftierten Ex-Präsidenten Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva, stand gleich zu Beginn im Zentrum der Debatten. Das Forum forderte in einem Aufruf seine sofortige Freilassung.
Ohne Lula sind die Wahlen in Brasilien ein Betrug. Er hat das Recht, sich daran zu beteiligen und die grössten Chancen, sie zu gewinnen“,
erklärte Gleisi Hoffmann, Präsidentin der brasilianischen Arbeiterpartei PT.
Große Sorge und Solidarität galt auch dem Whistleblower Julian Assange. Vieles deute darauf hin, dass der neue Präsident Ecuadors, Lenín Moreno, das Asyl von Assange in der Londoner Botschaft beenden will. Mit dem Appell,
die Menschenrechte von Julian Assange zu garantieren“ wandte sich das Forum an Präsident Lenín Moreno.
Eine Auslieferung von Assange in die USA kann für ihn die Todesstrafe bedeuten.
Ricardo Patiño, Ex-Außenminister Ecuadors, sprach über die juristische Verfolgung linker politischer Führungspersönlichkeiten Lateinamerikas wie Lula in Brasilien, Cristina Fernández in Argentinien und Ex-Präsident Rafael Correa in Ecuador.
In mehreren Diskussionsgruppen kamen selbstkritische Analysen zum Ausdruck. Einige der genannten Themen könnten auch für die europäische Linke relevant sein.
Der Soziologe und Gewerkschafter Jorge Coronado aus Costa Rica betonte, es sei notwendig, das Konzept der Demokratie aus einer linken Perspektive heraus wieder neu aufzubauen.
Demokratie, das heißt nicht nur Wahlen und der Zugang zum Parlament. Heute zeigt sich immer deutlicher, dass es ein linkes Verständnis von Demokratie, das über die etablierten Strukturen hinausweist, nicht gibt“.
Coronado kritisierte, dass sich die Linke zu sehr auf den „Überbau der politischen Repräsentation“ konzentriert hat. Doch sie könne den neoliberalen Ansturm nur brechen, wenn sie ihre Politik wieder von unten, zusammen mit den Menschen an der Basis entwickelte.
Die bürgerlichen Institutionen und ihre Denkschablonen haben eine bedeutende Strömung der Linken verschluckt. Sie folgt heute der Logik dieser eingeschränkten Handlungsspielräume, die der kapitalistisch geprägte Staat für die Demokratie übrig lässt“.
Damit verweist er auf die verschiedenen Modelle einer „Demokratie der Mitbestimmung“, wie sie in den ersten Jahren der neuen linken Regierungen in Lateinamerika praktiziert wurden. Diese „democracia participativa“ wurde jedoch im Laufe der Jahre von der Linken selbst wieder eingeschränkt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass. Die zurückgenommenen Entscheidungskompetenzen führten in der Folge zum Desinteresse in der Bevölkerung.
Gegenwärtig gibt es in Lateinamerika zehn regionale Plattformen für Diskussionen zwischen den Parteien der Linken und den verschiedenen Bewegungen, von Gewerkschaften, von Frauen, von jungen Menschen mit neuen Themen. Der Dialog soll herausfinden, wie sich Parteien und Basisbewegungen gegenseitig ergänzen und stärken können, um eine Gegenoffensive gegen den neoliberalen Raubkapitalismus zu entwickeln.
Es gab auch Kritik an Wirtschaftsmodellen, die die Umwelt durch den rücksichtslosen Raubbau an Bodenschätzen und eine industrialisierte Landwirtschaft zerstören. In manchen Ländern hätten die linken Regierungen die Notwendigkeit eines alternativen Umbaus der Wirtschaft zwar problematisiert, jedoch nur in begrenztem Masse verwirklicht. Überwiegend habe man solche Modelle geduldet oder sogar gestärkt, und Umweltbewegungen wurde zu wenig Gehör geschenkt.
Mehrere Delegierte schlossen sich auf dem Forum der Forderung an, die Linke müsse sich den neuen Realitäten stellen, die unterschiedliche Empfindlichkeiten und Vorstellungen, vor allem in der Jugend, zum Ausdruck bringen. Die Protestbewegungen der jungen Menschen, auch die LGTB-Bewegungen, die Frauenbewegungen und neue Sichtweisen auf die Geschlechteridentität müssten stärker beachtet werden.
Gustavo Borges von der venezolanischen Gruppe „Mission Wahrheit“ zeigte sich besorgt, weil viele linke Intellektuelle in anderen Kontinenten von der westlichen Propaganda stark beeinflusst seien. Sie würden die Realität der fortschrittlichen Regierungen in Lateinamerika nicht kennen. Sein Land sei mit einem unkonventionellen Krieg konfrontiert, der Parallelen zum sogenannten arabischen Frühling und zu Bürgerkriegen im Nahen Ostens aufweise. Venezuela gehöre zu den wenigen Ländern der Erde, die es bis heute geschafft haben, dagegen Widerstand zu leisten. Ohne die massenhafte Unterstützung durch eine Volksbewegung sei das nicht möglich gewesen.
Er kritisierte, dass versucht wird, die durch die linken Regierungen erreichten Veränderungen in einem negativen Licht darzustellen und sie als „frustrierte Erfahrungen“ zu verunglimpfen.
Wir müssen unsere Erfolge verteidigen, auch aus den Erfahrungen lernen und kritisch sein. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir in dieser Etappe weit vorangekommen sind, wie nur in ganz wenigen Episoden unserer Geschichte“.
Das Forum von Sao Paulo wurde nach dem Fall der Berliner Mauer auf Initiative von Fidel Castro, Hugo Chavez und Lula 1990 gegründet und findet jährlich in einem anderen Land Lateinamerikas statt.