Interview mit Tomás Hirsch, humanistischer Abgeordneter in Chile, das während des Europäischen Humanistischen Forums 2018 in Madrid geführt wurde.
Hirsch spricht über Konvergenz und politische Allianzen, über die Krise der Linken in Europa, die Rolle von Abgeordneten und die Beziehungen zu sozialen Bewegungen.
Untenstehend die deutsche Übersetzung des Interviews (Video in Originalsprache Spanisch; auf Youtube mit englischen Untertiteln verfügbar)
Wir sind hier mit Tomás Hirsch, chilenischer humanistischer Abgeordneter, und wir haben zunächst eine Frage bezüglich dessen, was gerade in Europa passiert: leider müssen wir feststellen, dass wir in Europa viel an Kraft verlieren, das, was einmal die Sozialdemokratie als politische Kraft war, ist am Verschwinden und gleichzeitig erstarken andere Kräfte, weil sich ein Vakuum gebildet hat. Kannst Du diese Situation kommentieren, was denkst Du darüber?
Die Sozialdemokratie verschwindet nicht nur in Europa, sie verschwindet auch in Lateinamerika, und zwar aus einem einfachen Grund: bei der Wahl zwischen dem Original und einer schlechter Kopie haben sich die Leute für das Original entschieden. Die Sozialdemokratie ist zum Türöffner für die Rechte verkommen (in Chile sagen wir, sie hat ihr den Weg geebnet), indem sie das neoliberale Modell weiterführt und es sogar noch vertieft, mit einigen kleinen Veränderungen, es „humaner“ zu gestalten. Angesichts dessen haben die Menschen dann letztendlich lieber die Rechte gewählt, die in diesem Sinne zumindest authentisch geblieben ist. Andere wiederum haben die Sozialdemokratie aufgegeben, weil sie eben gerade eine echte Alternative zum neoliberalen Modell suchen, einen grundlegenden strukturellen Wandel. Wir sind heute an einem Punkt, an dem es nichts mehr nützt, das Modell „verbessern“ zu wollen, es „humanisieren“ oder „verändern“ zu wollen: entweder man ist für dieses neoliberale individualistisch geprägte Modell oder man ist für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Gesellschaft, der allen Menschen Rechte garantiert. Die Sozialdemokratie steht weder für das eine noch das andere. Wir, zumindest die Humanisten, zusammen mit anderen Organisationen, streben eine Revolution im positiven Sinne an: die sozialen Strukturen so zu verändern, dass die Bürger echte Rechte haben und in Würde leben können.
Auf welchen Prinzipien muss eine politische Kraft basieren, die an einem gewissen Punkt erkennt, dass sie alleine nicht im Stande ist, eine grundlegende Veränderung herbeizuführen, und dass sie daher mit anderen zusammen arbeiten muss?
Wenn man mit anderen zusammenarbeitet, dann akzeptiert man ihre Verschiedenheit und auch die Notwendigkeit, gemeinsame Nenner zu finden. In Chile arbeiten wir mit Organisationen zusammen, die aus ganz unterschiedlichen Bereichen kommen: aus dem Marxismus, dem Feminismus, der Umweltbewegung, dem Liberalismus und natürlich dem Humanismus. Wir sind uns darüber einig, dass wir ein gerechteres Land bauen wollen, ein demokratischeres Land, mit mehr Rechten für alle, mit weniger Gewalt, wo sich die Macht nicht konzentriert und wo es möglich ist, eine echte demokratische Verfassung zu schaffen. In diesen Punkten besteht zwischen allen Beteiligten Konvergenz und Einvernehmen und trotzdem behalten wir unsere Vielfalt in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft.
Wir kann die Aktivität von Politikern im Bezug auf politische Verantwortung besser mit ihrer sozialen Basis verbunden werden?
Ich glaube, dass es tatsächlich sehr einfach ist, sich als Politiker von der sozialen Basis zu lösen, vom eigenen Hintergrund. Das, was ich in den letzten Monaten seit unserem Einzug ins Parlament erlebt habe, ist wie ein Mikrokosmos, wie eine Kapsel: man verliert leicht die Verbindung zur Außenwelt, man ist isoliert, man könnte dort auch sein ganzes Leben verbringen. Deshalb halte ich es für so wichtig, die Füße fest am Boden zu behalten und zu verstehen, dass unsere Arbeit auf den Straßen ist, um dort die Strukturen zu stärken, wo die Menschen leben, und die Bindung und die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen aufrecht zu erhalten. Es geht nicht darum, soziale Bewegungen zu ersetzen, sondern sich in ihren Dienst zu stellen. Das ist ein anderer Blickwinkel, eine anderes Konzept: Wie kann ich durch meine parlamentarische Arbeit soziale Bewegungen unterstützen? Wie kann ich Gesetzesentwürfen, die von sozialen Bewegungen stammen, Impulse geben? Wie kann ich helfen, ihre Organisation zu stärken? Wie kann ich mit ihnen kooperieren, um Türen angesichts der Staatsmacht zu öffnen? Das ist unsere Arbeit. Um ganz ehrlich zu sein, glaube ich, dass parlamentarische Arbeit keinen anderen Sinn hat, wenn nicht den, an der Basis mit genau diesen Bewegungen zusammen zu arbeiten.
Du bist in erster Linie Humanist, seit kurzem auch humanistischer Abgeordneter (im Koalitionsbündnis Frente Amplio, zu dtsch. „Breite Front“; Anm.d.Ü.). Scheint es Dir aus dieser Sicht heraus möglich, einen grundlegenden sozialen Wandel zu schaffen, als Abgeordneter?
Ich glaube, dass es zwar nicht möglich ist, einen Wandel als Abgeordneter zu kreieren, wohl aber, dazu beizutragen, zu diesem großen Projekt, nämlich dem der sozialen Transformation. Deshalb ist es wichtig, auch dort Leute zu haben, wo die Gesetze gemacht werden, dort, wo man sich mit anderen verständigen und einigen kann und wo man Druck auf die Regierungen ausüben und sie beeinflussen kann, sowohl auf nationaler, als auch auf regionaler und kommunaler Ebene. Die Antwort auf die Frage lautet also ja, ich glaube, dass die Arbeit als Abgeordneter sehr viel Sinn macht. Heute auf den Tag sind es genau zwei Monate, dass ich das jetzt mache, und es waren zwei sehr intensive Monate. Wir haben zum Beispiel einen Gesetzesentwurf erarbeitet, der es den Bürgern ermöglicht, überfällige Gesetzesänderungen, die seit Jahren im Parlament vor sich hin dösen, zu beschleunigen. Wir haben die Regierung zu verschiedensten Themen zur Rede gestellt und Auskünfte und Informationen zu Dingen, die die Bürger und Gemeinden selber betreffen, gefordert. Zudem haben wir zu zehn Gesetzesprojekten in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wohnungsbau, Arbeit und soziale Absicherung unsere Vorschläge eingebracht. Ja, man kann also Dinge bewegen. Einige der Themen sind bereits dabei, langsam Gesetz zu werden, auch wenn wir wissen, dass es noch einige Zeit dauern wird. Aber das wichtigste ist – darauf bestehe ich – all dies zusammen mit den sozialen Bewegungen tun und somit dazu beizutragen, sich innerhalb einer Gesellschaft zu organisieren, die nur dem Individualismus huldigt, der Zersplitterung, dem „Jeder ist sich selbst der Nächste“. Es ist also eine gemischte Aufgabe: im Parlament und in den Städten und Gemeinden bei den Menschen.
Vielen Dank!
Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter