Der Wunsch, ein auskömmliches Leben führen zu können, wie „Buen Vivir“ zu übersetzen wäre, hat historische Wurzeln. So in allen Religionen und für Menschengemeinschaften der Erde unserer Einen Welt beschrieben.
In der fortdauernden Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Natur und unter den Gegebenheiten ihrer Gemeinschaft, erstrebten die Menschen vom Anbeginn an, ein erträgliches Leben. Sie benötigten für ihre Existenz und Reproduktion Nahrung, Kleidung, Wohnraum und Sicherheiten gegen die Unbill der Natur oder andersgesinnte Kräfte. Frieden war stets ein hohes Gut für alle Menschen der Welt. Für ihr Zusammenleben schufen sie sich später eine Verfassung, mit wichtigen Regeln, die zu beachten sind. Konstellationen dieser Art bestimmten die Entwicklung aller Völker, auch Lateinamerikas.
Wurzeln des „Buen vivir“
Spanier und Portugiesen, Engländer u.a. unterbrachen mit kolonialer Gewalt den Entwicklungsweg der Indigenas. Sie brachten andere Herrschaftsverhältnisse in die „Neuen Welt“, sowie eine andere Religion. Für eigene Zwecke nutzten die Eroberer die Ergebnisse der Pflanzenzucht der Indigenen (Mais, Kartoffeln, Baumwolle, Tomaten, Kakao, Tabak und viele andere endemische Produkte) und ihre Bodenschätze (Gold, Silber, Schwefel, Salz u.v.m.). Europa traf auf Kulturleistungen, wie eine Hyroglyphenschrift und Knotensprachen, die Erfindung der Null, präzise Kalendersysteme, Berechnungsverfahren für Planetenumläufe, Wegenetze und Verwaltungserfahrungen um Großsiedlungen zu versorgen. Sie fanden eine andere Gesellschaftsordnung vor, die auf Gemeineigentum an Boden, Gewässer, Wälder, Erz-Minen etc. beruhte. Es herrschte ein Solidarprinzip beim Arbeiten. Die Natur gehörte allen und sie bot das Nötigste zum Leben. Der US-Amerikaner Tom Froes kam in seinen Forschungsarbeiten zum Schluss, dass der Stadtstaat Teotihuacan von einer kollektiven Struktur beherrscht wurde, nicht von einem zentralen König, wie es in dieser Epoche in Europa üblich war. (Bild der Wissenschaft Nr. 7/2017).
Froes Logik wird möglicherweise gestützt, vom vorspanischen Buchwerk der Maya „Popul Vuh“ das Buch des Rates (Kiepenheuerverlag). Denkbar findet auch das Rätsel eine Lösung, weshalb in den Pyramidenanlagen Lateinamerikas keine Königsgräber gefunden wurden. Ausnahme ist wohl Palenque, wo der deutsche Forscher Nikolai Grube ein Grab des Herrschers Paquul identifiziert hat.
Wie weiter?
Die nunmehr 500-jährige Entwicklung Lateinamerikas nach der Entdeckung hat Widerstandsaktionen gegen die Fremdbestimmung aus Europa und den USA bis zur Gegenwart nie ruhen lassen (z.B. Mayas in Guatemala, El Salvador und Chiapas/Mexiko, Mapuche/Chile, Aimaras und Ketschua in Bolivien und Peru, Landlose in Brasilien). Im Hintergrund steht ohne Zweifel ihre eigene Philosophie des „Buen Vivir“. Die Erinnerungen an ein selbstbestimmtes Leben scheinen unauslöschlich.
Differenzen zwischen der möglichen Lebensgestaltung in Lateinamerika und der Realität der gewinngetriebenen Ordnung führten im 20. Jahrhundert auch zur Theologie der Befreiung. Ihre sozialkritischen Facetten wären ohne das Gedankengut des „Buen Vivir“ nicht denkbar gewesen. Der argentinische Papst Fanziskus I. erhielt einen Teil seiner humanen Prägung sicherlich aus der gleichen Quelle. Nach einer Bischofskonferenz in Kolumbien (CELAM) am Ende des 20. Jahrhunderts nahm die Theologie der Befreiung ihren Lauf.
Noch stehen die Nachkommen der Ureinwohner Lateinamerikas auf der Verliererseite des Lebens
Die internationale Arbeitsteilung zwingt sie in die Rolle der Rohstofflieferanten und Fertigwarenimporteure, mit dem Effekt, dass ihr Akkumulationsvermögen gering bleibt. Notwendige Finanzmittel können sie nur bei externen Großbanken oder dem IWF leihen, meist gegen Auflagen und hohen Zinsen.
Lateinamerikanische politische Akteure mit humanistischen Grundeinstellungen entwickelten über die Zeitläufe gesellschaftliche Alternativen, beeinflusst vom Geist der französischen Revolution und den Denkern der Aufklärung. Sie erhielten weitere Impulse von europäischen Auswanderern, die der geistigen Enge Europas und der Not entflohen sind.
Nach einer Revolution vollzog Mexiko mit seiner neuen Verfassung von 1917 großartige Leistungen. Sie enthält Regeln zur Sozialversicherung, eines achtstündigen Arbeitstages. Der Grund und Boden wurden zum unverkäuflichen Gemeineigentum erklärt. Die mexikanische Verfassung ging über die europäischen und der nordamerikanischen Grundgesetze hinaus. Die „Offenen Adern Lateinamerikas“ von Eduardo Galeano aus Uruguay (Verlag Neues Leben, 1974) sind voller Anklagen. Das Buch schildert eindringlich die Zustände Lateinamerikas, ebenso wie das Werk von Romeo Rey, „Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ (Verlag C.H. Beck).
Kuba arbeitet seit 62 Jahren, trotz widrigster Umstände, an Alternativen mit weltweit achtbaren Erfolgen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Im gleichen Zeitraum veranlasste Mexiko Debatten in der UNO zur Schaffung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“. In Guatemala, Peru, Bolivien, Nikaragua strebten soziale Bewegungen nach Alternativen für ein besseres Leben. Brasilien experimentierte später mit einem „Null Hunger Programm“, richtete ein Ministerium für „Solidarische Ökonomie“ ein und organisierte Sozialforen. Breiter angelegt sind die Konzepte des auskömmlichen Lebens in Venezuela mit 29 spezifischen und 7 komplexen Missionen. (Bildung, Gesundheit, Wohnen etc.). Das Land hat eine langfristige Planung für Bereiche der Daseinsvorsorge aufgelegt und kann Erfolge in der kommunalen Demokratie und im Verfassungsrecht vorweisen. Bolivien und Ecuador verfolgen praktische Schritte zur Erhöhung des Lebensniveaus ihrer Einwohner. Die Natur und die Menschenrechte der UNO haben Verfassungsrang erhalten. Beide Ländern haben Anteile an der theoretischen Ausgestaltung des „Buen Vivir“, mit eigener Namensgebung „Suma Qamana“ und „Sumak Kawsay“.
Die lateinamerikanischen Protagonisten streben nachhaltige Verbesserungen an. Sie sollten mit der internationalen Solidarität rechnen können.
Die Entwicklung des historischen Konzepts „Buen Vivir“ erfordert viel Zeit; vielleicht über Generationen. Veränderungen verlaufen nicht linear von unten nach oben. Sie sind ein gesellschaftlicher Prozess mit Vorwärtsbewegungen und Rückschlägen. Gegenwärtig befinden sich die Fortschrittsländer in einer Phase der Rückschläge, als Ergebnis der Gegenreaktionen interner und internationaler Beharrungspolitiker; und eigener Fehler. Im Verlauf der Geschichte gab es immer wieder Rückschläge, z.B. durch Militärdiktaturen in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, in Folge von Sicherheitsdoktrinen der USA im Kalten Krieg.
Schlussgedanken: Die eurozentrische Messlatte eines Platons, Gauß oder Krupp reicht in der globalen Welt nicht mehr zur Wahrheitsfindung aus. Wissenschaftler und Aufklärer drängen darauf, die Dinge des Lebens in ihren einzelnen Wertvergleichen und in ihren Zusammenhängen zu betrachten.