Die Demokratien in Europa stehen mit dem Rücken an der Wand. Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung werden Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Grundrechte immer weiter eingeschränkt. Spanien bewegt sich im Laufschritt zurück in die Zeiten der Franco-Diktatur. Die Unterdrückung der öffentlichen Meinung versteckt sich dabei hinter einem Rechtsverständnis, das bis zur Groteske entstellt wurde.
„Ich glaube nicht, dass Spanien ein europäischer Rechtsstaat ist“. Dieses vernichtende Fazit zog die spanische Rechtsexpertin Araceli Manges Martin schon 2015. Manges, Professorin für Öffentliches Internationales Recht an der Universität Complutense in Madrid, klagte in der konservativ ausgerichteten Zeitung El Mundo über die Entwicklung Spaniens vom Vorzeigekind Europas zu einem der unzuverlässigsten Staaten der Europäischen Union – in dieser zweifelhaften Spitzenposition nur überholt von Italien und Griechenland.
Mangas erklärte, der Europäische Gerichtshof hätte zwischen 2010 und 2014 zwar zweiunddreißig Urteile wegen Nichterfüllung von EU-Normen gegen Spanien gefällt, aber von der Umsetzung der Forderungen blieb die junge Demokratie himmelweit entfernt.
Altlasten: Massengräber, Todesurteile und der Krieg im Osten
Tatsächlich sticht Spanien nicht nur wegen seiner Verstöße gegen EU-Normen bei Umweltschutz, Energieeffizienz oder Flüchtlingspolitik hervor, sondern vor allem bei den auf dem Schild getragenen europäischen Werten. In Spanien gibt man sich nicht nur streng konservativ, sondern ist auf dem langen Marsch zurück zu den Verhältnissen im Franco Faschismus.
Ganz oben auf der Liste der Verfehlungen steht die Strategie des konservativ-bürgerlichen Lagers, eine Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von Folter und Mord während der Franco-Diktatur und in der Phase des Übergangs zur Demokratie, die erst 1975 nach dem Tod des Diktators eingeleitet wurde, zu verhindern.
Denn obwohl Spanien nach Kambodscha das Land mit den meisten Massengräbern der Welt ist, bleibt die juristische Aufarbeitung aus. 2014 wurde die sogenannte „Universal Jurisdiction“ (Uj), das Recht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit außerhalb Spaniens juristisch zu verfolgen, durch eine Reform zerstückelt.
Bereits unter dem Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero, von 2004 bis 2011 Ministerpräsident Spaniens, wurde das UJ langsam seiner Wirksamkeit beraubt, um diplomatische Konflikte zu vermeiden, wie sie Ende der 1990er bei der Strafverfolgung von Augusto Pinochet auftraten. Damals hatte Untersuchungsrichter Baltasar Garzón gegen den früheren Diktator Chiles wegen Völkermord, Staatsterrorismus und Folter ermittelt, weil auch spanische Staatsbürger unter den Opfern der Militärdiktatur waren.
Sowohl Human Rights Watch (HRW) als auch die Vereinten Nationen (UNO) hatten die Reform scharf kritisiert. In zwei Gutachten wurde empfohlen die Verbrechen der Franco-Ära vor Gericht zu bringen und vor allem den „gewaltsamen Entführungen” juristisch nachzugehen. Passiert ist nichts.
Mutmaßlichen Tätern wie zum Beispiel Ex-Minister Rodolfo Martín Villa, der seit 2014 wegen des Verdachts des fünffachen Mordes von Argentinien mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wird, bleibt die Auslieferung erspart. Villa soll verantwortlich sein für ein 1976 verübtes Massaker an streikenden Arbeitern im nordspanischen Victoria. Die Nationalpolizei hatte auf die Menschen geschossen. Villa selbst wurde 2017 für seine Verdienste um die Demokratie von König Felipe VI ausgezeichnet.
Bis in die Gegenwart gab es keine Reparationen für die Opfer des Franquismus und selbst Unrechtsurteile wurden nicht revidiert. Auch das 1940 von einem Standgericht gegen den katalanischen Präsidenten Lluis Companys verhängte Todesurteil hat weiterhin Bestand.
Companys, der zur Republikanischen Linken Kataloniens gehörte, war nach dem Sieg der spanischen Nationalisten nach Frankreich geflohen. Nach dessen Besetzung durch deutsche Truppen wurde er verhaftet und an das franquistische Regime ausgeliefert. In Madrid wurde Companys inhaftiert, gefoltert und nach einem Schnellverfahren in Barcelona an die Wand gestellt.
Gedenken an ideologische Krieger
Im Gegensatz dazu wird jenen Anerkennung zuteil, die sich an der Seite Hitler-Deutschlands am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion beteiligten. Das Andenken an die Blaue Division (División Azul) wird in Ehren gehalten.
Der Verband aus Freiwilligen, vor allem Faschisten der spanischen Falange, die im Kommunismus den ideologischen Feind ausmachten, wurde zwischen Sommer 1941 bis Herbst 1943 an der Ostfront eingesetzt. Nach der offiziellen Auflösung, eine Folge des außenpolitischen Drucks auf Franco und der sich abzeichnenden Niederlagen der Achsenmächte, blieben Angehörige der Division im Osten und kämpften als „Spanische Legion“ weiter. Im Verlauf des Krieges wurden die Spanier in die Waffen-SS integriert. Die letzten Einheiten verteidigten im Frühjahr 1945 in völlig aussichtsloser Lage die Trümmer von Berlin gegen die Rote Armee – und gegen den Kommunismus.
Das Verhältnis der ehemaligen Waffenbrüder blieb nach Kriegsende ungetrübt, obwohl zahllose Nazi-Verbrecher, SS-Angehörige und Schreibtischtäter über Spanien nach Südamerika flüchteten oder unbehelligt unter dem Schutz Francos in der spanischen Sonne lebten.
Deutschland zeigte sich gegenüber den alten Frontkämpfern großzügig. Im Rahmen der Kriegsopferversorgung wurden seit den 1960er-Jahren Versorgungszahlungen an ehemalige Mitglieder der Blauen Division und deren Angehörige geleistet.
2017 war ein sehr schlechtes Jahr für die Meinungsfreiheit
Spätestens seit Juni 2015, als das von der aktuell regierenden Volkspartei (Partido Popular) angestoßene „Gesetz zur Sicherheit der Bürger“, umgangssprachlich Knebelgesetz (span. Ley Mordaza) genannt, im Rahmen einer tiefgreifenden Reform des Strafrechts zur Verstärkung des Schutzes gegen islamistischen Terrorismus in Kraft trat, mutiert Spanien mit besorgniserregender Geschwindigkeit zu einer Nation, in dem Eingriffe in die Grundrechte zum Alltag gehören. Die Meinungsfreiheit ist massiv bedroht.
In den oben erwähnten Berichten von HRW und UNO wurde bereits vor den Folgen der Reform gewarnt:
„Government bills to modify the criminal code and create a new public security law, under examination in parliament at time of writing, raised concerns about interference with fair trial rights and the rights to peaceful assembly and freedom of expression.”
„Regierungsgesetze zur Änderung des Strafgesetzbuchs und zur Schaffung eines neuen Gesetzes zur öffentlichen Sicherheit, das zum Zeitpunkt der Abfassung des Berichts im Parlament geprüft wurde, sind bedenklich hinsichtlich der Einmischung in die Rechte auf ein faires Verfahren und das Recht auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung.“
Die Befürchtungen der international anerkannten Organisationen haben sich bestätigt. Die Plattform für die Verteidigung der Informationsfreiheit (Plataforma en Defensa de la Libertad de Información; PDLI) bemerkt in ihrem Jahresbericht, 2017 sei ein „sehr schlechtes Jahr für die Meinungsfreiheit“ in Spanien gewesen.
Besonders schwerwiegend seien die Verurteilungen von Musikern und Privatpersonen wegen mutmaßlichen Terrorismus, die sich lediglich auf Verse oder Meinungsäußerungen in den sozialen Netzwerken stützen würden.
So wurden unter anderem César Strawberry, Sänger der spanischen Band „Def con Dos“, die 21-jährige Twitterin Cassandra Vera, der 23-jährige Rapper Valtonyc und die Gruppe „La Insurgencia“ wegen ihrer Kurznachrichten zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Die Präsidentin von PDLI, Virginia Perez Alonso, erklärte, dass Spanien seit der Wiedereinführung der Demokratie kaum ein Jahr mit einer so starken Unterdrückung der Meinungsfreiheit erlebt habe. Sie warnte vor den „noch unvorhersehbaren Folgen“ der Gerichtsurteile für die Meinungsfreiheit.
Laut der linksgerichteten online Zeitung Publico.es sei insbesondere auf dem sozialen Netzwerk Twitter seit Einführung des Knebelgesetzes die Strafverfolgung „sprungartig“ angestiegen.
Mutmaßliche Hassdelikte und angebliche Rebellion
Auch der Konflikt in Katalonien hat zu einer beunruhigenden Zunahme von Verfahren gegen Privatpersonen und politische Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung wegen mutmaßlicher Hassdelikte geführt, aber auch wegen angeblicher Rebellion, selbst wenn gar keine Gewalt im Spiel ist.
Internationale Akteure für Sicherheit im Netz kritisierten den Eingriff des spanischen Staates in die Internetfreiheit während der Vorbereitungen und der Durchführung des Katalonien-Referendums vom 1. Oktober.
Die nach dem Referendum von der spanischen Zentralregierung und dem Senat gegen die Autonome Gemeinschaft Katalonien unter Berufung auf Artikel 155 der spanischen Verfassung verhängten Zwangsmaßnahmen wurden von zahlreichen spanischen Juristen wegen ihrer möglichen Verfassungswidrigkeit kritisiert.
Die Einschränkung der Pressefreiheit ist ein weiteres Indiz für den Kampf der rechtskonservativen Regierung um Ministerpräsident Mariano Rajoy und seiner aus den Überresten des Franquismus hervorgegangenen Partido Popular gegen demokratische Grundwerte.
Witze über Tyrannen, Majestäten und Faschisten strafbar
2017 erschütterte erstmals ein Tweet von Cassandra Vera die Twitter-Community. Die junge Frau informierte ihre Follower darüber, dass der Staatsanwalt zweieinhalb Jahre Gefängnis für sie gefordert hatte, wegen eines von ihr auf Twitter verbreiteten Witzes über den ermordeten Franquisten-Führer Luis Carrero Blanco.
Die baskische Untergrundorganisation ETA, die ihren bewaffneten Kampf gegen den spanische Staat erst 2011 einstellte, hatte den engen Vertrauten des Diktators 1973 in Madrid in die Luft gesprengt. Das Gericht verurteilte Vera zu einem Jahr Haft und 7 Jahren Berufsverbot. Ihre angestrebte Laufbahn als Lehrerin ist damit beendet.
Carlos Sánchez Almeida, bei PDLI verantwortlich für rechtliche Fragen, kritisierte das Urteil des Staatsgerichtshofs (span.: „Audiencia Nacional“), weil Cassandras Witze auf Twitter in keiner Weise ein Delikt darstellen würden.
Der Sänger César Strawberry wurde zu einem Jahr Haft verurteilt – für sechs Tweets. Die PDLI kritisierte dieses Urteil ebenfalls scharf und erinnerte daran, dass der Schutz der Meinungsfreiheit gerade wichtig sei, um kritische, nicht gesellschaftskonforme Meinungen zu schützen, solange diese friedlich geäußert würden.
Strawberry hatte vor dem Staatsgericht erklärt, er habe „Kritik an der Konsumgesellschaft geübt, stets mit Ironie und einer Brise Humor, aber niemals zum Terrorismus aufgerufen“. Trotzdem wurde er verurteilt.
Kurz nach dem Richterspruch gegen Strawberry wurde der Rapper Valtony verurteilt. Nach Aussagen des Musikers habe ein rechtsextremer Politiker eine Klage angestoßen, als dieser erfuhr, dass Valtony ihn, den König und die aufgelöste Terroristengruppe ETA in seinen Songs erwähnte. Die Solidaritätsbekundungen für Valtony seitens bekannter linker Politiker wie Pablo Iglesias, dem Vorsitzenden von Podemos, oder Ada Colau, der Bürgermeisterin von Barcelona, halfen nicht. Der Rapper wurde zu dreieinhalb Jahren Haft und 3000 Euro Bußgeld verurteilt.
Das Jahr endete schließlich mit einem Urteil des spanischen Staatsgerichtshofs gegen die Hip-Hop-Gruppe „La Insurgencia“. Die war wegen ihrer systemkritischen Texte gegen die spanische Monarchie und die Regierung ins Visier der Justiz geraten. Zwölf Mitglieder der Gruppe müssen für zwei Jahre und einen Monat hinter Gitter, sollte ihrem Einspruch vor dem Obersten Gerichtshof (Tribunal Supremo) nicht stattgegeben werden. Außerdem wurden sie mit acht Jahren Berufsverbot belegt und einer Geldstrafe von 4800 Euro.
Es blieb allerdings Staatsanwalt José Perals Calleja vorbehalten, den Rechtsstaat Spanien in die Groteske zu führen. Im Dorf Altsasu war es in einer Bar zwischen zwei Angehörigen der paramilitärischen Polizeieinheit Guardia Civil, die sich privat in dem Lokal aufhielten, und einer Gruppe junger Leute zu einem Streit und zur Prügelei gekommen. Die Polizisten erlitten Prellungen, einer brach sich den großen Zeh. Der Fall landete vor Gericht. Calleja forderte wegen mutmaßlicher Terrorismusverbrechen insgesamt 375 Jahre Gefängnis für rund ein Dutzend junge Basken und Baskinnen – die beiden Polizisten waren Zeugen.
Publico.es schrieb im Zusammenhang mit dem Verfahren, dass die Justiz offenbar die Theorie verfolge, alles im Baskenland sei identisch mit der ETA und müsse so auch bestraft werden. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Drei der Angeklagten sitzen seit über einem Jahr in Untersuchungshaft. Die Dorfbewohner demonstrieren regelmäßig gegen den Irrsinn im Namen des Rechts.
Prozessrekord am Staatsgerichtshof
Der Staatsgerichtshof (Audiencia Nacional), Erbe des franquistischen „Gerichtshof für Öffentliche Ordnung“ (Tribunal de Orden Publico), nahm in der Vergangenheit eine entscheidende Rolle bei der Verfolgung von Verbrechen der ETA ein.
Die Audiencia Nacional befasst sich zwar weiterhin mit besonders schwerwiegenden Verbrechen wie Terrorismus, organisierte Kriminalität und Drogendelikten, ist aber wegen der Strafrechtsreform 2015 nun auch zuständige Instanz für Delikte wie die Verherrlichung des Terrorismus.
Die PDLI informierte die Öffentlichkeit im März 2017 über „Reihenverurteilungen“. Binnen einer Woche hätten gleich sieben Verfahren stattgefunden wegen mutmaßlicher Verherrlichung des Terrorismus in den sozialen Netzen. Die Richter am Staatsgerichtshof verhängten jeweils ein bis zwei Jahre Haft und Berufsverbote von bis zu acht Jahren. Die Strafen kamen nach Deals mit den Verteidigern zustande.
Nicht jeder lässt sich vom Staat in die Knie zwingen. Arkaitz Terrón, selbst Anwalt, lehnte eine Vereinbarung ab. Er erklärte, man habe ihn denunziert und verklagt wegen Tweets, die vier Jahre alt seien und in denen er den letzten unter Franco Hingerichteten gedachte – auf einem Twitter-Konto mit 220 Followern.
Laut PDLI habe der Staatsgerichtshof seit Januar 2016 insgesamt dreißig Personen wegen Meinungsäußerungen in den sozialen Netzwerken verurteilt. Seit dem Waffenstillstand mit der ETA und dem Regierungsantritt der Partido Popular 2011 hätte sich die Zahl der Verfahren wegen mutmaßlicher Verherrlichung des Terrorismus verfünffacht.
Die PDLI kritisiert zudem die sogenannten „Operationen Spinne“. Dabei werden die sozialen Netze zufällig gescannt und die massenhaft gesammelten Daten für Anklagen verwendet. Dieses Vorgehen sei absolut irregulär und in einer Demokratie völlig unakzeptabel.
Angriff auf Pressefreiheit und Satire
Auch Journalisten wurden aufgrund des Knebelgesetzes mit Bußgeldern belegt. Der Journalist Mikel Sáenz de Buruaga, ein Baske, wurde von der baskischen Polizei, der Ertzaina, angezeigt, weil er einen Polizeieinsatz mit dem Handy gefilmt hatte.
Der galizische Journalistenverein prangerte Drohungen der Sicherheitskräfte gegen Journalisten an, die über eine Zwangsräumung eines Sozialzentrums berichteten. Ein Journalist in Sevilla erhielt einen Verweis, weil er von einem Protest gegen den Bus der Anti-Transsexualität-Kampagne „Hazte oír“ berichtete.
Der Direktor der Satirezeitung „El Jueves“ stand im November 2017 wegen „Verunglimpfung der staatlichen Sicherheitskräfte“ vor Gericht. Polizeigewerkschaften hatten Klage eingereicht, weil das Blatt einen Witz über die in Katalonien stationierten Polizisten veröffentlichte, in dem ein angeblicher Kokainkonsum insinuiert wurde.
Auch die Zeitung Publico.es hat den zunehmenden Druck der Polizei beklagt, vor allem wegen der Behinderung ihrer Recherchen zu den parallelen Staatsstrukturen im Land: Der „Tiefe Staat“, der „Deep State“ wird von Journalisten im Zusammenhang mit der sogenannten „Operation Katalonien“, die der Inszenierung von Schmierkampagnen gegen katalanische Pro-Unabhängigkeits-Politiker diente, untersucht.
In ihrem Jahresbericht erwähnt die PDLI außerdem die Inhaftierungen des schwedisch-türkischen Journalisten Hamza Yalçin und des deutsch-türkischen Journalisten Dogan Akhanli. Die Türkei, unter der Regierung Erdogan in diktatorische Verhältnisse abgeglitten, hatte gegen die Journalisten internationale Haftbefehle erlassen, die aber kein EU-Land umsetzte – außer Spanien. Akhanli und Yalçin wurden verhaftet. Nach diplomatischen und öffentlichen Druck wurden die Journalisten aber nicht an die Türkei überstellt.
Änderung des Knebelgesetzes „unzureichend“
Um die Fortsetzung der journalistischen Tätigkeit in Spanien zu garantieren, forderte die PDLI eine Stellungnahme der Parteien im Parlament. Die Oppositionsparteien der Sozialisten und Basken schlugen eine Gesetzesänderung vor. Allerdings bezeichnet die PDLI die geplanten Änderungen als „unzureichend“, da sie das Knebelgesetz als „unnötiges juristisches Werkzeug“ verstehen. Zudem würden zahlreiche Lücken im Gesetz erhalten bleiben wie beispielsweise die Einschränkung des Rechts auf Protest und auf Versammlung.
Die PDLI weist darauf hin, dass der Großteil der Verstöße gegen die Informationsfreiheit mit angeblichem „Ungehorsam“ oder „fehlendem Respekt gegenüber den staatlichen Autoritäten“ camoufliert werde, Anklagepunkte, die bei der Reform erhalten blieben.
Ebenso könnten weiterhin Organisatoren einer Demonstration strafverfolgt werden. Hier kritisiert die Plattform den schwammigen Wortlaut: „ (…) jene, die mittels Veröffentlichung oder Deklarationen (…) als Dirigenten dieser Demonstrationen gesehen werden können“, was in der Praxis bedeuten kann, dass ein Retweet oder ein Tweet bis zu 600.000 Euro Bußgeld kosten könnte.
Für den spanischen Staat entwickelt sich die Entdemokratisierung so zu einem lukrativen Nebengeschäft. Wie aus der Bilanz des Innenministeriums zu entnehmen ist, haben sich die Anzeigen wegen „fehlenden Respekts und Rücksichtnahme“ gegenüber den staatlichen Sicherheitskräften seit dem Jahr 2016 verdreifacht. Rund 19.500 Verstöße spülten Bußgelder von über drei Millionen Euro in die Staatskasse.
Auch die Zahl der registrierten Verstöße wie „Ungehorsam oder Widerstand gegenüber der Autorität“, „Verweigerung der Identifizierung“ oder „Angabe von falschen Personendaten“ verdreifachten sich seit der Strafrechtsreform. Die Zahl der Verstöße wuchs auf astronomisch wirkende 285.919 an und brachte dem Staat Bußgelder von mehr als 131 Millionen Euro ein.
Wie der Sender Cadena SER berichtete ist 2017 das Jahr mit den wenigsten Gesetzesverabschiedungen seit Einführung der Demokratie gewesen. Ganze 13 Gesetze seien verabschiedet worden. Dem stehen 45 Gesetzesinitiativen der Opposition gegenüber, die allesamt von der Regierung „aufgrund von Kostengründen“ abgelehnt wurden. Eine derartig konstante Ablehnung von Gesetzesvorschlägen hat es laut SER in der spanischen Demokratie auch noch nie gegeben.
In die Gegenrichtung fährt der Zug schneller. Ende Dezember präsentierte die Partido Popular einen weiteren umstrittenen Gesetzesentwurf – die Anonymität im Netz soll aufgehoben werden, um die Sicherheit und Würde im Netz zu garantieren.
Die von Human Rights Watch und inzwischen auch vom spanischen Staatsgerichtshof geforderte Wiedereinführung der „Universal Jurisdiction“ sowie die von der Opposition geforderte Reform des „Gesetzes zur Sicherheit der Bürger“ (Knebelgesetz) verstauben dagegen seit Frühjahr 2017 in den Schubladen.
Zensur, Kontrolle und der Katalonienkonflikt
Die „Plattform für den Schutz der Informationsfreiheit“, der Spanische Verein für Zeitungsverlage (AEEPP), der Bund der Journalistengewerkschaften (FeSP), der Verein für Investigationsjournalismus sowie zahlreiche alternative Zeitungen wie Publico.es, Xataka oder Maldito Bulo unterzeichneten ein Manifest zur „Verteidigung der Informationsfreiheit“ und gegen die wiederkehrenden Versuche der politischen Kontrolle der journalistischen Informationen unter dem Vorwand der Bedrohung durch angebliche „fake news“.
Die Angestellten des öffentlich-rechtlichen spanischen Fernsehsenders TVE in Katalonien veröffentlichten ebenfalls ein Manifest gegen die Zensur der Berichterstattung während des 1.-Oktober-Referendums. Außerdem beschwerten sich die Redakteure des Senders über eine kontinuierliche Präsenz von Geheimpolizisten im Gebäude. Die Direktion wiegelte ab. Die Anwesenheit der geheimen Staatsgewalt wurde als „notwendiger Schutz vor radikalen Gruppen“ gerechtfertigt.
Der Eingriff in öffentlich-rechtliche Medien, um deren „Kontrolle“ zu ermöglichen, stand auch im Vordergrund der Wahlkampagne in Katalonien. Dort warfen die rechtsliberale Partei Ciutadans und der katalanische Ableger des Partido Popular dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender TV3 Indoktrinierung vor.
Der Kandidat der katalanischen Partido Popular, Xavier García Albiol, schlug eine vorläufige Schließung von TV3 vor, um den Sender anschließend mit „normalen Menschen, die plural sind“ neu zu besetzen.
Wirtschaftlich steht TV3 nun auch unter Druck. Vor wenigen Tagen warnte der Direktor von TV3, Vincent Sanchis, in einem Radiointerview, dass der Sender Gefahr laufe, bankrott zu gehen, weil das spanische Finanzministerium aufgrund einer Gesetzesänderung nachträglich 167 Millionen Euro Umsatzsteuer einfordere.
Die PDLI beobachtet die Entwicklung in Katalonien mit großer Sorge. Die Organisation hatte ein spezifisches Beobachterkabinett eingerichtet, um mögliche Verstöße gegen die Meinungsfreiheit in der Region zu verfolgen. Im Jahresbericht werden unter anderem das Verbot von Diskussionsveranstaltungen zum Recht auf Entscheidung, die Schließung von Webseiten, Aggressionen gegen Journalisten und die Polizeigewalt gegen die Wähler während des Referendums genannt. Außerdem hob die Plattform die Inhaftierung der Vorsitzenden der Bürgerbewegungen ANC (Jordi Sánchez) und Omnium Cultural (Jordi Cuixart) wegen mutmaßlichen Aufstands als besonders besorgniserregenden Eingriff in die Grundrechte hervor.
Cyber-Attacken und Hassdelikt als Interpretation
Im Zusammenhang mit dem von den spanischen Autoritäten als illegal erklärten Referendum in Katalonien machten internationale Beobachter auf weitere schwere Verstöße gegen Grundrechte aufmerksam. Die Freiheit im Internet ist gefährdet.
Das Open Observatory of Network Interference (OONI) informiert in einem Bericht über mindestens 25 gehackte Webseiten die Informationen über das Referendum enthielten, darunter institutionelle Seiten. Die Electronic Frontier Foundation kritisierte die Stilllegung von 140 Domains und die systematische Scannung der Domains mit der Landeskennung .cat (Anm.: „.cat“ steht für „Catalunya“).
Ein Student, der sich den Scherz erlaubte, die offizielle Informationsseite zum Referendum nach deren Schließung durch die Guardia Civil unter der Domain „Marianorajoy.cat“ wieder online zu stellen, musste inzwischen wegen „eines Deliktes des Ungehorsams“ vor Gericht aussagen.
Der Begriff „Hassdelikt“ entwickelt seit Ende 2017 eine besondere Popularität in den spanischen Medien. Berichte über den Katalonienkonflikt tragen Titel wie „CUP-Stadträte festgenommen wegen Hassdelikt gegen die staatlichen Polizeikräfte“ oder „Staatsanwalt untersucht mögliche Hassdelikte gegen Unabhängigkeitsgegner“ und gehören seit dem Oktoberreferendum zum regelmäßigen Leserkonsum. Oder die Headline „Mehrere Schullehrer vorgeladen wegen mutmaßlichen Hassdeliktes“ – die Pädagogen hatten mit ihren Schülern im Unterricht die Polizeigewalt vom 1. Oktober besprochen und eine Schweigeminute abgehalten für „Frieden und Gewaltfreiheit“.
Publico.es warnt vor der sehr „freien Interpretation“ des Hassdeliktes, die das spanische Innenministerium auf seiner offiziellen Webseite anbietet. Tatsächlich scheint insbesondere der spanische Innenminister und ehemalige Richter Juan Ignacio Zoido zur Häufung dieser mutmaßlichen „Hassdelikte“ beizutragen.
Nur wenige Tage nach dem katalanischen Referendum informierte die spanische Nachrichtenagentur EFE, dass der Innenminister ein Juristenkabinett exklusiv für die Verfolgung von Hassdelikten, die sich gegen die staatlichen Ordnungshüter, von denen Tausende in Katalonien stationiert waren, richten, geschaffen hat. In seinen Erklärungen gegenüber der Presse verwies Zoido auf die „zahlreichen Hassdelikte“ gegen die Polizei, die man dieser Tage „in Katalonien erlebe“. Der Innenminister erklärte gegenüber EFE:
„Wir werden diese Hassdelikte verfolgen und juristisch ahnden, damit die Schuldigen das ganze Gewicht des Gesetzes zu spüren bekommen, so wie es in freien und demokratischen Ländern geschieht, wo die Gewaltentrennung und der Rechtsstaat Grundlage sind“.
Spanien als Vorbote des Zerfalls der Demokratien?
Der Jurist José Antonio Martín Pallín, emeritierter Magistrat des Strafgerichts am Obersten Gerichtshof von Spanien, Mitglied von Amnesty International und Träger des nationalen Menschenrechtspreises 2006, erklärte in einem Interview in El Mundo, dass seiner Meinung nach die in Katalonien getroffenen Zwangsmaßnahmen jeglicher rechtlicher Basis entbehren.
Die inhaftierten Politiker und Aktivisten müssten auf freien Fuß gesetzt werden. Er lud „alle politischen Beobachter“ ein nach einer ähnlichen Situation wie in Katalonien in einem der EU-Länder, die zum „harten Kern“ gehören, zu suchen.
Trotz scharfer Kritik an den Unabhängigkeitspolitikern verwies er darauf, dass eine politische Lösung der einzige Weg sei. Eine Verhinderung des Amtsantritts von Carles Puigdemont als neuer Regionalpräsident Kataloniens durch die spanische Justiz wäre „mit dem Rechtsstaat, der Gewaltenteilung und der spanischen Verfassung unvereinbar“.
Noch immer besteht ein nationaler Haftbefehl gegen Puigdemont – und am Mittwoch konstituiert sich die neue katalanische Regionalregierung. Bei den Neuwahlen hatten die Parteien der Unabhängigkeitsbefürworter eine knappe absolute Mehrheit bekommen. Das Puigdemont wieder Ministerpräsident wird, scheint sicher. Würde der aber bei einer Rückkehr aus dem belgischen Exil nach Katalonien verhaftet oder sein Amtsantritt auf andere Art und Weise mit den Mittel des Rechtsstaats verhindert, ist die Demokratie tot.
Es wird sich in den kommenden Tagen zeigen, ob Spanien den schmalen Grad zu diktatorischen Verhältnissen bereits so weiträumig überschritten hat, dass es kein Zurück mehr gibt oder auf den letzten Drücker die Chance ergreift, um vielleicht doch noch zu einer Referenz des demokratischen Fortschritts in Europa zu werden.