Die Anthropologin Julia Henry lebte einige Wochen in einem Dorf in Italien, in welchem MigrantInnen untergebracht waren, und erforschte die Wahrnehmung dieser durch die Dorfbevölkerung, die interessanterweise zu einem großen Teil aus ehemaligen GastarbeiterInnen bestand. Würden diese RemigrantInnen den MigrantInnen mit größerem Verständnis begegnen, da sie doch ein ganz ähnliches Schicksal hatten? Die Ergebnisse ihrer Studie sind richtungsweisend für ein besseres Verständnis von Integrationsprozessen und der Hilfsbereitschaft oder Ablehnung gegenüber Zuwanderern, die wir in unserer Gesellschaft beobachten. Der Berliner Senat weist daher auch in seinem aktuellen Rundbrief auf ihre Veröffentlichung hin: „Ich weiß, was es heisst, ein Emigrant zu sein!“ Der Einfluss von Migrationserfahrungen italienischer Remigranten auf die Perzeption von Geflüchteten in Süditalien. Pressenza hat sich mit der Autorin unterhalten.
Um es gleich vorwegzunehmen, die Antwort auf die Frage, ob eher Empathie oder Abgrenzung vorherrschen, ist: beides.
Julia Henry erzählt zum Beispiel von einem Onkel und seinem Neffe, die zusammen in Deutschland als so genannte Gastarbeiter waren. Sie machten im Wesentlichen dieselben Erfahrungen, reden aber heute sehr unterschiedlich von den Geflüchteten im Dorf. Für beide war die Gastarbeiterzeit sehr schwer, denn sie hatten körperlich antrengende Arbeit zu verrichten und begegneten viel Ablehnung und Diskriminierung. Der Onkel litt aufgrund dessen und wegen der Trennung von seiner Familie unter Depressionen, aus denen ihm schliesslich die Hinwendung zu einer christlichen Gemeinschaft half. Der Neffe hingegen lernte eine deutsche Familie kennen, die ihn, wie er sagt, als Menschen und nicht als Gastarbeiter gesehen habe. Während der Neffe heutzutage Verständnis für die Geflüchteten im Dorf empfindet: „Ich helfe ihnen, weil man mir in Deutschland auch geholfen hat“, sagt der Onkel: „Wir wurden gerufen. Die kommen einfach so und sind gefährlich.“
„Es ist interessant, dass dieselben Erfahrungen zu so unterschiedlichen Einstellungen führen“, so Henry. Die Frage sei weniger, was für Erfahrungen gemacht worden waren, als vielmehr, wie sie von den Menschen später zu Empathie oder Ablehnung führen oder zu dieser instrumentalisiert würden.
Eine win-win-situation in den Dörfern
In dem Dorf, in dem Henry 2014 ihre Untersuchungen machte, waren 45 Geflüchtete – Männer, Frauen, Familien – einquartiert worden, die vor allem aus verschiedenen Ländern Afrikas und Pakistan stammten. Sie lebten dort dezentral in kleinen Häusern oder Wohngemeinschaften, während normalerweise AsylbewerberInnen in Italien, wie auch in Deutschland, in Lagern untergebracht sind, was auch dort stark kritisiert wird. In diesen staatlich geförderten dörflichen Modellprojekten soll seitdem eine eine win-win Situation erzielt werden: strukturschwache ländliche Regionen sollen belebt und Geflüchtete integrationsfördernd und bevölkerungsnah untergebracht werden.
Diese Projekte laufen bis heute und werden sehr unterschiedlich bewertet. Während sie in der internationalen Presse hochgelobt werden, gibt es auch Kritik. Nicht immer ist klar, wem diese Maßnahme in erster Linie nutzt: den MigrantInnen, die meist nach Ablauf ihres Asylverfahrens die Projekte wieder verlassen, oder den Dörfern, die dadurch Arbeitsplätze für ihre eigenen Bürger, billige Arbeitskräfte und Geld in die Kassen gespült bekommen. Nichtsdestotrotz sei, so Henry, diese Art der dezentralen Unterbringung besser als die Isolation und Untätigkeit in den Lagern.
Den Schmerz in Menschlichkeit umwandeln
Henry würde gerne an dem Thema ihrer Studie weiter forschen. Sie denkt, dass der Umgang mit Gefühlen von Benachteiligungen und negativen Erfahrungen aus der eigenen Migrationszeit die späteren Reaktionen auf „Fremde“ beeinflussen: „Inwieweit man fähig ist, den Schmerz an sich heranzulassen, um ihn in Menschlichkeit umzuwandeln.“ Es sei zum Beispiel interessant, bei sehr ausländerfeindlichen Menschen zu erforschen, welche eigenen Erfahrungen sie zu ihrer ablehnenden Haltung brächten und warum andere mit derselben Erfahrung offen auf MigrantInnen zugingen.
Auf die Frage, was ihrer Meinung nach für eine funktionierende Integrationspolitik wichtig sei, sagt Henry: „Sie einfach nur in ein Dorf hineinzusetzen, reicht nicht aus.“ Wichtig sei vor allem die Anbindung an Arbeit. Alle, die hierher kämen, wollten arbeiten und der Satz „Ohne Arbeit bist Du nichts“ sei typisch für diese Haltung. Daran hänge nicht nur das Selbstwertgefühl der Einheimischen, sondern auch der Geflüchteten, die häufig unter hohem Druck stünden, die in den Herkunftsländern zurückgebliebenen Familien zu versorgen.
Was aus den Schützlingen von damals geworden ist und ob sie noch Kontakt hat? Nachdem sie ihre Anerkennung bekommen hatten und das Projekt verlassen mussten, so Henry, seien viele der Geflüchteten aus dem Dorf weggegangen und hätten sich über ganz Europa verstreut. Manche schreiben ihr: „We manage.“ – wir kommen zurecht. Heute leben sie auf Malta, in Dänemark, in Frankreich, Belgien, in Deutschland oder in Italien und versuchen, sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. Ein junger Flüchtling in Paris konnte nach einer Phase der Obdachlosigkeit endlich ein Zimmer finden und arbeitet als Türsteher. Ein Pakistaner ist in der Gegend geblieben und hat im Projekt eine Anstellung erhalten. Eine eriträeische Familie lebt noch im Dorf und der Vater versucht, die Familie mit landwirtschaftlichen Arbeiten und Eigenanbau zu ernähren.