Wären Umfragewerte Ergebnisse, wäre in Brasilien eines klar: Michel Temer wäre nicht Präsident. Seine Beliebtheitswerte halten sich seit Amtsantritt im Mai 2016 beeindruckend konstant im einstelligen Bereich. Doch ein knappes Jahr hat der Mann noch, der als Vize-Präsident Dilma Rousseffs von deren Amtsenthebung profitierte und seither dem Land einen neoliberalen Anstrich verpasst.
Was geht, wird verscherbelt: Flughäfen, Ölkonzessionen. Umweltauflagen werden gelockert, Gesetze, die der freien Entfaltung der Marktkräfte auch nur ansatzweise im Wege stehen könnten, werden ebenfalls verwässert, gelockert oder ganz abgeschafft. Die Agroindustrie hat ohnehin Narrenfreiheit. Einziges Ziel: Brasilien aus der Rezession holen, koste es, was es wolle.
Doch was ist eigentlich, wenn Temer in einem knappen Jahr zu Ende regiert hat? Nach jetziger Rechtslage darf er nicht erneut kandidieren, sein passives Wahlrecht wurde ihm vor einiger Zeit wegen unerlaubter Wahlkampffinanzierung aberkannt. Zudem warten auf den 77-Jährigen noch die beiden Anklagen, die der ausgeschiedene Bundesrichter Rodrigo Janot kurz vor Ende seiner Amtszeit auf den Weg gebracht hatte. Als amtierender Präsident konnte er im Parlament teure Mehrheiten schmieden, um die Ermittlungen abzuwenden. Den brasilianischen Steuerzahler kostete die Mehrheitsbeschaffung Milliarden, Temer retteten sie den Kopf – vorerst. Denn genießt er keine Immunität mehr, ist der Weg für die Ermittler frei. Es wird spannend sein zu beobachten, wie er sich aus dieser Situation zu befreien versucht. Vielleicht bietet ihm sein Amtsnachfolger ja einen Ministerposten an.
Doch wer wird das überhaupt sein?
Bislang sind einige Namen im Rennen. Allen voran Luiz Inácio Lula da Silva, kurz: Lula. Lula war bereits von 2003 bis 2011 Präsident von Brasilien, das unter seiner Regierung auch einen beeindrucken Aufschwung hinlegte. Als Anerkennung für diese Entwicklung durfte Brasilien in wenigen aufeinanderfolgenden Jahren mehrere Großereignisse ausrichten: Die Panamerika Spiele 2007, den Weltjugendtag der Katholischen Kirche, die Fußball-WM 2014 und – als erstes südamerikanisches Land überhaupt, die Olympischen Spiele 2016.
Lula hatte eine ähnliche Biografie hingelegt, wie der polnische Werftschweißer Lech Walesa in den 80er-Jahren. Vom Gewerkschafter hatte er es bis ins höchste Amt des Landes geschafft. Eine erneute Kandidatur Lulas wäre seine sechste. Doch der Ex-Präsident hat ein Problem. Im Frühjahr 2017 hat ihn ein Gericht zu einer Haftstrafe von gut neun Jahren verurteilt. Zwar läuft ein Berufungsverfahren, ob dieses jedoch rechtzeitig vor der Wahl abgeschlossen sein wird ist offen.
Dürfte Lula allerdings kandidieren, dass hätte er gute Aussichten, zumindest die Stichwahl zu erreichen. Bei Umfragen liegt er momentan stets vorne. Vor allem im armen Nordosten des Landes setzt man auf den Kandidaten der Linken, der vor einigen Wochen schon angekündigt hat, im Falle eines Wahlsiegs zahlreiche Reformen der Regierung Temer wieder rückgängig zu machen.
Beste Chancen auf den zweiten Platz in der Stichwahl werden derzeit dem rechten Kandidaten Jair Messias Bolsonaro ausgerechnet. Bolsonaro steigt für die rechtsreligiöse Partei PSC in den Ring. Eine Vereinigung, durchsetzt mit fundamentalistischen evangelikalen Mitgliedern, Abtreibungs- und Verhütungsgegnern.
Bolsonaro müht sich redlich, sein faschistisches Weltbild bislang im Zaum zu halten und versucht sich und seinem Politikansatz einen liberalen Anstrich zu geben, patzte damit aber kürzlich bei einem TV-Interview und musste sich von der Moderatorin verbessern lassen.
Kurz nach dieser Blöße nahm er sich den Wirtschaftsprofessor Adolfo Saschida von der IPEA als Wirtschaftsnachhilfelehrer unter Vertrag. Bislang scheinen jedoch die wenigsten Brasilianer zu wissen, woran sie bei Bolsonaro sind. Er hatte in der Vergangenheit mehrfach offen sein reaktionäres Weltbild gezeigt, etwa, als er Indigene als Tiere bezeichnete, oder er den Generalen dankte, die Anfang der 70er-Jahre für die Folter der damaligen Guerillakämpferin und späteren Präsidentin Dilma Rousseff verantwortlich waren. Für das Polit-Journal „Istoé“ ist Bolsonaro ein Mann mit zwei Gesichtern und titelte: „Gefahr, er könnte Präsident werden.“
Fest steht indes, dass Brasilien mit einem möglichen Zweikampf Bolsonaro vs. Lula vor einem radikalen Richtungsstreit rechts gegen links steht und damit vor einem noch tieferen gesellschaftlichen Bruch. Beide Kandidaten polarisieren und geben sich unversöhnlich. Gemäßigtere Wähler könnten sich aber dennoch eher zu Bolsonaro hingezogen fühlen, denn sie sehen Lula einerseits als Teil des korrupten politischen Systems, andererseits als Ursache der derzeitigen politischen, gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Probleme.
Ein anderer „Istoé“-Cover-Boy hat seinen Rücktritt erklärt, ehe er überhaupt so richtig in Fahrt kommen konnte: „Der unglaubliche Huck“ lautet der Titel der aktuellen Ausgabe –in Anlehnung an den mit Superkräften gesegneten Comic-Helden Hulk – und zeigt auf dem Titelblatt Luciano Huck, einen schwerreichen Medienmenschen ohne politische Vergangenheit. Huck (das „Phänomen“ laut Istoé, so wie seinerzeit Superkicker Ronaldo) ist populär, seine Shows, wie die brasilianische Ausgabe von „Wer wird Millionär“ sind gute Quotenbringer. Huck ist also eine Art brasilianischer Günther Jauch.
Wer ihn warum ins Rennen warf erscheint vage. Erstmals war in einer Ausgabe der Tageszeitung O Globo der Name Huck ins Gespräch gebracht worden. O Globe ist Teil des größten Medienkonzerns Brasilien, des Rede Globo, für das auch Huck Sendungen moderiert. Möglich, dass man einen unverbrauchten, frischen Kandidaten ins Rennen schicken wollte – eine Art brasilianischen Macron als Gegenentwurf für die durch und durch korrupt erscheinende alteingesessene politische Klasse, für die letztlich auch Lula und Bolsonaro stehen. Möglich auch, dass der Medienkonzern die Muskeln spielen lassen wollen. Frei nach dem Motto, Präsident wird der, den wir wollen.
Inzwischen, zwei Tage nach dem Istoé-Titel hat Huck aber bekannt gegeben, nicht für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen. Kommentatoren hatten ihm zuvor noch Chancen auf eine Teilnahme in der Stichwahl attestiert.
Er wäre vermutlich auch sonst schwer zu vermitteln gewesen. Ein TV-Moderator, der ein großes Land wie Brasilien aus der Krise führen kann? Das hätten ihm wahrscheinlich die wenigsten zugetraut, zumal er sich bislang auch nicht durch großen politischen Sachverstand hervorgetan hatte. Als Mitglied einer reichen Familie wäre er zudem auch kaum ein geeigneter Kandidat gewesen, um den noch immer überwiegenden Anteil der armen Bevölkerungsschichten zu repräsentieren.
Hinzu kommen noch einige Kandidaten mit Außenseiterchancen.
Gerne genannt wird auch der frühere Bundesrichter Joaquim Barbosa. Der kantige farbige Mann gilt als moralisch durchaus integer, meldet sich auch immer mal wieder zu politischen Fragen überzeugend zu Wort. Bislang hat er jedoch noch keine Anstalten gemacht, eine Kandidaturabsicht zu bestätigen.
Marina Silva ist eine Umweltaktivistin, die ebenfalls im erweiterten Kandidatenkreis genannt wird. Unter Lula war sie bereits einige Jahre für dessen Arbeiterpartei PT Umweltministerin, brachte in der Zeit aber nichts Entscheidendes auf den Weg und wurde folglich von Lula wieder aus dem Amt entfernt. Es kam zum Bruch mit der Partei, weshalb sie für ihre Kandidatur eine eigene Partei, Rede, gründete. Marina Silva weiß rhetorisch durchaus zu überzeugen. Jedoch argumentiert sie sehr intellektuell und wenig volksnah. Ein Makel jedoch könnte sein, dass sie inhaltlich durch den Umweltschutz zu monothematisch aufgestellt ist. Zudem genießt das Thema Umweltschutz in weiten Teilen der Bevölkerung keine Priorität. Dort beschäftigen andere, existenziellere Probleme.
Ein weiterer Name, der immer wieder fällt, ist der von Joao Dória. Doria ist ein unternehmerischer Quereinsteiger in die Politik, ein hemdsärmeliger Typ oft als brasilianischer Donald Trump beschrieben, allerdings mit mehr politischen Sachverstand ausgestattet. Immerhin scheint er den Zusammenhang zwischen Regenwaldabholzung im Amazonas und Trockenheit in Sao Paulo erkannt zu haben. Von so viel Erkenntnisgewinn ist Trump freilich Lichtjahre entfernt. Seit Anfang 2017 ist Dória Bürgermeister der wichtigsten Metropole Sao Paulo. Das scheint Qualifikation genug zu sein, ihn ins Rennen um das wichtigste politische Amt zu schicken. Sein Arbeitsstil wirkt populistisch, Bauch gesteuert. Allerdings könnte er der einzige ernst zu nehmende Kandidat sein, den die sozialdemokratische PSDB überhaupt ins Rennen schicken kann.
Die „Tucanos“, so nennt der Volksmund die Partei, stecken zurzeit nämlich in einer tiefen innerparteilichen Krise. Der frühere Präsidentschaftskandidat Aécio Neves ist nach nicht abklingen wollenden Korruptionsvorwürfen in der Partei isoliert, pocht aber weiterhin auf eine Führungsposition. Auch ein anderer Ex-Kandidat, Geraldo Alckmin würde kaum als Kandidat taugen. Er war 2006 gegen Lula angetreten und hatte das Kunststück fertiggebracht, in der Stichwahl weniger Stimmen zu gewinnen wie im ersten Wahlgang. Frischeres Material hat die PSDB zurzeit nicht zu bieten.